Einheit in Vielfalt: Mission impossible?
Evangelisches Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS), Dokumentationsbrief Indonesien 5/2005: Vielfalt in Einheit – Indonesiens Ethnien im Wandel, Indonesientagung des EMS, 14.-16. Oktober 2005 in Stuttgart
von Alex Flor
Alex Flor ist Mitgründer der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia! mit Sitz in Berlin. Der Ingenieur für Umwelttechnik arbeitet nach wie vor bei Watch Indonesia! und befasst sich hauptsächlich mit nationaler Politik und Demokratieentwicklung in Indonesien.
Der heutige Staat Indonesien umfasst die Gebiete Südostasiens, die früher unter niederländischer Kolonialherrschaft standen. Es handelt sich dabei um eine eher „zufällige“ Zusammenlegung von Gebieten, die über keine ethnischen, kulturellen, religiösen, sprachlichen oder gar nationalen Gemeinsamkeiten verfügten. Unter diesen Kriterien betrachtet wären Zusammenschlüsse von Sumatra mit West-Malaysia oder von Kalimantan mit Ost-Malaysia (Sabah und Sarawak) sicher näher liegender gewesen als ein Staatsgebilde, das nach Gemeinsamkeiten zwischen Aceh und Flores, zwischen Mentawai und Surabaya sucht.
Die „Nationale Bewegung“ Indonesiens geht auf die 20er Jahren des letzten Jahrhunderts zurück. Damals formierte sich zum ersten Mal eine regional übergreifende Freiheitsbewegung gegen die holländischen Unterdrücker. Die „nationalen“ Ziele wurden dieser Bewegung aufgepflanzt, um den Zusammenhalt zu stärken.
Ohne den Unabhängigkeitskampf und vor allem die großen Opfer, die dabei erbracht wurden, schmälern zu wollen, wage ich zu behaupten, dass der Erfolg dieses Kampf letztendlich wohl in engem Zusammenhang mit dem Ende des 2. Weltkrieges und der dadurch entstandenen völlig neuen Weltordnung gesehen werden muss. Eine Entwicklung, die Indonesien mit zahlreichen anderen ehemaligen Kolonien in Asien und Afrika gemeinsam hat. Viele der hier vorgetragenen Gedanken mögen daher in der ein oder anderen Form auch auf eine ganze Reihe anderer Staaten auf den beiden genannten Kontinenten in ähnlicher Form zutreffen. Diese Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und zu einer gemeinsamen politischen Kraft gegenüber den beiden Blockmächten zu formen, war übrigens ein Leitmotiv zur Einberufung der Asien-Afrika Konferenz in Bandung, die 1955 stattfand.
Die Entstehungsgeschichte dieser jungen unabhängigen Staaten ist völlig verschieden zu der über Jahrhunderte gewachsenen Genese der als „klassische Nationalstaaten“ angesehenen Staaten Mitteleuropas. In Südostasien erfüllen wohl bestenfalls Thailand, das frühere Königreich Siam, welches als einziges Land der Region vom Kolonialismus verschont blieb, und vielleicht mit einigen Einschränkungen das heutige Kambodscha als Nachfolgestaat des früheren Khmer-Reiches, in Ansätzen die Charakteristika, die diesen „Nationalstaaten“ zugeschrieben werden.
Insbesondere die Staaten Insel-Südostasiens mit ihrer extrem hohen Diversität von Ethnien und Kulturen erfüllten wohl kaum ein einziges der Kriterien, um sich innerhalb kürzester Zeit – in Indonesien lagen weniger als 10 Jahre zwischen Beginn des Pazifikkrieges bis zum endgültigen Abzug der Niederländer und der internationalen Anerkennung 1949 – zu einem Nationalstaat zu mausern. Einziges identitätsstiftendes Element Indonesiens in seiner Gesamtheit ist die ehemalige Kolonisierung durch die Niederlande. Es ist vielleicht psychologisch bedeutsam, dass dieser eine identitätsbestimmende Faktor keine eigene Errungenschaft, sondern Ergebnis von Jahrhunderte langer Fremdbestimmung war. Nicht einmal der Name „Indonesien“ ist aus der eigenen Kultur, Sprache oder Geschichte gewachsen. Es war ein Brite, der Ethnologe J. Logan, der diesen Begriff 1850 prägte.
Man war Opfer derselben Unterdrücker. Aber reicht das, um eine Nation so immenser geografischer Ausmaße wie Indonesien zu begründen? Selbst diese Gemeinsamkeit als Opfer des selben Kolonialsystems ist hinterfragbar, denn der Grad des Leidens unter den Holländern war in den verschiedenen Regionen recht unterschiedlich ausgeprägt – u.a. in Abhängigkeit von der jeweiligen Intensität der Machtausübung, der unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedeutung der Gebiete und nicht zuletzt der Frage, ob sich die traditionellen Führer gegen die Kolonisatoren auflehnten oder mit diesen kollaborierten. Die Kolonialgeschichte West-Javas ist eine andere als die der Molukken.
Aber worin liegt eigentlich die Bedeutung von nationaler Einheit und Identität? Besteht ein internationaler Druck dahingehend, dass nur Nationalstaaten als „richtige“ Staaten anerkannt werden? Oder gibt es möglicherweise einen Komplex seitens der unabhängig gewordenen Kolonien, der dazu führt, sich als Nationalstaat beweisen zu müssen? Den indonesischen Nationalismus von Sukarnos kämpferischen Slogans bis zu den andauernden Konflikten um Aceh und Papua alleine damit begründen zu wollen, griffe zu kurz. Denn es gibt durchaus ganz pragmatische Gründe, die ein gewisses Maß an innerer Einheit notwendig machen:
– zum einen die Frage der Regierbarkeit. Ohne ein Mindestmaß an gemeinsamen Werten, denen sich Beamte verpflichtet fühlen, ist das Funktionieren der staatlichen Verwaltung nicht zu gewährleisten. Der gemeinsamen Sprache kommt hier ein besonderer Stellenwert zu. Nur ein reiches Land wie die Schweiz mag sich den Luxus von drei Nationalsprachen leisten können. Indonesien wäre wohl zweifelsohne überfordert gewesen, alle ca. 250 im Archipel gesprochenen Sprachen gleichberechtigt zu National- und Verwaltungssprachen zu erheben. Ich komme darauf gleich noch einmal zurück.
– zu große Diversität macht den Staat verwundbar gegenüber Sezessionsbewegungen und Spaltungsversuchen seitens äußerer Mächte. Indonesien erlebte in den ersten Jahren der Republik gleich mehrere solcher Versuche. Nachdem es den Niederlanden nicht gelungen war, ihre Kolonie nach dem 2. Weltkrieg mit Waffengewalt zurück zu gewinnen, versuchten sie durch die Bildung der sog. Vereinigten Staaten von Indonesien (Republik Indonesia Serikat – RIS) mehrere nur locker miteinander verbundene Entitäten zu schaffen, die leicht untereinander auszuspielen gewesen wären. Der Versuch wurde in Indonesien als „Teile- und Herrsche-Politik“ gewertet, mit der Folge, dass der Begriff „Föderalismus“ bis heute als Unwort gilt.
In den 50er Jahren leisteten sich auf Sumatra und Sulawesi militante islamische Bewegungen bewaffnete Konflikte mit der Republik. Wie spätestens mit dem Abschuss eines US-Militärflugzeuges als bewiesen galt, wurden diese Konflikte von der CIA unterstützt, um den linkspopulistischen Anti-Imperialisten Sukarno zu schwächen.Sukarnos kämpferische anti-imperialistische Slogans hatten daher durchaus ihre realen Hintergründe. Die jungen Habenichtse mussten sich gegen die reichen Staaten der ersten Welt behaupten. Ein Kampf von David gegen Goliath, der nur durch einen hohen Grad an Motivation und Einigkeit zu bestehen war. Obgleich das Ausland seine Interessen heute mit ganz anderen Mitteln als damals wahrnimmt, erzeugt doch jede noch so kleine Äußerung eines Ausländers zu den inneren Problemen Indonesiens noch immer Misstrauen und sofortige Abwehrhaltung.
Wenn ich Slogans wie einig Vaterland „von Sabang bis Merauke“ höre, stellt sich bei mir als Deutscher unweigerlich die Assoziation mit „von der Maas bis an die Memel“ ein. Nichts wäre jedoch Verständigung und Dialog abträglicher als wenn ich meinen diesbezüglichen Empfindungen freien Lauf ließe. Und, leise zähneknirschend, versuche ich zu akzeptieren, welchen ideologischen Stellenwert die Herrschaft Indonesiens über Merauke – und damit ganz Papua hat.
Der Staatsgründer und erste Präsident Sukarno, der bis heute hohe Popularität genießt, suchte nach meiner Interpretation die Gegensätze zu überwinden, indem er (Formel-)Kompromisse suchte. Offenkundig war es damals noch kein Sakrileg, den Mangel an nationaler Identität festzustellen. Denn Sukarno sah seine wesentliche Aufgabe nach der Unabhängigkeit im „nation building“, also dem Aufbau einer Nation. Streng genommen fallen etliche Maßnahmen Sukarnos, die seiner Politik des „nation building“ zugeschrieben werden, eigentlich unter den Begriff „state building“. Als politologischer Laie wage ich nicht zu beurteilen, ob Sukarno selbst ungenügend zwischen „Staat“ und „Nation“ unterschied oder ob diese Begriffsverwirrung einigen seiner Biographen zuzuschreiben ist.
Wie Robert Cribb treffend bemerkte, begründete sich die Vereinigung der unterschiedlichen Regionen zu einer Nation nicht nur auf der Existenz eines gemeinsamen Gegners, sondern vor allem darauf, dass ein geeintes Indonesien Fortschritt und Entwicklung versprach. (Robert Cribb, ‘Nation: Making Indonesia’, in Donald K. Emmerson (ed.), Indonesia Beyond Suharto: Polity, Economy, Society, Transition. Armonk, New York: M.E. Sharpe, 1999, pp.3-38). Daraus lässt sich ableiten, dass die Einheit nicht ein anzustrebender Endzustand, sondern vielmehr der Weg zu höheren Zielen wie Fortschritt und Entwicklung sein sollte.
Erst später, spätestens nach der blutigen Machtergreifung Suhartos 1965, wurden der Aufbau und die Einheit der Nation (des Staates?) als abgeschlossen angesehen, und alle, die auf mangelnde Einheit des Staates (der Nation?) aufmerksam machten, galten seitdem als Feinde der Regierung, die mit Verfolgung rechnen mussten.
Freilich beschränkten sich die Kompromisse Sukarnos mitunter auf wohlklingende Worthülsen. Es mag der Versuch gewesen sein, dialektisch aus These und Antithese eine Synthese zu schmieden. Doch wenn sich Gegensätze nicht miteinander verbinden ließen, wurden sie unter neuen Begrifflichkeiten kurzerhand zu einer Einheit zusammengeschmiedet, die in Wirklichkeit keine war. Der vielleicht waghalsigste Versuch eine solche Einheit herzustellen, war der Begriff NASAKOM. Er stand für Nationalismus, Glaube (Agama) und Kommunismus, die drei seinerzeit dominanten gesellschafts- und parteipolitischen Strömungen. Über alle ideologischen Gegensätze hinweg, versuchte Sukarno diese drei Strömungen zu einem gemeinsamen Ganzen zu definieren. Ein politischer Balanceakt, der schließlich fatal scheitern sollte und in einem Blutbad endete. 1965 übernahm Suharto die Macht und Hunderttausende, wenn nicht Millionen, tatsächliche und vermeintliche Anhänger der Kommunistischen Partei (PKI) wurden ermordet.
Die Staatsphilosophie Pancasila
Bhinekka Tunggal Ika – Einheit in der Vielfalt, war sozusagen die Mutter all der genannten Kunstbegriffe und die Staatsphilosophie Pancasila ihre Durchführungsverordnung.
1945 ursprünglich von Präsident Sukarno formuliert, sollte die Pancasila (sanskrit: die fünf Säulen) als gemeinsame Vision die äußerst unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Indonesiens zusammenbinden. Unter Suharto ist sie später zu einem Instrument der Gleichschaltung geworden, dem alle gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen gesetzlich verpflichtet waren. Die Pancasila steht für die integralistische Staatsidee, nach der die indonesische Gesellschaft ein Kollektiv bildet, in dem das Individuum der Gemeinschaft untergeordnet ist. Gesellschaftliche Harmonie soll die politische Kultur Indonesiens bestimmen, wobei reale Interessenskonflikte geleugnet und dem „westlich-liberalen“ Individualismus zugerechnet werden.
Die fünf Säulen der Pancasila sind:
1. – der Glaube an einen allmächtigen Gott,
2. – Humanität,
3. – nationale Einheit,
4. – auf Konsens basierende Demokratie und
5. – soziale Gerechtigkeit.Da ich hier vor einem evangelischen Forum spreche, möchte ich mich exemplarisch auf die erste Säule – der Glaube an einen Gott – beschränken.
Sukarno hatte sich massiv dem Bestreben islamischer Kräfte widersetzt, die sog. Jakarta-Charter (Piagam Jakarta) in die Verfassung aufzunehmen, die den Islam für alle Muslime zur verbindlichen Rechtsgrundlage gemacht hätte. Sukarno wollte nach meiner Interpretation die Gleichberechtigung aller Religionen, ganz im Sinne von Bhinekka Tunggal Ika. Der Glaube an einen Gott sollte ein verbindendes Element sein. Indonesien sollte keine Staatsreligion haben, aber ausdrücklich auch kein säkularer Staat werden, wie es im Westen oft fälschlich ausgelegt wird.
Fünf vorhandene Religionen wurden gleichberechtigt anerkannt: Islam, protestantisches Christentum (Kristen), Katholizismus (Katolik), Buddhismus und Hinduismus. Animistische Religionen von Ureinwohnern und nicht oder nur in marginalem Umfang in Indonesien vorhandene Religionen wie Orthodoxes Christentum, Judaismus, Zeugen Jehovas u.v.a. wurden schlicht „vergessen“. Obgleich in der chinesisch-stämmigen Minderheit weit verbreitet, wurde auch der Konfuzianismus nicht als Religion anerkannt. Möglicherweise, weil man den Konfuzianismus eher als eine philosophische Überzeugung, statt einer Religion, interpretierte (ich weiß es nicht und bin für jeden Hinweis dankbar, AF). Auch zwischen den großen islamischen Strömungen des sunnitischen und schiitischen Glaubens wurde nicht unterschieden, obwohl diese – ich bin kein Theologe – nach meiner Auffassung mindestens so eigenständige Glaubensrichtungen sind wie evangelisches und katholisches Christentum. Aber Schiiten gab es in Indonesien nicht.
Sind die Bahai’i eine islamische Sekte oder eine eigenständige Religion? Unter Suharto waren sie verboten, jetzt werden sie still schweigend geduldet. Um die Ahmadiyah brennt gerade ein heftiger Streit mit tätlichen Übergriffen, Fatwas (religiösen Urteilen/Weisungen) usw., weil die Frage ungelöst ist, ob es sich um eine eigene Religion oder um eine islamische Sekte handelt, die gegen die konventionelle Interpretation des Islam verstößt, da sie einen nach Mohammed geborenen Propheten verehrt. Solche erst 60 Jahre später aufbrechenden Konflikte sind Anzeichen dafür, dass die erste Säule der Pancasila nur ein pragmatischer Formelkompromiss war, dessen religionstheoretischer Tiefgang eher zu Wünschen übrig ließ.
Unter Suharto erfuhr diese Säule der Pancasila eine weit reichende Neuinterpretation: der „Glaube an EINEN Gott“ wurde zur Verpflichtung eines jeden Staatsbürgers. Dies zielte insbesondere auf die chinesische Minderheit, die zu größeren Teilen Konfuzianisten waren, und die Kommunisten, die fälschlicherweise oft als „gottlose“ Atheisten dargestellt wurden. Die ursprünglich integralistische erste Säule der Pancasila wurde so zu einer Waffe umgeschmiedet, mit der bestimmte Gruppen von der Gesellschaft ausgeschlossen werden konnten. Neben Indonesiern chinesischer Abstammung und vermeintlichen PKI-Anhängern, hatten spätestens mit dieser Definition auch die indigenen Völker ein Problem am Hals, die bislang Animisten waren. Frau Kuhnt-Saptodewo hat in diesem Zusammenhang sehr interessante Studien gemacht, die beschreiben, wie und warum ein Dayak-Volk auf Kalimantan den Hinduismus annahm.
Bahasa Indonesia – ein Volk, eine Sprache
Ein sehr wichtiger Schritt zur Verwirklichung von Einheit in der Vielfalt und nation building auf säkularer Ebene war die Einführung von Bahasa Indonesia als Nationalsprache. Der Begriff „Bahasa Indonesia“ wurde auf dem 2. Jugendkongress von 1928 geprägt. Der Leitspruch war „Satu nusa, satu bangsa, satu bahasa!“ (Ein Land, ein Volk, eine Sprache!). Eine einzige Verkehrssprache, die in sämtlichen Schulen gelehrt wird, in der Gesetze und Verordnungen geschrieben werden, und die von nahezu sämtlichen Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) verwendet wird.
Die Hunderten von lokalen Sprachen sind deswegen weder verboten, noch in ihrer Existenz gefährdet. Fast überall im familiären Umfeld werden diese Lokalsprachen nach wie vor gesprochen, z.T. auch in den ersten Schuljahren verwendet. Und zumindest die großen Sprachen wie Javanisch, Sundaisch, Balinesisch, Minangkabau, Batak oder Acehnesisch – um hier nur einige zu nennen, spielen nach wie vor auch im kulturellen Leben eine tragende Rolle. Wayang-Vorführungen in Yogyakarta werden selbstverständlich auf Javanisch abgehalten, während ein Dalang auf Bali das Mahabharata Epos ebenso selbstverständlich auf Balinesisch inszeniert.Die Wahl von Bahasa Indonesia als Nationalsprache war ein Glücksgriff. Eigentlich dem Malaiischen entlehnt, wurde diese Sprache von praktisch keinem der indonesischen Völker als Muttersprache gesprochen, aber als weit verbreitete Verkehrs- und Handelssprache von sehr vielen verstanden. Die Einführung der größten einheimischen Sprache – Javanisch – hätte die ohnehin von vielen kleineren Völkern misstrauisch beäugte Dominanz der Javaner zu deutlich betont und die junge Republik damit vor eine Zerreisprobe gestellt. Und Niederländisch, die ebenfalls weit verbreitete Sprache der Kolonialherren, kam wohl aus ideologischen Gründen nicht in Betracht.
Die Einheit in der Vielfalt der Rechtssysteme
Der Vielfalt der Kulturen und Religionen sollte auch im Rechtssystem Rechnung getragen werden. Formal gilt in Indonesien neben dem staatlichen Recht auch religiöses und traditionelles (Adat-)Recht. Kleinere Streitigkeiten im Dorf müssen nicht vor einem Amtsgericht ausgetragen werden, sondern können nach lokalem Brauch von Adat-Führern gerichtet oder geschlichtet werden.
Die durch die Existenz der drei Rechtssysteme zum Ausdruck kommende Achtung vor Religion und Kultur führt freilich nicht immer zu mehr Gerechtigkeit. Bei Scheidungsangelegenheiten wird ein muslimischer Mann sehr wahrscheinlich das Religionsgericht anrufen, während die Frau sich ein bisschen bessere Chancen vor einem zivilen Gericht erhoffen könnte.Die größte Ungleichheit in der vorgeblichen Gleichwertigkeit ist jedoch das Manko der meisten traditionellen Rechtssysteme, dass sie nicht über kodifiziertes Recht, also geschriebene Gesetze und vor allem Urkunden u.dgl., verfügen. Bei der in Indonesien wohl häufigsten und elementarsten Form von Rechtsstreitigkeiten, dem Konflikt um Landrechte, sind traditionelle Gemeinschaften und insbesondere indigene Völker daher den Mühlen der staatlichen Justiz meist hilflos ausgesetzt.
Verordnete Einheit – das Ende der Vielfalt
Während Sukarno versuchte, Unterschiede zu überwinden und Gemeinsamkeiten herzustellen, sah das Suharto-Regime diese Entwicklung offenbar als abgeschlossen an. Nation building war kein Thema mehr. Suharto versuchte eher den Eindruck zu vermitteln, die indonesische Nation habe es schon immer gegeben. Gewagte historische Verweise begründeten die territoriale Ausdehnung Indonesiens nun mit der Ausdehnung des Majapahit-Reiches im 14. Jahrhundert oder im Falle von Papua mit der Ausdehnung des Sultanates von Tidore (s. Karten). Zunehmend wurde der Begriff der nationalen Einheit auf die territoriale Einheit reduziert, während an Stelle der Einheit des Volkes die Vereinheitlichung des Volkes trat.
Karte: Der Einflussbereich von Majapahit
Karte: Der Einflussbereich des Sultanates von Tidore
Wertet man Äußerungen von Politikern und Militärs in der indonesischen Presse aus, stellt sich der Eindruck ein, bei dem Konflikt um Aceh ginge es nur um die Beherrschung des Territoriums und der darauf zu findenden natürlichen Ressourcen. Auf das Schicksal der Menschen in Aceh, die ja insbesondere nach indonesischer Lesart indonesische Staatsbürger sind, wird nur selten verwiesen. Abertausende wurden zu Opfern von Repression und militärischen Auseinandersetzungen. Der Gedanke, wie man den Konflikt entschärfen könnte, indem man den Menschen in Aceh das Gefühl vermittelt, sie seien in ihrer Andersartigkeit gleichberechtigte Staatsbürger, kam nur den Wenigsten. Bhinekka Tunggal Ika wurde auf dem Feld erschossen.
Vereinheitlichung wurde unter Suharto systematisch in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vollzogen. Die Vielfalt der politischen Parteien wurde auf eine Einheitspartei und zwei zwangsvereinigte Blockflötenparteien (PDI als Zusammenschluss nationaler und christlicher Parteien, und PPP als Vereinigung der islamischen Parteien) „vereinfacht“, wie es so schön hieß. Es gab eine Einheitsgewerkschaft, einen Einheitsjournalistenverband usw. usf. – ein System, welches dem angeblich so verhassten real existierende Sozialismus in vieler Hinsicht nicht unähnlich war. Wer sich außerhalb dieser Einheitsorgane zu betätigen versuchte, geriet schnell unter Druck. Es drohten Gefängnis und deutlich Schlimmeres.
Chancengleichheit, gerechte ökonomische Verteilung usw. wurde als gegeben angesehen. Die strukturelle Benachteiligung bestimmter Gruppen, ja ganzer Völker, wollte Suharto nicht sehen. Kritische Stimmen gab es nur wenige. Nicht nur aus Angst. Denn ein Spezifikum marginalisierter Gruppen ist ja unter anderem, dass sie Schwierigkeiten haben, sich öffentlich zu artikulieren. Und die wenigen Privilegierten unter ihnen, die ausreichend Zugang zu Bildung hatten, werden von ihren eigenen Leuten nicht unbedingt als authentisch oder repräsentativ angesehen, da sie der Elite zu nahe stehen. Tatsächlich wurden einige von ihnen begierig von der Elite aufgesogen und dienten fortan als Alibifiguren. So wenig man von einer ostdeutschen Kanzlerin auf die Berufschancen für Jugendliche in den neuen Bundesländern schließen kann, so wenig konnte man von einem prominenten Nachrichtensprecher aus Papua auf die Bildungschancen in Wamena schließen.
Der inoffizielle Maßstab, an dem sich alle zu messen hatten, waren die Verhältnisse auf Java. Aber leider sind es die Bewohner Javas (Javaner, Sundanesen usw.), die sich dessen am wenigsten bewusst sind. Sie reagieren mit völligem Unverständnis, wenn ihnen Ignoranz oder diskriminierende Ansichten vorgeworfen werden, so wie ein unaufgeklärter Mann abstreiten wird, er bevormunde seine Ehefrau. Diese Unaufgeklärtheit macht einen Interessenausgleich nicht einfacher.
Umgekehrt sind natürlich auch die Bewohner der abgelegenen Regionen nicht immer Meister der differenzierenden Analyse. In Papua hegen viele indigene Einwohner Vorbehalte bis hin zu offenem Hass auf die „Javaner“, die sich dort breit machen. Dabei handelt es sich um Migranten, die teils im Rahmen von Regierungsprogrammen, teils auf eigene Faust nach Papua umgesiedelt sind. Nicht wenige dieser „Javaner“ stammen von den Molukken oder aus Sulawesi.
Ähnlich in Aceh: über diverse Listen im Internet erhalte ich von dort in einiger Regelmäßigkeit Pamphlete mit Hasstiraden auf die „Indonesisch/Javanischen Neokolonialisten“. Diese behandeln dann des öfteren einen aktuellen Zwischenfall, an dem ein Militärkommandant beteiligt war, dessen Name ihn eindeutig als Batak ausweist.Festzuhalten bleibt, dass unter Suharto der innere Zusammenhalt Indonesiens nicht gestärkt, sondern geschwächt wurde. Zahlreiche Konflikte wurden gesät, die aber erst später, nach Überwindung des repressiven Systems zum Ausbruch kommen sollten.
Mit seinem Verzicht auf die Fortsetzung des nation building versäumte es Suharto neue identitätsschaffende Werte zu schaffen. Eine Zeit lang gelang es ihm durch eine scheinbar erfolgreiche Wirtschafts- und Entwicklungspolitik diesen Mangel zu übertünchen. Aber spätestens nachdem „sein“ Wirtschaftswunder 1997/1998 wie eine leere Seifenblase zerplatzte, sieht sich Indonesien einer Identitätskrise ausgesetzt. „Auf was sollen wir als Indonesier stolz sein?“, lautet die unausgesprochene Frage.
Auf der Suche nach der verlorenen Einheit – die Ära nach Suharto
Bestimmte dubiose Gestalten wussten das Machtvakuum und die allgemeine Orientierungslosigkeit nach Suhartos Rücktritt schnell für ihre Zwecke zu nutzen. Sie boten neue Identifikationsmuster an, die z.T. auf ethnischen, z.T. auf religiösen und anderen Zugehörigkeiten basierten. Sie alle funktionierten nach dem einfachen Prinzip der Ausgrenzung: wir gegen die anderen. Diese destruktive Identitätsfindung dürfte eine wesentliche Ursache der blutigen Auseinadersetzungen auf den Molukken (Christen gegen Muslime), in Zentralsulawesi (dito) und in West-Kalimantan (Dayak gegen Maduresen) gewesen sein. Sie spielten eine Rolle bei den anti-chinesischen Pogromen in Jakarta und Solo 1998, ebenso wie sie ihren Beitrag zum Erstarken radikaler religiös orientierter Gruppen (nicht nur Muslime!) und krimineller Banden (preman) leisteten. Nicht zuletzt spielten und spielen sie eine Rolle in den Separationskonflikten um Aceh und West-Papua. (Auf die besonderen Umstände des Konfliktes in Osttimor möchte ich hier bewusst nicht eingehen, da dies den Rahmen sprengen würde).
Der drohende Verlust von Teilen des Staatsgebietes beschleunigte die Dynamik und der nahe liegende Verweis von politischen Beobachtern auf vergleichbare Entwicklungen nach dem Zerfall Jugoslawiens – Droht Indonesien die Balkanisierung? (mea culpa! Auch ich habe so getitelt) – taten ihr übriges. Die Nationalisten reagierten mit Durchhalteparolen und erlagen der Versuchung die Konflikte mit harter Hand lösen zu wollen, was den Unabhängigkeitsbestrebungen natürlich nur neuen Auftrieb gab. Ein schwer zu durchbrechender Teufelskreis.
Eine im Januar veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich nur 39% der Bevölkerung in erster Linie als Indonesier identifizieren. 49% identifizieren sich in erster Linie mit ihrer lokalen, ethnischen oder religiösen Gemeinschaft. (s. Tabelle)
No. Type of identity 1st priority 1st + 2nd priority 1st priority in Aceh and Papua 1. As Indonesian citizens 39% 24% 19% 2. As citizens of province/district 15% 23% 18% 3. As part of local community/ desa 11% 11% 14% 4. As part of ethnic community 20% 20% 40% 5. As part of religious community 12% 18% 10% from: DEMOS, Executive report, January 20, 2005, TOWARDS AN AGENDA FOR MEANINGFUL HUMAN RIGHTS-BASED DEMOCRACY
Die Identifikation mit anderen Ethnien und deren Problemen fällt schwer, wenn man sie nicht kennt. Es wird oft als Ignoranz gewertet, dass viele Menschen auf Java nicht stärker um die Nöte ihrer Landsleute in anderen Teilen des Archipels besorgt sind. Es erscheint unfassbar, dass der anzügliche Tanzstil des javanischen Dangdut Stars Inul eher die Gemüter erregte als der gleichzeitige Kriegszustand in Aceh oder dass Jakarta mindestens drei Tage braucht, um endlich zu begreifen, dass der Tsunami vom 26.12.2004 mehr war als nur eine weitere lokale Naturkatastrophe.
Was die gesellschaftliche und politische Elite anbelangt, ist diese Kritik aus meiner Sicht berechtigt. Angehörige dieser Schicht sind äußerst mobil und man sollte erwarten dürfen, dass sie zu den Gegenden, die sie bereisen, ein bestimmtes Verhältnis aufbauen konnten. Für die große Masse der Menschen ist jedoch jeder andere Teil Indonesiens soweit weg wie Europa oder Afrika. Für einen Bauern auf Sumatra war der Krieg auf den Molukken nicht näher als der im Irak. Und nach bestimmten Regionen befragt, kommt schnell Unsicherheit auf, ob diese zu Indonesien gehören oder nicht. „Wieso braucht man nach Singapur einen Pass? Das ist doch noch Indonesien“, „Ja, ob Ternate zu Indonesien gehört oder zu den Philippinen …, wenn du mich so fragst …, ich bin mir nicht sicher“, „Makassar, das ist in Malaysia. Da verdienen die Leute gut.“ Alles Zitate, die ich selbst gehört habe.
Mission impossible?
Ein Mehr an Bildung, ein Mehr an finanziellem Spielraum für die Mehrheit der Bevölkerung, ein Mehr an Dialog und Austausch mit Landsleuten wie mit Ausländern und viele Mehrs mehr sind sicher dringende Notwendigkeiten für eine bessere Zukunft Indonesiens. Mission impossible? I don’t think so. Die schiere Fülle der Probleme und die gewaltigen Dimensionen des Landes sind – vorsichtig ausgedrückt – große Herausforderungen. Es gilt jedoch die positiven Aspekte zu erkennen und zu nutzen. Die trotz allem Gesagten enorme Unvoreingenommenheit und Wissbegier, die beneidenswerte Gabe, fremde und neue Einflüsse in altbewährte Traditionen einfließen zu lassen und viele andere positive Eigenschaften der Menschen in Indonesien sind ein nicht zu unterschätzendes Potenzial, das es nach Kräften zu fördern gilt.
Einfache Lösungen liegen sicher nicht auf der Hand. Die Suche danach war auch nicht Anliegen dieses Vortrages. Denn bevor man nach Lösungen sucht, bedarf es einer eingehenden Problemanalyse. Vielleicht konnte ich hierzu einen kleinen Beitrag leisten. <>
(Die komplette Tagungsbroschüre finden Sie hier, PDF, 838 KB)