Information und Analyse

Waren die Lautsprecher schuld?

Watch Indonesia! – Information und Analyse, 05. August 2015

nachgedruckt in Westpapua Rundbrief 2/21015

 

Religionskonflikt in Papua

von Alex Flor

Am Feiertag zum Ende des Fastenmonats Ramadhan brannte in Papua ein islamisches Gebetshaus.
Sicherheitskräfte schossen auf Randalierer. Elf Menschen wurden verletzt, ein 15jähriger Junge ist tot.

LautsprecherAusgerechnet zu Idul Fitri, dem in Deutschland als »Zuckerfest« bekannten Feiertag zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadhan, am Freitag, den 17. Juli 2015, sahen sich Muslime in Karubaga, der Kreishauptstadt von Tolikara, Papua, tätlichen Angriffen ausgesetzt, die mutmaßlich von radikalen Christen der Indonesischen Bibelkirche (GIDI, Gereja Injili di Indonesia) durchgeführt wurden. Zum Morgengebet in der Musholla – einem kleinen Gebetshaus ähnlich einer Moschee – Versammelte suchten Zuflucht auf einem Militärgelände. Die Musholla wurde mit Steinwürfen belegt, öffentliche Gebäude und Geschäfte in der direkten Umgebung gingen in Flammen auf. So die eine Version des Geschehens.

Eine andere Version lautet, dass sich eine Gruppe von Christen der Musholla nähern wollte, um die dort versammelten Muslime zu bitten, die Lautsprecher des Gebetshauses abzudrehen, um einen in der Nachbarschaft stattfindenden christlichen Jugendkongress nicht zu stören. Sicherheitskräfte sollen zunächst Warnschüsse  abgegeben haben. Nachdem sich die Menge dadurch aber nicht zurückdrängen ließ, wurde mit scharfer Munition geschossen. Endi Wanimbo, ein 15jähriger Junge wurde getötet. Elf weitere Personen wurden mit Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Aus Wut und Empörung darüber sei Feuer gelegt worden, welches einige Geschäftshäuser und letztlich auch die anliegende Musholla erfasst habe.
 

Frage 1: Warum enden Massenproteste in Indonesien, insbesondere aber in den beiden Provinzen Papuas immer wieder mit Toten? Der Gebrauch der Schusswaffe sollte strikt auf Fälle von Notwehr oder Nothilfe beschränkt sein. Zur Kontrolle aufgebrachter Massen gibt es andere Mittel (crowd control measures), die auch den Sicherheitskräften Indonesiens bekannt und verfügbar sind. Es gibt keinerlei Rechtfertigung, warum in solchen Fällen mit scharfer Munition geschossen wird.
 

Andere Quellen verbreiten, dass die Lokalregierung einen Erlass verabschiedet habe, demzufolge jede Ausübung des Glaubens, die nicht den Vorgaben der GIDI-Kirche entspricht, verboten sei. Eine Kirche der Adventisten sei deswegen bereits geschlossen worden. Den Muslimen sei es verboten worden, ihren höchsten Feiertag öffentlich zu begehen. Im Vorfeld des Feiertags machten Flugblätter die Runde, auf denen dieses Verbot im Namen der GIDI-Kirche bekräftigt wurde.

Das Innenministerium in Jakarta, welches Regelungen von Lokalregierungen absegnen muss, hat nach eigenen Angaben keine Kenntnis von einem entsprechenden Erlass der Verwaltung in Karubaga. Pfarrer Dorman Wandikmbo von der GIDI-Kirche bezeichnete das in Umlauf gebrachte Flugblatt als eine Fälschung: »Meine Unterschrift befindet sich nicht auf diesem Schreiben,« sagte er (Suara Papua. 20. Juli 2015). Dorman Wandikmbo lenkt den Verdacht der Fälschung unmissverständlich auf die Polizei.

Der GIDI angehörige Jugendliche hätten friedlich dagegen protestiert, dass die Gebete aus der Musholla über Lautsprecher verbreitet wurden. Daraufhin habe die Polizei das Feuer eröffnet. »Fast 30 Jahre lang durften die muslimischen Gebetshäuser Lautsprecher benutzen. Nur diesmal haben wir es verboten, weil tausende Jugendlicher von Kirchen außerhalb Tolikaras hier versammelt waren,« erklärte Wandikmbo.

Tolikara ist eine abgelegene Gegend im Herzen der indonesischen Provinz Papua. Zusammen mit der neugeschaffenen Provinz Westpapua stellt Papua den von Indonesien beanspruchten westlichen Teil Neuguineas dar, der nach Grönland zweitgrößten Insel der Welt. Die internationale Anerkennung der Inselhäfte als Teil Indonesiens erfolgte aufgrund einer manipulierten »Volksabstimmung« 1969. Indigene Papua fühlen sich unter der Herrschaft Indonesiens in vielerlei Hinsicht marginalisiert und wegen ihres Aussehens diskriminiert. Aufgrund ungebremster Migration aus anderen Teilen Indonesiens befinden sich die Papua mittlerweile in der Minderheit gegenüber den Zugewanderten. Die unterschiedliche Religionszugehörigkeit – Papua mehrheitlich christlich, Zugewanderte mehrheitlich muslimisch – spielte bislang jedoch eine eher untergeordnete Rolle.
 

Frage 2: Wer spielt da mit dem Feuer? Die Hinzufügung einer religiösen Komponente zu der ohnehin angespannten Lage in Papua behindert nicht nur die Verständigung zwischen Indigenen und Zuwanderern, und somit eine friedliche Lösung des Papua-Konfliktes, sondern droht vielmehr zu einer weiteren Eskalation des Konflikts beizutragen. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft ist schon jetzt offensichtlich: während der Fall Tolikara in den Augen der Zugewanderten/Muslime für den Brand der Musholla am Morgen des Feiertags Idul Fitri steht, verbinden die Papua mit diesem Fall in erster Linie den Tod des jugendlichen Endi Wanimbo durch die Schüsse der Sicherheitskräfte. Das Recht auf freie Religionsausübung steht hier gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Es bräuchte sehr erfahrene Mediatoren, um zwischen diesen beiden Standpunkten zu vermitteln.
 

Der Ruf nach Unabhängigkeit unter den indigenen Einwohnern Papuas ist unüberhörbar. Indonesiens Militär, die Polizei und die Geheimdienste reagieren gewöhnlich mit äußerster Brutalität gegen jedes Aufkeimen von Widerstand – und sei es nur die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung.

Das Aufkeimen von Religionskonflikten wurde in Indonesien unter der Diktatur Suharto durch militärischen Druck effektiv verhindert. Erst nach Suhartos erzwungenem Rücktritt 1998 und dem damit verbundenen Orientierungsverlust weiter Kreise der Gesellschaft trat die Rückbesinnung auf religiöse oder ethnische Identitäten wieder in den Vordergrund. Scheinbar religiös bedingte gewaltsame Konflikte auf den Molukken und in Zentralsulawesi und nicht minder grausame vordergründig ethnisch bedingte Auseinandersetzungen in Westkalimantan prägten die ersten Jahre nach dem Rücktritt des Diktators und kosteten tausende von Menschenleben.

Nach Beilegung dieser blutigen Konflikte hat sich die Lage etwas entspannt. Dennoch wurde die Instrumentalisierung der Religion zu politischen Zwecken in ganz Indonesien längst zu einem Alltagsphänomen. Der einst für seine Toleranz und Weltoffenheit gerühmte indonesische Islam wurde zunehmend zum Opfer einer Arabisierung – der Hinwendung zu religiösen Praktiken, die in arabischen Ländern üblich sein mögen, aber die Tradition des indonesischen Islam völlig außer Acht lassen. Der »moderne« arabisierte Islam Indonesiens hat spürbare Auswirkungen im Alltag: das umfasst die Kleiderordnung, die Anwendung der Scharia, ja sogar die Sprache. Man begrüßt sich heute mit »Salamalaikum« statt wie früher mit »Guten Tag«.

Mittlerweile wurde es quasi zum Gewohnheitsrecht, dass über die Lautsprecher der Moscheen nicht nur der Aufruf zu den fünf täglichen Gebeten (adzan) verbreitet wird. Stattdessen werden ganze Nachbarschaften von morgens bis abends mit Predigten, Übungen der Koranrezitation von Kindern und dergleichen mehr beschallt. Anscheinend gilt dabei das Motto: »je lauter und je länger, desto frommer!«, weshalb auch auf die Leistungsgrenze von Lautsprechern und Verstärkern keine Rücksicht genommen wird. Nicht wenige Menschen kommen in den zweifelhaften Genuss, drei oder vier Moscheen im unmittelbaren Umfeld zu haben, von deren übersteuerten Lautsprechern sie gleichzeitig beschallt werden. An konzentriertes Arbeiten oder die Lösung von Hausaufgaben ist unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Es ist durchaus legitim gegen diese Lärmbelästigung vorzugehen, ohne deshalb in den Verdacht der Islamfeindlichkeit zu geraten.
 

Frage 3: Dennoch stellt sich die Frage, ob ein solcher Disput ausgerechnet am höchsten Feiertag der Muslime ausgetragen werden muss? Die Veranstaltung eines christlichen Jugendkongresses an Idul Fitri und die damit einhergehende Ermahnung an die muslimischen MitbürgerInnen, sich aus Rücksicht auf diesen Kongress Selbstbeschränkung aufzuerlegen, spricht nicht für die interreligiöse Toleranz der OrganisatorInnen. Ist ein derart offensichtlicher Mangel an Sensibilität Ergebnis völliger Ignoranz oder gezielter Provokation?
 

Tolikara könnte einen Einschnitt in der Geschichte Papuas darstellen. Noch nie zuvor wurden Christen eines Übergriffs auf Muslime beschuldigt – schon gar nicht an einem hohen islamischen Feiertag.

Kaum jemals zuvor überlappte sich die Marginalisierung der indigenen Papua gegenüber Zuwanderern in solcher Weise mit scheinbar religiösen Konflikten. Und selten zuvor gab ein einzelnes Ereignis in Papua Anlass für eine solche Vielzahl von Verschwörungstheorien:

Pfarrer Dorman Wandikmbo von der GIDI-Kirche beschuldigt, wie bereits ausgeführt, die Polizei.

Sutiyoso, der neue Chef des Geheimdienstes BIN (Badan Intelijen Negara), teilte breit aus gegen all jene, die den Kasus Tolikara hinterfragen. Freilich ohne konkrete Namen oder gar Fakten zu nennen: »Diese Leute profitierten von dem Zwischenfall, um Pak Jokowi (Präsident Joko Widodo), die Regierung, mich selbst als Chef des Geheimdienstes oder den Chef der Nationalen Polizei anzugreifen.« Dem aktuellen Zeitgeist entsprechend verzichtete Sutiyoso nicht darauf auch eine Spur auf ausländische Akteure zu legen.

Deding Ishak, Parlamentsabgeordneter der ehemaligen Staatspartei Golkar, sieht in dem Vorfall von Tolikara ganz klar einen Versuch der seit 1966 verbotenen Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI), deren Ideologie wieder in den Herzen der Menschen zu verankern. »Alle Religionen lehren Liebe und Mitgefühl. Also kann die Zerstörung eines Gebetsortes in Tolikara nur das Werk der PKI gewesen sein« (Teropong Senayan, 19. Juli 2015). Ishaks Äußerungen nehmen Bezug auf den vermeintlichen Plan von Staatspräsident Joko Widodo, sich im Namen des Staates und der Regierung für die ab 1965 begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen an tatsächlichen oder mutmaßlichen Kommunistinnen zu entschuldigen (Intelijen, 22. Juli 2015).

Verschiedene Gruppen muslimischer Hardliner rufen zum Dschihad gegen die Christen in Papua.

Mehrere Kirchenführer aus Papua appellierten – ausdrücklich auch an die eigene Klientel gerichtet – sich mit voreiligen Schlüssen und Schuldzuweisungen zurückzuhalten bis die genauen Umstände des Falls durch ein unabhängiges Untersuchungsteam aufgeklärt sind. Sie warnen davor, Religionsstreitigkeiten, bzw. die Dominanz einer bestimmten Religion in anderen Regionen Indonesiens zum Streitpunkt in Papua zu machen. (gemeinsame Presseerklärung, 18. Juli 2015)

Doch welche Institution sollte ein solches unabhängiges Untersuchungsteam stellen können? Die in Manokwari, Provinz Westpapua, ansässige Menschenrechtsorganisation LP3BH forderte den Staatspräsidenten auf, zumindest der Nationalen Menschenrechtskommission Indonesiens (Komnas HAM) freien Zugang für eine Untersuchung zu gewähren (LP3BH, 23. Juli 2015). Derzeit ist Journalisten und Beobachtern internationaler Organisationen der freie Zugang nach Papua versperrt. Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz – eine schwerlich der politischen Parteinahme verdächtige Institution – wurde vor Jahren aus Papua ausgewiesen.

Mit der Forderung Papua für internationale Beobachter und Organisationen zu öffnen fanden am 29. April dieses Jahres zeitgleich in London, Berlin, Sydney, New York und vielen anderen Metropolen Demonstrationen statt, an denen sich in Berlin auch Watch Indonesia! beteiligte.

Wenige Tage später besuchte Präsident Joko Widodo Papua und erklärte dort: »Von heute dürfen ausländische Journalisten Papua genauso frei wie andere Teile Indonesiens besuchen (Starting from today, foreign journalists are allowed to and can visit Papua as freely as they can any other part of Indonesia)« (Jakarta Post, 10. Mai 2015).

Dementis einflussreicher Stellen folgten auf dem Fuß: »Ausländische Journalisten benötigen zunächst Genehmigungen, wenn sie über Papua berichten wollen. Laut dem Koordinationsminister für Politik, Recht und Sicherheit, Tedjo Edhy Purdijatno, werden die Antragsteller gefiltert. (Foreign journalists must first obtain permits if they want to cover Papua, and there will be screening, according to Coordinating Minister for Political, Legal and Security Affairs Tedjo Edhy Purdijatno)« (Antara, 11. Mai 2015).

Verteidigungsminister Ryamizard Ryacudu, General a.D., ein aus dem Konflikt in Aceh bis 2004 bekannter Haudegen, präzisierte: »Wir werden sie unterstützen, wenn sie gute Nachrichten verbreiten. Aber wir können sie jederzeit ausweisen, wenn sie der Beihilfe eines Aufstands überführt wurden. (We will support them if they produce good reports, but we can easily expel them if they are found commiting sedition)« (Jakarta Post, 27. Mai 2015).
 

Frage 4: Wie frei ist Staatspräsident Joko Widodo (»Jokowi«) in seinen Entscheidungen? Welche Macht übt er tatsächlich aus? Und welchen Einfluss auf die Regierungspolitik haben nach wie vor das Militär und die Vorsitzende der Partei PDIP, Megawati Sukarnoputri? Megawati hat Jokowi aufgrund seiner Popularität nur widerwillig zum letzlich siegreichen Präsidentschaftskandidaten nominiert.
 

Rudolf Patrige, Sprecher der Polizei, gab bekannt, dass in Tolikara 58 Läden zerstört wurden. 211 Menschen verloren ihr Zuhause. »Die Moschee wurde nicht [absichtlich] niedergebrannt. […] Auf naheliegende Geschäfte wurde Feuer gelegt, welches auf die Moschee übergriff. Die Moschee war zu diesem Zeitpunkt leer. Die lokalen Muslime verübten ihr Gebet in der Nähe eines Militärgeländes.« Nach Angaben von Rudolf Patrige wurden keine Muslime oder Muslima verletzt (Jakarta Globe, 21. Juli 2015).
 

Frage 5: Wen interessieren noch die Erkenntnisse des Polizeisprechers, nachdem sich alle Seiten längst ihre Meinung gebildet haben?
 

Zwei Vertreter der islamischen Gemeinde in Tolikara und drei Pfarrer der GIDI-Kirche unterzeichneten am 29. Juli in Jayapura eine gemeinsame Erklärung, in welcher sie den Vorfall als ein bedauerliches »Missverständnis« bezeichnen und sich gegenseitig entschuldigen. Die beiden Seiten kamen überein, eine traditionelle Lösung des Konfliktes anzustreben, »sodass juristische Schritte gestoppt werden müssen«. Interessanterweise wurde das Papier  in der Provinzhauptstadt Jayapura unterzeichnet. Es darf vermutet werden, dass die fünf Herren aus Tolikara in die Hauptstadt beordert wurden, wo ihnen in die Feder diktiert wurde, auf was sie sich zu einigen haben.

Zur Recht könnte Pfarrer Dorman Wandikmbo erneut sagen: »Meine Unterschrift befindet sich nicht auf diesem Schreiben.«


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