Der Schleier ist gefallen
Indonesien-Information Nr. 2-3, 1998 (Aceh)
Seit nunmehr fast einem Jahrzehnt geschehen in Aceh, der nördlichsten Provinz Sumatras, massive Menschenrechtsverletzungen. Massaker, Morde, Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Erst jetzt, nach dem Fall des Suharto-Regimes, sprechen die AcehnesInnen offen über die Verbrechen der indonesischen Armee und zwangen den ABRI Oberbefehlshaber General Wiranto zu einer öffentlichen Entschuldigung – doch erst, nachdem indonesische Zeitungen wochenlang über die Verbrechen berichtet hatten. Der Status Acehs als militärisches Operationsgebiet (Daerah Operasi Militer, DOM) wurde zwar aufgehoben, doch die Menschen fordern Aufklärung der Verbrechen, Bestrafung der Schuldigen und Entschädigung für die Opfer.
Mehr als 39.000 Menschen sollen während der letzten Jahre in der Krisenregion Aceh durch Militäroperationen getötet worden sein, so die Angaben des Aceh NGO Forums, einer Gruppe von StudentInnen, Anfang Juni /AFP, 11.06.98/. Zwischen 1.000 und 3.000 Menschen aus der Region, die als illegale ImmigrantInnen aus Malaysia deportiert wurden, sollen sich außerdem, wegen angeblicher Verbindungen mit der separatistischen Bewegung Gerakan Aceh Merdeka (Bewegung Freies Aceh, GAM) in Haft befinden. ABRI Sprecher Brig. Gen. A. Wahab Mokodongan dementierte gegenüber der Jakarta Post die Angaben des Aceh NGO Forums. Schon einfache Logik beweise, dass es für das Militär unmöglich sei, eine derartig große Zahl an Menschen zu töten, so Mokodongan. Wie, ließ er allerdings im Dunkeln. Er gab jedoch zu, dass es Militäroperationen in der Region gegeben habe und dass einige Menschen vielleicht in Schießereien getötet worden seien. Aber sicherlich nicht absichtlich, so Mokodongan weiter. Vielmehr seien die Getöteten ‚Nebeneffekte‘ der Militäroperationen gewesen.
Widerstand in Aceh
Unter Suhartos Orde Baru wurden Acehs Naturschätze, v.a. flüssiges Erdgas, massiv ausgebeutet. Ein Großteil der Einnahmen aus Exporten der Güter flossen in die Taschen Jakartas. Aceh trug damit etwa 11 % zum nationalen Haushalt bei, doch nur etwa 1% floss zurück in die Provinz /tapol Bulletin, No. 148, Sep. 1998/. Seit 1976 kämpft die GAM gegen die – so ihre Bezeichnung – ‚javanische Kolonisation‘. Zu Beginn der 90er Jahre startete das Regime eine groß angelegte militärische Operation gegen die Widerständischen, die großen Rückhalt in der Bevölkerung Acehs genossen. Massive Menschenrechtsverletzungen, Folter, Verschwindenlassen, Mord, Vergewaltigungen, v.a. der Elitetruppen Kopassus, überzogen Aceh in der Folgezeit. 1991 floh ein Großteil der Führung der GAM nach Malaysia, neben hunderten von ZivilistInnen, die versuchten dem Terror – vor allem auf dem Land – zu entkommen. Sporadische Berichte schilderten Aceh als Kriegsgebiet; die Truppenstärke im Pidie Distrikt z.B. wurde enorm aufgestockt und ZivilistInnen wurden immer wieder gezwungen, an sogenannten ‚fence of legs‘ Operationen gegen die Guerillas teilzunehmen.
Bereits 1990 war damit begonnen worden, Einheiten der Elitetruppen Kopassus nach Aceh zu schicken. In einem Interview mit Tempo gab Generalmajor H. R. Pramono, Militärkommandant Nordsumatras, zu Morde angeordnet zu haben: „Ich habe den Leuten gesagt, es ist wichtig, einen GPK (Gerakan Pengacau Keamanan, Unruhestifter) zu töten, wenn man einen sieht. Es besteht kein Bedarf, nachzuforschen; erschießt oder erstecht ihn einfach. Ich habe die Leute instruiert, Waffen, Macheten oder was auch immer zu tragen. Wenn Ihr einen GPK seht, bringt ihn einfach um!“ /Tempo, 17.11.90; zitiert in tapol Bulletin, No. 103, Feb. 91/. Ein Asia Watch-Bericht vom 27. Dezember 1990 zitiert einen Armeearzt, der schätze, dass es tausende von Toten auf beiden Seiten gegeben habe. Ein Großteil soll in Sammelexekutionen umgebracht worden sein. 1991 wurde Aceh zum DOM erklärt. Das Militär erledigte seine Aufgabe so gründlich, dass es in Aceh Dörfer gibt, die ‚Witwendörfer‘ genannt werden, da ein großer Teil der Männer verschwunden ist oder umgebracht wurde. Und viele Frauen, die es jetzt erst wagen zu sprechen, erzählen, dass es keine Seltenheit gewesen ist, vor den Augen ihrer Familienangehörigen vergewaltigt zu werden.
Komnas HAM ermittelt Massentötungen
Im vergangenen Juni berichteten zwei Witwen aus Aceh vor dem Parlament in Jakarta über ihre Erlebnisse. In der Folge entschied die Nationale Menschenrechtskommission, Komnas HAM, eine Fact-Finding Mission nach Aceh zu schicken, um Nachforschungen anzustellen. Hunderte von Menschen waren bereit, Zeugnis abzulegen. Komnas HAM möchte die Ereignisse in der nördlichsten Provinz Sumatras gemeinsam mit General Wiranto, Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, angehen und aufarbeiten. „Wir werden ABRI auffordern, alle Soldaten zurückzuziehen, die hingeschickt wurden, um die separatistische Bewegung zu zerschlagen“, so BN Marbun, ein Mitglied der Menschenrechtskommission gegenüber der Jakarta Post.
Entdeckung von Massengräbern
Die indonesischen ParlamentarierInnen haben sieben Massengräber in Aceh gefunden /Financial Times, 1.8.98/. Die Gräber sind die dramatischsten Entdeckungen seit dem Bekanntwerden der groben Menschenrechtsverstöße in Aceh unter dem Suharto-Regime. Surya Karya, Sprachrohr der Regierungspartei Golkar, zitierte ein Mitglied des Fact-Finding-Teams: „Wir haben tausende von Skeletten in Massengräbern in ganz Aceh gesehen. … wir nehmen an, dass noch weitere 5.000 vermisst werden.“ Nach Aussagen von DiplomatInnen scheinen diese Angaben glaubwürdig und bestätigen frühere Berichte Amnesty Internationals und der US Regierung, die annehmen, dass über 2.000 Menschen – auch Frauen und Kinder – zwischen 1989 und 1993 vom Militär ermordet wurden.
Darauf bedacht, öffentliche Unterstützung zu gewinnen, hat die neue Regierung unter Präsident Habibie eine Reihe von Nachforschungen über Menschenrechtsverletzungen in Aceh, West-Papua, Osttimor und Java selbst zugelassen. Habibie hatte im Juli sogar ein Komitee eingesetzt, das die Anstifter von Unruhen in Jakarta und anderen Städten im Mai ausfindig machen und die Entführungen dutzender AktivistInnen und die Vergewaltigung von über hundert ethnisch chinesischer Frauen aufklären soll. Diese und andere Nachforschungen werfen ein extrem schlechtes Licht auf das Militär. Die Armee hatte in den letzten Monaten versucht, sich einen toleranteren Anstrich zu geben, doch seit dem Rücktritt Suhartos haben die Truppen auf pro-Unabhängigkeits ProtestantInnen in West-Papua geschossen und in Teilen von Osttimor einmal mehr Angst und Schrecken verbreitet. Viele der Zeugenaussagen deuten auf Kopassus, die Sondertruppen, die bis vor kurzem unter dem Kommando von Suhartos Schwiegersohn Prabowo Subianto standen. General Prabowo hat bestritten, die Mai-Unruhen organisiert zu haben und bestand darauf, nur Befehle des Präsidenten befolgt zu haben. Indonesische Zeitungen haben unterdessen damit begonnen zu fragen, ob Suharto den Aufruhr organisiert hat, um eine Entschuldigung für eine militärische Niederschlagung der Studentenproteste zu haben, die seinen Rücktritt forderten. Die Ergebnisse der Fact-Finding Missionen in Aceh deuten jedenfalls an, dass die militärischen Exzesse dort ebenso ernst gewesen sind, wie in Osttimor, die sehr viel mehr internationales Aufsehen erregt haben.
Verschwundene
Die vom Aceh NGO Forum genannte Zahl von bis zu 39.000 Verschwundenen entstammt einer Nachforschung des Forums und eines Journalisten von Gatra aus Jakarta, die noch während der Suharto-Ära gemacht wurde. Die schlimmste Periode waren demnach die Jahre 1990/91, aber die Verbrechen dauern bis heute an. Die Ankündigung General Wirantos, dass Kopassus-Truppen aus Aceh abgezogen würden, stellten die NGOs und die Verwandten der Opfer vor ein Dilemma. Es würde bedeuten, Männer abzuziehen, die identifiziert, verhaftet und bestraft werden sollten.
Kampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in Aceh
Seit dem Fall Suhartos haben die Menschen in Aceh jetzt ihre Bemühungen erhöht, den Menschenrechtsverletzungen in ihrer Provinz endlich ein Ende zu bereiten. So traten sechs StudentInnen im vergangenen Juni in den Hungerstreik, um gegen den Status Acehs als ‚militärisches Operationsgebiet‘ zu protestieren, der den Truppen besondere Befugnisse/Vollmachten zugesteht. Man forderte außerdem die Freilassung aller politischen Gefangenen in Aceh. Die AcehnesInnen bilden die größte Gruppe von politischen Gefangenen. Nach einer Liste von Häftlingen, die im vergangenen Juni von Amnesty International und Human Rights Watch veröffentlicht wurde, stammen 55 von insgesamt 162 politischen Gefangenen aus Aceh. (Die Liste enthält keine Häftlinge aus Osttimor, die gesondert aufgelistet wurden.) Die Gefangenen müssen für ihre angebliche Involvierung in die separatistische Bewegung Strafen zwischen acht und 20 Jahren absitzen. Es ist außerdem keine Seltenheit, dass die Ehefrauen der Häftlinge von den Soldaten vergewaltigt werden.
Forderungen nach einem Rücktritt Syarwan Hamids, Innenminister im „Reformkabinett“ Habibies, wurden laut. Er wird für Morde und Verschwundene verantwortlich gemacht, während er von 1990-1994 Das Nordaceh-Militärkommando innehatte. Auch Ratschläge mehrerer Regierungsbeamter in der Region, ihren Hungerstreik zu beenden, konnte den Kampfgeist der StudentInnen nicht brechen. Man wolle hungern, bis der militärische Sonderstatus Acehs aufgehoben würde, so die StudentInnen /tapol, 16.6.98/. Zwei Witwen, deren Männer wohl 1991 während einer Militäroperation in Pidie, Nordaceh, exekutiert wurden, schlossen sich der Gruppe von StudentInnen an. Sie drängten die Regierung Nachforschungen über die Brutalität des Militärs anzustellen. „Sie (das Militär) drohten, mich zu töten, wenn ich damit (dem Tod ihres Ehemanns) vor Gericht gehe,“ so eine der Frauen.
Kopassus verbreitet weiterhin Angst in Aceh
Während Kopassus-Truppen – gemäß einer Entscheidung General Wirantos von Anfang August – aus Teilen von Aceh zurückgezogen wurden, kommt es unterdessen weiterhin zu Einschüchterungsversuchen und versuchten Entführungen. So war z.B. eine Acehnesin von Kopassus-Offizieren als Geisel für ihren Ehemann gefangengehalten, dann vergewaltigt und gefoltert worden, um herauszufinden, wo er sich aufhält – um nur eines von vielen Beispielen zu nennen. Außerdem sind im gleichen Monat Berichten von lokalen NGOs zufolge 34 Menschen verschwunden. Sie waren zwischen Januar und Mai diesen Jahres gefangengenommen worden und Aussagen von Familienangehörigen und Augenzeuginnen zufolge von einer Kopassus-Einheit, der ‚Satuan Tugas Strategis dan Taktis Kopassus‘, wegtransportiert worden. Man befürchtet, dass sie gefoltert werden. Familienangehörige der Verschwundenen waren außerdem bedroht und misshandelt worden.
Truppen eröffnen das Feuer auf DemonstrantInnen
Anfang September eröffneten Truppen das Feuer auf Aufrührer in Lhokseumawe, töteten zwei und verletzten mindestens ein Dutzend weitere Menschen. Die Schießerei bedroht die Versöhnungsversuche der Regierung Habibie, die versucht, sich von den gewaltsamen Zusammenstößen der Suharto-Ära zu distanzieren. Die anlässlich der Beendigung des militärischen Sonderstatus‘ von General Wiranto ausgesprochene Entschuldigung für die von den Truppen begangenen Menschenrechtsverletzungen ist ein bisher nie dagewesener Schritt eines Militärs. Die Ernsthaftigkeit dieser Entschuldigung wird allerdings relativiert durch Wirantos Anordnung in Zukunft auf den ehrabschneidenden Begriff ‚GPK‘ (Gerakan Pengacau Keamanan, Bewegung von Unruhestiftern), mit dem Oppositionelle und bewaffnete Separatisten gleichermaßen bezeichnet worden waren, zu verzichten. In Zukunft solle stattdessen von ‚GPL‘ (Gerakan Pengacau Liar; Bewegung von wilden Störern) gesprochen werden, so Wiranto. Welche Verbesserung mit dem Austausch dieses einen Buchstabens verbunden sein soll, bleibt Wirantos Geheimnis.
Die Unruhen in Lhokseumawe waren ausgebrochen, als sich hunderte von Menschen versammelt hatten, um abziehende Truppen zu verspotten und mit Steinen zu bewerfen. Lhokseumawe ist das Zentrum von Acehs reichen Erdgasvorkommen und die AcehnesInnen beschuldigen die Regierung, die Profite in die eigene Tasche gesteckt zu haben. Nachforschungen von Menschenrechtsverletzungen haben eine Konzentration von Massengräbern in der Region von Lhokseumawe ergeben.
Dem stellvertretenden Polizeichef zufolge kam es zu den Zusammenstößen, als hunderte von Menschen versuchten, Läden zu überfallen und Büros zu zerstören. 150 Häftlinge sollen unterdessen aus dem Gefängnis entkommen sein, nachdem die Menge Stahltore niedergerissen und das Gefängnis gestürmt hatte. Ein Menschenrechtsanwalt beschuldigte ‚agents provocateurs‘ für die Gewalttätigkeiten verantwortlich zu sein. „Die Menschen nehmen an, dass die Unruhen vom Militär provoziert wurden, um einen Grund zu haben, nicht noch mehr Truppen zurückzuziehen“, so Abdul Rahman Gani, LBH, gegenüber dem Sydney Morning Herald /2.9.98/.
NGOs fordern, dass ABRI zur Verantwortung gezogen wird
Die NGOs in Aceh, haben nun die Aufgabe übernommen, die schweren Menschenrechtsverletzungen, die an einer schwer traumatisierten Bevölkerung begangen wurden, zu dokumentieren. In einem gemeinsamen Statement erklärten sie, dass die Entschuldigung Wirantos weit davon entfernt ist, ausreichend zu sein: „Die bewaffneten Truppen müssen vor dem Gesetz die volle Verantwortung für die vielen Verbrechen übernehmen, die sie an der Bevölkerung Acehs begangen haben, und diejenigen Personen identifizieren, die direkt verantwortlich sind.“ Aceh, das so lange völlig isoliert von der Außenwelt gewesen ist, steht nun an vorderster Front, wenn es darum geht, die unbeschreiblichen Grausamkeiten des Suharto-Regimes aufzudecken, anzuprangern und aufzuarbeiten.