Kleiner Bruder verliert, großer Bruder gewinnt
Information und Analyse, 20. April 2012
Präsidentschaftswahlen in Osttimor
von Henri Myrttinen
Am 17. März und am 16. April 2012 waren rund 600.000 OsttimoresInnen zum dritten Mal aufgerufen einen Präsidenten zu wählen. Bei der friedlich verlaufenen ersten Runde setzten sich Francisco ›Lú-Olo‹ Guterres als Kandidat der Fretilin und der ehemalige Armeechef Taur Matan Ruak durch. In der entscheidenden zweiten Runde gewann Taur Matan Ruak mit rund 61% Prozent. Der derzeitige Amtsinhaber José Ramos-Horta gestand seine Wahlniederlage bereits nach der ersten Runde ein.
Entgegen einiger Befürchtungen verlief der Wahlkampf größtenteils friedlich. Neben kleineren Vorfällen in Baucau, Dili, und Uatolari kurz vor der Stichwahl, ereignete sich der schwerste Vorfall zu Beginn des Wahlkampfes, als Unbekannte nachts das Büro der zentralen Wahlbehörde mit einem Molotow-Cocktail bewarfen. Der Angriff verleitete Polizeikommandeur Monteiro zu der martialischen Warnung, dass seine Truppe jeden, der die Wahlen störe, auf der Stelle erschießen würde. Eine ähnliche Warnung kam später auch vom Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Generalmajor Lere Anan Timor, was im In- und Ausland zu Diskussionen über das Demokratieverständnis der Sicherheitskräfte führte.
Angetreten waren ursprünglich zwei Kandidatinnen und elf Kandidaten, von denen jedoch einer der Prominentesten noch während des Wahlkampfes verstarb: Francisco Xavier do Amaral. Er war der erste Präsident des Landes und damit auch Verkünder der kurzlebigen ersten Unabhängigkeit am 28. November 1975. Er war trotz seiner schweren Erkrankung noch von seiner ASDT-Partei als Kandidat aufgestellt worden.
Des Weiteren traten an: der ehemalige Innenminister Rogério Lobato, der derzeitige Parlamentspräsident, Fernando ›Lasama‹ de Araújo, der derzeitige Vize-Premier, José Luís Guterres, die ehemalige Freundin des 2008 erschossenen Alfredo Reinado, Angelita Pires, der Anführer der KOTA-Partei, Manuel Tilman, der ehemalige pro-Autonomieführer Abílio Araújo, der Rektor der UNPAZ Universität, Lucas da Costa, die Mitbegründerin der Solidaritätsgruppe Timor Aid, María do Ceu sowie Francisco Gomes von der kleinen PLPA-Partei.
Die Kandidatur einer weiteren Kandidatin, Angela Freitas von der Partido Trabalhista, wurde vom Obersten Gericht wegen fehlender Unterschriften abgelehnt. Trotz ihrer krassen Außenseiterposition und der abgelehnten Kandidatur, wirbelte Freitas im Wahlkampf mehrmals Staub auf. Gleich zum Auftakt brach sie ein Tabu, indem sie sowohl Taur Matan Ruak wie auch Lobato als für das Präsidentenamt ungeeignet bezeichnete, da beide laut UN-Untersuchungsbericht über die Krise 2006 für die illegale Bewaffnung von Zivilisten verantwortlich waren. Für weitere Aufregung sorgte auch ein Einbruch in ihr Wahlkampfbüro, bei dem Geld und Dokumente entwendet wurden, als sie noch vor dem Obersten Gerichtshof um ihre Kandidatur kämpfte. Freitas bezeichnete den Einbruch als politisch motiviert.
Obwohl es während des Wahlkampfes zu keinen gewalttätigen Zwischenfällen zwischen AnhängerInnen verschiedener KandidatInnen kam, ging es im verbalen Schlagabtausch nicht immer zimperlich zu.
Vor allem der von Xanana Gusmão und seiner CNRT unterstützte Taur Matan Ruak ging den Wahlkampf sehr offensiv an. Häufiges Ziel seiner Attacken war die Fretilin und deren Kandidat Lu Olo. Mit Hinweis auf seinen höheren Dienstgrad in der Falintil deutete Taur Matan Ruak letzterem an, dieser habe als ›kleiner Bruder‹ seinem ehemaligen Kommandeur den Vortritt zu lassen. Im Gegenzug protestierten Taur Matan Ruaks Gegenkandidaten, dass aktive Soldaten für ihren ehemaligen Kommandeur Wahlkampf machten. Neben Lu Olo und Taur Matan Ruak versuchte auch Lobato zusätzliche Legitimität aus der Vergangenheit zu ziehen, in dem er das Gedenken an seinen 1978 gefallenen Bruder, den Widerstandshelden Nicolau Lobato, im Wahlkampf bemühte. Es war jedoch nicht nur Taur Matan Ruak der seine Sichtweise der politischen Rangordnung mit den Rollen während des Widerstands begründete. Auch Ramos-Horta erklärte explizit die alten Kämpen Lu Olo und Taur Matan Ruak als, neben ihm, ebenfalls wählbar, wohingegen Lasama noch »zu jung und unerfahren« sei.
In der zweiten Runde hat sich der ›große Bruder‹ Taur Matan Ruak nun gegen den ›kleinen Bruder‹ Lu Olo durchgesetzt. Während Lu Olo und Fretilin in der ersten Runde mit 28% der Stimmen fast exakt das gleiche Resultat wie in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2007 bekamen, konnten sie in der zweiten Runde gute zehn Prozent dazugewinnen. Geographisch gesehen konnte sich der Fretilin-Kandidat vor allem in den Stammgebieten der Partei in den östlichen Distrikten durchsetzen. In allen westlichen Distrikten war Taur Matan Ruak der Gewinner. Bei Redaktionsschluss war es noch nicht klar, aus welchen politischen Lagern die Zugewinne beider Kandidaten kamen. Während Rogerio Lobato, Manuel Tilman und Angelina Freitas ihren UnterstützerInnen empfohlen hatten Lu Olo zu wählen, hielten sich andere bedeckter, unter ihnen Parlamentspräsident Lasama und der Amtsinhaber Ramos-Horta.
Letzterer gibt sich betont staatsmännisch und erklärte, keine Wahlempfehlung für die zweite Runde aussprechen zu wollen, stichelte jedoch gegen den von Xanana unterstützten Taur Matan Ruak. Ramos-Horta kritisierte mehrfach, dass sich Armeeangehörige im Wahlkampf für ihren ehemaligen Chef eingesetzt hatten und tat kund, dass er, ohne Namen zu nennen, einen ex-Militär nicht gerne als Präsidenten sehen möchte. Es wird auch gemunkelt, dass Ramos-Horta sich bei den Parlamentswahlen für die Partidu Demokratiku (PD) einsetzen – und mit ihr gegen Xanana und seine CNRT Wahlkampf machen wird, als Retourkutsche dafür dass diese ihm in der ersten Runde die Unterstützung verweigert hatten.
Obwohl die verfassungsrechtliche Position des Präsidenten eher schwach ist, will Taur Matan Ruak ein starker Präsident sein und die bisher eher zeremonielle Rolle ausbauen. Nach dem kosmopolitischen Ramos-Horta wird er laut eigenen Erklärungen viel mehr die Innenpolitik betonen. Er propagiert unter anderem die Einführung der Wehrpflicht als Mittel gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Die Wehrpflicht wurde zwar offiziell bereits 2007 eingeführt, aber bislang nicht in die Tat umgesetzt, da das kleine Militär nur schwerlich Tausende Rekruten hätte integrieren und ausbilden können. Auch die Idee, dass man potentielle zukünftige Gang-Mitglieder von der Straße holt, sie an Schnellfeuerwaffen und Handgranaten ausbildet und dann zurück in die Arbeitslosigkeit schickt, hatte zu Bedenken geführt.
Die Wahlergebnisse zeigen, dass das politische Leben Osttimors dem langen Schatten des Unabhängigkeitskampfes noch nicht entwachsen ist. Noch immer wird politische Legitimität über die jeweilige Rolle im Widerstand definiert, was einen Generationswechsel in der Führung des Landes massiv behindert. Auch der »ewig zu junge« Lasama ist inzwischen mehr als dreimal so alt wie die oder der DurchschnittsosttimoresIn. Im Wahlkampf spielten aber auch neuere politische Hypotheken eine Rolle. Die Diskussion über die Rolle Taur Matan Ruaks und Rogério Lobatos in der Krise 2006, welche Freitas anstoßen wollte fand zwar nicht statt. Aber auch wenn das Thema »Krise« nicht öffentlich diskutiert wurde, schwang die Erinnerung an die Krisenjahre mit, zum Beispiel bei dem immer wieder vorgetragenen Mantra dass sich alle Parteien, die Polizei und die Streitkräfte für die Einheit der Nation und für den Frieden einsetzen sollten. Auch wenn die politische Stimmung diesmal bei weitem nicht so von einer Anti-Haltung gegen Fretilin geprägt war wie 2007, bleibt es bei einer geographischen Spaltung der Parteistimmen. Und letztlich kamen die Zwischenfälle kurz vor den Wahlen wie ein Echo der Ereignisse von vor fünf Jahren: sie ereigneten sich genau wie damals in den Orten Baucau, Dili und Uatolari.
Liste der verwendeten Abkürzungen:
ASDT – Associação Social-Democrata de Timor. Konservative, 2001 gegründete Partei, maßgeblich von Francisco Xavier do Amaral geprägt. Teil der regierenden AMP-Koalition
CNRT – Congresso Nacional da Reconstrução Timorense. Von Xanana Gusmão im Jahre 2007 gegründete Partei. Dominante Kraft in der Regierung. Mitte rechts.
Falintil: bewaffneter Arm des Widerstands, gegründet 1975 und aufgelöst 2001. Letzter Oberkommandierender war Taur Matan Ruak, der nach der Auflösung das Kommando der neuen nationalen Streitkräfte übernahm
Fretilin – Frente Revolucionaria do Timor-Leste Independente. Im Jahre 1974 gegründete Partei. Spielte die führende Rolle im Widerstand. Zwischen 2002-2007 Regierungspartei, seit 2007 Hauptoppositionspartei. Mitte links
KOTA – Klibur Oan Timor Asuwain. Kleine, 1974 gegründete, stark traditionsorientierte konservative Partei, mit teilweise monarchistischen Ansätzen PD – Partidu Demokratiku. Eine im Jahre 2001 gegründete Mitterechtspartei, wird im Ausland oft als die Partei der urbanen Mittelschicht angesehen, wobei ihre Hochburgen eher im ländlichen Westen liegen.
PLPA – Partidu Liberta Povu Aileba. Kleine, 2009 von der ASDT abgespaltene Partei, Mitte links
PT – Partido Trabalhista Timorense. Kleine, 1974 gegründete sozialdemokratische bis sozialistische Partei.