Ziviler Ungehorsam als Lebensprinzip

Südostasien, 4/2014

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von Anett Keller

Die Exil-lndonesier Reni lsa und Pipit Rochijat Kartawidjaja haben mit Dogmen gleich welcher ideologischen Herkunft nichts am Hut. Vor mehr als 20 Jahren gründeten sie die Menschenrechtsorganisation Watch lndonesia!

Südostasien-Logo50 Jahre ist es her, dass Reni lsa nach Europa umzog. Unfreiwillig. Als Reni 10 Jahre alt war, folgte die Familie dem Vater nach Prag, wo Mohamad Isa 1964 sein Amt als Kulturattaché der Republik lndonesien antrat. Für Reni sollte es nicht der letzte unfreiwillige Umzug werden.

In Indonesien wurde in dieser Zeit die NASAKOM-Koalition von Präsident Sukarno, bestehend aus Nationalisten, Religiösen und Kommunisten, immer brüchiger. Der Westen blickte zunehmend nervös auf den antiimperialistischen Kurs Sukarnos und dessen Annäherung an China. 1965 scheiterte ein Putschversuch linker Militärs und bot Generalmajor Suharto Gelegenheit, mit Unterstützung Washingtons und seiner westlichen Verbündeten die Macht an sich zu reißen. Suhartos Machtantritt wurde von einem Massenmord begleitet, dem rund eine Million Menschen zum Opfer fielen. Weitere Hunderttausende wurden inhaftiert. Nicht nur Kommunisten wurden zur Zielscheibe, sondern auch Sukarno nahe stehende Politiker, Diplomaten, Journalisten,  Lehrer, Künstler und Studenten.

Unfreiwillige Umzüge

So fiel auch Renis Vater Mohamad Isa in Ungnade. Er teilte das Schicksal zahlreicher Landsleute, die sich als Studenten oder als Diplomaten im sozialistischen Ausland befanden und die wegen der Ereignisse von 1965 nicht nach lndonesien zurückkehren konnten. Zwar war er kein Kommunist, aber er bekannte sich auch nicht klar zu Suharto. Das fanden zumindest die Prager Vertreter von Suhartos »Neuer Ordnung«, die Isa und seine Familie zunächst mit Überprüfungen und »Besuchen« schikanierten und ihren Vater schließlich aufforderten, die Pässe aller Familienmitglieder zurückzugeben. Angeblich, um die Diplomatenpässe gegen normale Pässe umzutauschen. Doch daran glaubte der Vater nicht. Er beschloss 1967 den nächsten Umzug: nach Ostberlin. Dort gab es keine indonesische Botschaft, die DDR wurde bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten 1972 von der Prager Botschaft »verwaltet«. Reni blieb noch bis 1968 in Prag, um die Schule zu beenden. Dann folgte sie der Familie nach Ostberlin. Widerwillig. »Am liebsten wäre ich wieder zurück nach lndonesien gegangen«, sagt sie rückblickend. »Oder wenigstens in Prag geblieben, wo ich mich inzwischen eingelebt hatte.« ln Ostberlin kannte sie nichts und niemanden und die Sprache verstand sie auch nicht. »Meine Lehrer gaben sich alle Mühe, sie sprachen Englisch mit mir. Sie versuchten es auf Französisch, das ich selbst kaum verstand. Auch meine Mitschülerinnen bemühten sich. Doch so richtig warm wurde Reni nicht mit der neuen Heimat. Nur eine richtig gute Freundin habe sie gefunden während des Abiturs –  »aber diese Freundschaft hält bis heute«. Reni beginnt, an der Humboldt-Universität Anglistik/Amerikanistik und Germanistik zu studieren –  und fühlt sich wieder allein. Sie ist die einzige Ausländerin unter den 70 Kommilitonen – und noch dazu aus dem nichtsozialistischen Ausland. Zu viel Kontakt mit ihr machte in den Augen der DDR-Obrigkeit verdächtig.

Auch das DDR-Regime fordert Beweise der Linientreue von Familie Isa. Bevor Reni die Zulassung zur Dissertation in Linguistik erhält, wird ihr nahe gelegt, in den pro-sowjetischen Studentenverband OPI einzutreten.»Immer wieder kamen sie mit ihren Samowaren und russischen Puppen« erinnert sich Reni an die Werbeversuche ihrer Landsleute, die die Moskauer Kaderschmieden durchlaufen hatten. Reni weigert sich. Sie promoviert schließlich dennoch.

Wir sehr Menschen sich ändern können

Sich den Ansprüchen eines autoritären Systems an die Integrität des Einzelnen zu verweigern, zeichnet auch Renis Mann aus. Pipit Rochijat Kartawidjaja wuchs als privilegierter Sohn des Direktors einer Zuckerfabrik auf. Zunächst begrüßt er als religiöser Muslim und Anti-Kommunist die Menschenjagd in seiner Heimat, zählt einige der Mörder zu seinen Freunden. Er befürwortet das US-gestützte Regime im eigenen Land und den Krieg der Amerikaner in Vietnam. 1972 kommt Pipit nach Westberlin, um Elektrotechnik zu studieren.  Er habe der Strenge seines Elternhauses entfliehen wollen, sagt Pipit zur Begründung und ahmt nach, wie ihn seine Eltern immer bei Tisch an die guten Sitten erinnerten. In Westberlin beeinflusst ihn die Studentenbewegung der 1970er Jahre, fasziniert ihn deren Streitkultur.

»Unter meinen Freunden waren liberale, Marxisten, Katholiken, die hatten verschiedene Ideologien aber sie diskutierten miteinander!« Von seinen deutschen Freunden habe er viel gelernt, sagt Pipit rückblickend. »Mich stempelten sie wegen meiner Haltung nicht einfach als Reaktionären ab, sie fragten mich aber nach einer Begründung. Die konnte ich nicht liefern.« Mitte der 1970er Jahre fängt Pipit an, mit Amnesty International zusammen zu arbeiten.Er versucht, Daten zu den Menschenrechtsverletzungen von 1965 und den Folgejahren, zu sammeln. Mit den indonesischen Kommunisten, von denen etwa 50 im Exil in Westberlin leben, wird er dennoch nicht warm. »Ich war oft bei ihren Treffen dabei, aber sie waren mir viel zu dogmatisch, diese alten Parteisoldaten.« Zugleich wächst Pipits Distanz zum System Suharto. Er veröffentlicht kritische Artikel im Journal Gotong Royong der indonesischen Studentenvereinigung PPI, dessen Redaktionsleitung er 1977 übernimmt. Pipit interessiert sich zunehmend stärker für politische Theorien als für Elektrotechnik. Er bricht nach dem Vordiplom sein Studium ab, hält sich als Kellner über Wasser, organisiert die Studenten und publiziert kritische Texte. Etwa 1.000 lndonesier studierten zu jener Zeit in Westberlin. Der Einfluss der Stadt, Zufluchtspunkt zahlreicher Linker aus Westdeutschland und Geburtsort vieler sozialer Bewegungen, wird von der indonesischen Botschaft kritisch beäugt. Westberlin gilt neben Amsterdam als Ort, wo die indonesischen Studenten am »subversivsten« sind. Zugleich verfolgt das Suharto-Regime in lndonesien kritische Studenten mit zunehmender Härte. Es kommt zu gewalttätigen Übergriffen der Sicherheitskräfte und Festnahmen. 1978 beschließt die Beratende Volksversammlung in Jakarta die Einführung von »Verfassungs-Treue«-Kursen für Studenten, die sie absolvieren müssen, bevor sie einen Studienabschluss machen.

Im gleichen Jahr kreuzen sich die Lebenswege von Pipit und Reni bei mehreren studentischen Treffen in Westberlin. Zunächst besuchen sie sich abwechselnd. 1983 heiraten sie. Zwei Jahre zuvor war Reni mit ihrer Familie nach Westberlin gezogen. Auch diesmal unfreiwillig. Die Humboldt-Universität in Ostberlin hatte die Arbeitsgenehmigung des Vaters nicht verlängert. Seinen Platz als Sprachlehrer nahm ein lndonesier ein, der gerade die Parteischule in Moskau absolviert hatte. Mit der Arbeitsgenehmigung endet auch die Aufenthaltsgenehmigung der Familie in der DDR. Der Vater hofft auf Asyl in den Niederlanden. Doch als die Familie dort landet, wird sie sofort verhaftet. Nach drei Monaten in Abschiebehaft werden sie wieder ins Flugzeug gesetzt. Ziel: Ostberlin.Von dort aus ziehen sie – nach weiteren Polizeiverhören und Schikanen – schließlich in den Westteil der Stadt weiter. Pipits Artikel und sein kritisches Auftreten bei öffentlichen Veranstaltungen erregen zunehmend das Missfallen der indonesischen Regierung. Sein Pass wird ab 1982 anstatt der üblichen zwei Jahre fortan alle sechs Monate verlängert. In einem Brief teilt das Berliner Konsulat ihm mit, dass es für nötig erachte, seine Aktivitäten zu beobachten, weil es diese als »schädlich für lndonesiens nationale Interessen« ansieht. Die kürzeren Bewilligungsperioden solle ihm eine »Warnung« für zukünftige Aktivitäten sein. Pipit macht seinen Fall öffentlich, sucht Unterstützung bei der indonesischen Rechtshilfe-Organisation LBH. Auch die Menschenrechtsorganisation Tapol (=Abkürzung für politischer Gefangener) mit Sitz in Großbritannien, kritisiert öffentlich das Vorgehen der indonesischen Behörden. 1984 publiziert Pipit in Gotong Royong den Artikel »Saya P.K.I. atau bukan PKI« (Bin ich Kommunist oder kein Kommunist). Der Artikel ist nicht nur ein schockierender, mit Details nicht geizender Augenzeugenbericht der Geschehnisse von 1965 aus Sicht des antikommunistischen Jugendlichen Pipit. Er ist auch eine kritische Abrechnung mit der Repression der Neuen Ordnung gegen alle Andersdenkenden und ihrer Einschüchterung der Menschen à la »Gegen uns sein = Kommunist sein«. Ein Artikel, der –  so lautete hernach die Feststellung des renommierten Indonesisten Benedict Anderson – zeige, »wie sehr Menschen sich ändern können.«

Pipits Auftreten bei einer Talkshow im WDR bringt für die indonesischen Behörden das Fass im Oktober 1986 zum Überlaufen. Das Thema ist die politische Situation in lndonesien und neben Pipit ist der Presseattaché der indonesischen Botschaft in Bonn als Gesprächspartner geladen. Pipit kritisiert vor laufender Kamera nicht nur Suhartos Diktatur, er erzählt auch davon, wie ihn zwei Tage vor der Sendung der indonesische Konsul zum Essen einlud, um ihn »auf Linie« zu bringen.1987 wird sein Pass nicht verlängert, er erhält lediglich ein Dokument,  mit dem er nach lndonesien ausreisen kann.

Watch lndonesia!

Pipit will zwar zunächst in Deutschland bleiben, aber indonesischer Staatsbürger bleiben. Reni, die gern in lndonesien geblieben wäre, aber nicht durfte, erhält 1987 die deutsche Staatsbürgerschaft. Zwei Lebenswege,  die der Kalte Krieg zeichnet. Dessen Ende 1989 verändert die Situation des Ehepaars erneut. Reni kehrt an die Humboldt-Universität in den Ostteil der Stadt zurück und unterrichtet dort ­ bis heute – Indonesisch. Pipit beginnt 1991 für die Landesregierung Brandenburgs in Potsdam als Sachbearbeiter zu arbeiten. Gleich bleibt die geräumige Altbauwohnung im Stadtteil Schöneberg, in der die beiden bis heute wohnen.

Dort trifft sich ab 1991 ein Grüppchen aus lndonesiern und Deutschen, die schockiert sind vom Massaker indonesischer Militärs an der Zivilbevölkerung in Santa Cruz, im damals von lndonesien annektierten Osttimor. Gemeinsam gründen sie die Menschenrechtsorganisation Watch lndonesia! (https://www.watchindonesia.de/). Sie informieren über die Menschenrechtslage, vernetzen sich mit Aktivisten in lndonesien, sie kritisieren die repressive Regierungspolitik Jakartas und machen Stimmen der indonesischen Zivilgesellschaft in Deutschland hörbar. »Bis 1998 ging es darum, Suharto zu bekämpfen«, sagt Reni rückblickend. »Heute versuchen wir, einen Beitrag zur Demokratisierung zu leisten.«

Das Ehepaar leistet diesen Beitrag auf vielen Ebenen. Reni hat vielen Studentinnen die intensive Kenntnis der indonesischen Sprache vermittelt, Grundvoraussetzung für einen fortgesetzten Kultur­ und Meinungsaustausch. Ihr 2007 bei regiospectra erschienenes Sprachbuch zählt nach Verlagsangaben zu den meistverkauften Büchern.

Pipit, der im Juni 1998 –  einen Monat nach Suhartos Rücktritt –  wieder einen Pass von der Botschaft bekam, hat seitdem viele Reisen in sein Heimatland unternommen. Er wurde zum unermüdlichen Autor und Berater in Sachen Wahlreformen und brachte seine Kenntnisse des deutschen Verwaltungswesens als Berater für die GTZ (heute: GIZ) in lndonesien ein. Zahlreiche Publikationen sind zum Thema Wahlen und Verwaltungsreform von ihm in lndonesien erschienen. Spricht Pipit über das indonesische Verwaltungswesen fällt es ihm schwer, gelassen zu bleiben. »Es gibt keine Verwaltung dort, es gibt nur Regierungsbeamte«, sagt Pipit mit Blick auf das Beharrungsvermögen des von Suharto aufgebauten Staatsapparates. Auf unterhaltsame Weise schildert Pipit die Erfahrungen seiner Beratungstätigkeit und wie er immer wieder Zeuge davon wurde, wie sich deutsche und indonesische Delegationen zum Thema Verwaltung missverstanden: »Die Deutschen sprachen vom Staat und die lndonesier verstanden Regierung.« Die Regierung ist nicht der Staat (Pemerintah bukanlah negara) hieß folgerichtig eines seiner Bücher, das in lndonesien gerade in der vierten Auflage erschienen ist. 2009 zog sich die GTZ aus der Beratungstätigkeit in Sachen Verwaltungsreform zurück. Die Enttäuschung über die in seinen Augen gescheiterte Demokratisierung des indonesischen Staatsapparates ist Pipit deutlich anzumerken.

Das Beharrungsvermögen der alten Kräfte ist stark. Die Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit komme kaum voran, weil noch immer zu viele Vertreter von Suhartos »Neuer Ordnung« in wichtigen Positionen seien, beklagt Pipit. Der Kalte Krieg und das damit verbundene »Für uns oder gegen uns!«­Denken hält sich, so scheint es, hartnäckig in den Köpfen. Es erlebe, so Pipit, durch die lslamisierung in seinem Land sogar eine neue Konjunktur. »Anstatt, dass über soziale Ungerechtigkeit, Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit gesprochen wird, diskutieren die Menschen über Gläubige vs. Ungläubige, über die richtige vs. die falsche Religion etc.«,  kritisiert Pipit.

Gerade ist Pipit in Rente gegangen. Er hätte nun noch mehr Zeit, um das zu tun, was er liebt und kann: Menschen zum Nachdenken zu bringen. Den Demokratisierungsprozess kritisch zu begleiten. Wird er wieder länger in lndonesien sein? Pipit schüttelt den Kopf. Länger als einen Monat halte er es dort nicht mehr aus, sagt er. ln Jakarta, wo er früher drei Vorträge am Tag hätte halten können, schaffe er heute wegen der vielen Verkehrsstaus nur noch einen. Die Instrumentalisierung eines Islam arabischer Couleur für politische Zwecke fände er zudem unerträglich. Und außerdem nerve es ihn, dass bei Diskussionen mit Freunden und Bekannten in Indonesien heute alle mehr mit den vor ihnen liegenden Handys beschäftigt seien als im Gespräch mit ihrem leibhaftigen Gegenüber.
 

Die Autorin ist freie Journalistin. Für die SOAI gibt sie das politische Lesebuch »lndonesien 1965ff.« heraus, das sich mit der Aufarbeitung der blutigen Kommunistenverfolgung in lndonesien ab Mitte der 1960er Jahre beschäftigt.


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