Osttimor – Nepotismus, Korruption und das Erbe der UN
südostasien 2/02
von Jörg Meier
In der Nacht vom 19. auf den 20. Mai 2002 wurde die internationale Staatengemeinschaft um ein Mitglied reicher. Osttimor, oder Timor Loro Sa’e, feierte unter Anteilnahme internationaler Politprominenz und mehr als 100.000 Osttimoresen seine Unabhängigkeit. Der Freiheitskampf hat ein erfolgreiches Ende genommen, aber Armut, Korruption, Nepotismus und das Erbe der UN stellen den Zwergstaat in seinem Nation-Building Prozess vor Riesenherausforderungen.
Seit 1999, als die Osttimoresen sich für die Trennung von Indonesien entschieden, wurde die Inselhälfte von einer UN Übergangsregierung (UNTAET) verwaltet. Als der Nationalheld Xanana Gusmão unter Anwesenheit von UN-Generalsekretär Kofi Annan am 19. Mai um Mitternacht den Amtseid als Präsident ablegte und die Flagge eines unabhängigen Osttimors unter unbändigem Jubel gehisst wurde, ging das Mandat der Interimsregierung zu Ende. Nach Jahrhunderten portugiesischer Kolonialherrschaft, 24 jähriger völkerrechtswidriger Besatzung durch Indonesien und knapp drei Jahren Bevormundung durch die UN ist Osttimor frei, aber steht vor immensen Schwierigkeiten. Nun, da der Kampf um die Unabhängigkeit vorbei ist, beginnt der Kampf ums Überleben.
Asiens Armenstube
Rein faktisch gesehen wird Osttimor, das mit ca. 18.000 Quadratkilometer in etwa der Größe Schleswig Holsteins entspricht, das ärmste Land Asiens sein. Knapp die Hälfte der 744.000 Einwohner sind Analphabeten, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 57 Jahren.
Über 40 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als einem halben Dollar am Tag, Unterernährung und Malaria sind vor allem in ländlichen Gebieten weit verbreitet. Lediglich 17 Prozent der Bevölkerung sprechen die offizielle Nationalsprache Portugiesisch, 63 Prozent hingegen sind des Indonesischen mächtig.
Kapazitäten im Gesundheits-, Bildungs- und Regierungswesen, der Bürokratie, dem Sicherheitsapparat und der Judikative sind unzureichend. Mit dem Abzug der UNTAET Mission wurden viele Städte ohne Kommunikationsmöglichkeiten, in einigen Fällen gar ohne Elektrizität hinterlassen. In Kürze wird es vielleicht kein Fernsehen und Radio mehr geben.
UN Sprecherin Babara Reis kommentiert: „Wir ziehen Kommunikationssysteme, Computer, Generatoren und Fahrzeuge ab, weil die Timoresen nicht imstande sind, diese eigenständig zu warten.“ So makaber es klingt, die Sprecherin könnte ebenso gut sagen: „Der letzte macht das Licht aus.“ Die Nachfolgemission UNTAET’s, United Nation Support Mission to East Timor (UNMISET), wird in erster Linie logistische Unterstützung für die verbleibenden internationalen Friedenstruppen leisten.
Die Timoresen werden sich selbst überlassen sein. Indirekt spricht Reis eines der größten Mankos der UNTAET Mission an: Die unzureichende Ausbildung lokaler Fachkräfte. Der Parlamentsabgeordnete Gregório Saldanha, der abends Taxi fährt um sein Abgeordnetengehalt von 420 US-Dollar aufzubessern, beklagt: „Wirtschaft, Infrastruktur, Gastronomie – fast alles ist fremdbestimmt. Für das Geld, das ein australischer Ingenieur verdient, könnten wir fünfzehn Timoresen beschäftigen, aber uns fehlt es an ausgebildeten Kräften.“
Vom Freudentaumel zu politischer Realität
Dies sind nur die offensichtlichen Fakten. So bewegend die Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit waren, so ernüchternd sind die politischen Realitäten, die sich derzeit in Osttimor auftun. Bereits im Juli 2000 stand der nationale Jugendkongress Osttimors unter dem Motto, die Ströme des Widerstandes zu einem großen Fluss zusammenfließen zu lassen.
Auch auf dem nationalen Kongress der Dachorganisation des nationalen Widerstandes (CNRT), in dem Ende August 2000 über die politische Zukunft Osttimors debattiert wurde, waren Nationale Einheit, Versöhnung und Wiederaufbau – ebenso wie dieser Tage – allgegenwärtige Schlagworte. Der große Fluss jedoch erscheint heute als ein Relikt der Vergangenheit. In den Zeiten indonesischer Besatzung war das einheitliche Ziel der Unabhängigkeit unumstritten. Nun aber, da die unabhängige demokratische Republik Osttimors das Licht der Welt erblickt hat, diversifizieren sich soziale und politische Interessen. Mit Freiheit und Demokratie geben Korruption und Nepotismus ihr Stelldichein.
Es stellt sich die Frage, welche Architekten der nationalen Einheit verhindern wollen, dass der große Fluss in seinen eigenen Strudeln versinkt?
Die Qual der Wahl
Als Osttimor im August vergangenen Jahres eine verfassungsgebende Versammlung wählte, wussten die wenigsten Osttimoresen, was es mit einer solchen Versammlung auf sich hat. Sechzehn politische Parteien, fünf nationale unabhängige Kandidaten und dreizehn Distriktvertreter buhlten um die 88 Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung. Verwirrung pur. Wesentlich einfacher gestaltete sich die Präsidentschaftswahl im April. Nur zwei Anwärter wurden für das Präsidentschaftsamt nominiert.
Fransico Xavier do Amaral, der 1975 in den neun wirren Tagen zwischen der überstürzten Proklamation eines unabhängigen Osttimor und der indonesischen Invasion schon einmal Präsident der Inselhälfte war, galt von vornherein als Verlierer. Der von schwerer Krankheit gezeichnete Amaral gestand ein, dass er lediglich kandidiert, damit die Leute überhaupt eine Wahl haben.
Eusebio Guterres von der viel versprechenden jungen Demokratischen Partei (PD) analysiert: „Es wäre eine Katastrophe gewesen, hätte man Amaral zum Präsidenten gewählt. Nicht so sehr seiner selbst wegen, sondern weil die politische Elite versucht hätte, ihn für ihre politischen Manöver zu opfern.“Denn der eigentliche Machtkampf findet zwischen Nationalheld Xanana Gusmão und der Fretilin-Partei statt. Ebenso wie Amaral einst Gründungsmitglied der Fretilin (Frente Revolucionária do Timor-Leste Independente – Revolutionäre Front für ein unabhängiges Osttimor), sonderte sich Gusmão 1987 von der Partei ab und gründete den CNRT. In seinen Augen war die Fretilin nicht mehr imstande, die Aspirationen der Osttimoresen zu erfüllen. In den Herzen vieler Osttimoresen existiert die Fretilin dessen ungeachtet weiterhin als Symbol des Unabhängigkeitskampfes. Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung gewann die Partei 64 Prozent der Stimmen, bzw. 55 von 88 Sitzen.
Gusmãos Anliegen ist es daher, als demokratischer Gegenpol zur Fretilin zu fungieren. Während seiner politischen Kampagne im April versprach der ehemalige Guerillaführer, der von neun Oppositionsparteien als Präsidentschaftskandidat nominiert wurde: „Ich bin unabhängig und werde Auge, Ohr und Mund aller Osttimoresen sein. Wählt mich nicht, wenn ihr einen Präsidenten wollt, der nur isst, schläft und ansonsten nichts tut, aber dafür bezahlt wird.“ Genau dies, so befürchtete Gusmãos Wahlkampforganisatorin Milena Pires, könnte allerdings sein Schicksal sein.
Die Verfassung sieht, abgesehen vom Vetorecht, eine eher symbolhafte Rolle für das Staatsoberhaupt vor. Die einfachen Leute jedoch bewiesen ihr Vertrauen in Gusmão. Über 80 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung stimmten für den charismatischen Führer. Diese überwältigende Mehrheit gibt Gusmão die moralische Legitimation, sein Anliegen zu verwirklichen. Die Betonung muss auf „moralisch“ liegen.
Obwohl viele Gegner der Fretilin Neuwahlen forderten, ist die verfassungsgebende Versammlung – interessanterweise verfassungsgemäß – mit der Unabhängigkeit am 20. Mai in das erste Parlament Osttimors umgewandelt worden. Sowohl das Parlament wie das neu eingeschworene Kabinett von Premierminister Mari Alkatiri sind von der Fretilin dominiert.
Alkatiri, der ebenso wie einige der von ihm ernannten Minister in den Jahren indonesischer Besatzung im politischen Exil in Mozambique lebte und dort Fähigkeiten erlangte, an denen es den Daheimgebliebenen mangelt, werden Ämterpatronage und unzureichende Transparenz in Regierungsfragen vorgeworfen. Mario Carrascalão, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei (PSD), geht gar soweit zu behaupten, dass Alkatiris Regierung bedenklich an das totalitäre Einparteiensystem zu Suhartos Zeiten in Indonesien erinnert.
Aufbauhilfe und Timor Gap
In den Tagen vor der Unabhängigkeitserklärung wurde die sechste internationale Geberkonferenz für Osttimor in Dili abgehalten. 440 Millionen US-Dollar wurden der Regierung Osttimors für die nächsten drei Jahre zugesagt. Wichtig ist allerdings nicht nur das Geld, sondern vor allem die Fähigkeit, es sinnvoll zu nutzen.
Die unabhängige Regierung muss enormen Herausforderungen in sozialen und ökonomischen Fragen gerecht werden. Ein gewissenhaftes Management der wenigen Ressourcen und andauernde Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für Osttimor sind unabdingbare Voraussetzungen für den Start in die Unabhängigkeit.
Ab 2004, so wird prophezeit, wird Geld aus Einnahmen der Ölvorkommen in der Timorsee in die Staatskassen fließen. Exemplarisch für die mangelnde Transparenz in Regierungsfragen sind die derzeitigen Verhandlungen um eben diese Ölvorkommen. Gemäß internationalem Recht stehen Osttimor 80 Prozent und Australien 20 Prozent des Öls zu. Bis zu 35 Milliarden US -Dollar könnten in den nächsten 20 Jahren in die Staatskassen Osttimors fließen.
Unter Druck der Gebernationen unterzeichnete Alkatiri nach der Unabhängigkeitserklärung allerdings zunächst ein Abkommen mit Australien, dass Osttimor lediglich acht Milliarden US-Dollar zusichert. „Hätten wir nicht unterzeichnet“, so der Premier, „würden wir das Vertrauen der Gebernationen verlieren. Ich habe Trümpfe, die ich in Zukunft ausspielen kann. Die Verhandlungen um die maritimen Grenzen sind noch nicht abgeschlossen, das ist Realität.“ Realität ist auch, dass die Verhandlungen hinter geschlossenen Türen stattgefunden haben. Die Opposition beklagt, nicht involviert gewesen zu sein, und befürchtet, dass Australien nicht zu weiteren Verhandlungen bereit sein wird.
Bittere Pillen für alte Freiheitskämpfer
„Wir werden Kritik zu hören bekommen, und manchmal werden wir nicht übereinstimmen. Aber die Kritik wird willkommen sein“, sagte Außenminister José Ramos Horta am 22. Mai 2002 in einem Treffen mit internationalen Solidaritätsgruppen in Dili. „Die Kritik wird schmerzhaft sein, und es wird noch schmerzhafter sein zu wissen, dass ihr Recht habt, aber wir sind jetzt die Regierung und keine Freiheitskämpfer mehr. Zur Verwirklichung unserer nationalen Interessen müssen wir bittere Pillen schlucken, aber wir glauben, dass dieser Preis später belohnt wird und wollen unser Land nicht aufs Spiel setzen.“
Der große Nachbar und das Internationale Tribunal
Osttimor scheint bereit, selbst Gerechtigkeit zur Wahrung nationaler Interessen aufzugeben. Ein internationales Kriegsverbrechertribunal zur Aufklärung indonesischer Verbrechen, so ist sich die Führungselite einig, ist einzig und allein internationale Angelegenheit. Außerdem, so Gusmão, würde das Tribunal jährlich etwa 600 Mio. US-Dollar kosten, wohingegen Osttimor nur 100 Mio. US-Dollar Aufbauhilfe pro Jahr bezieht. Ressourcen sollten besser zur Armutsbekämpfung, Schaffung von Arbeitsplätzen und Good Governance genutzt werden.
Gerechtigkeit scheint auch ins Hintertreffen zu geraten, da Osttimor, will es nicht zu sehr in wirtschaftliche Abhängigkeit von Australien, Japan und den ehemaligen portugiesischen Kolonialherren geraten, gute Beziehungen zu Indonesien braucht. Horta argumentiert, man könne nicht nach Indonesien schauen, als hätte sich seit 1999 nichts getan. Mit keinem Wort erwähnt er die Lächerlichkeit des derzeit in Jakarta stattfindenden Ad Hoc Tribunals gegen einige der Verantwortlichen von 1999. Die Anwesenheit der indonesischen Staatspräsidentin Megawati zur Unabhängigkeitsfeier wurde als Geste der Versöhnung verkauft. Megawati wurde in der Tat überraschend positiv in Osttimor empfangen, schaut man jedoch hinter die Fassaden, so erscheint ihr Besuch als purer Opportunismus. Osttimor kann ohne Indonesien nicht existieren, und Megawati hätte sich nicht gegen die Opposition im eigenen Lande gerichtet, würde für Indonesien nicht ebenfalls viel von dieser Geste abhängen. Die USA wird sich nach dieser „Versöhnungsgeste“ mit der Wiederaufnahme der 1999 eingefrorenen Militärhilfe für Indonesien leichter tun.
Die Menschenrechtsorganisation Yayasan Hak beanstandet, dass politische Führungskräfte immer wieder dazu aufrufen, in die Zukunft zu schauen und das Vergangene zu vergessen. Mitarbeiter Joaquim Fonseca erklärt: „Wir können nicht von einer unbeschwerten Zukunft reden, wenn wir nicht bereit sind, uns der Vergangenheit anzunehmen. Die internationale Gemeinschaft, die nach Osttimor kommt, kommt nicht vom Mond oder den Sternen, sie kommt von diesem Planeten. Wer Osttimor verlässt, sollte nicht vergessen, in seinem Heimatland Lobbyarbeit zu betreiben. Ohne internationale Solidarität wird es kein internationales Tribunal und keine Gerechtigkeit für Osttimor geben.
Korruption, Nepotismus, aber keine Beweise
Kopfzerbrechen bereitet auch die Art und Weise, in der Osttimor sich der Welt zur Unabhängigkeit präsentiert hat. Über Wochen hinweg wurde in Dili gebaut, renoviert, verschönert. Die Vorbereitungen zur Unabhängigkeitsfeier erinnerten ein bisschen an „Unser Dorf soll schöner werden.“ Nur ein wenig aufwändiger: 1,8 Millionen US-Dollar haben Zeremonienmeister José Ramos Horta und sein Planungskomitee für die Feierlichkeiten veranschlagt. Fonseca beanstandet: „Es ist alles so künstlich und oberflächlich.Teile der politischen Elite wollen unser Land der Welt in Glanz und Glitter präsentieren, aber wir müssen den Realitäten ins Auge sehen.“ Korruption und Nepotismus scheinen allgegenwärtig zu sein. Dem stimmt auch Vizejustizminister Domingos Sarmento zu. Aber bis zum heutigen Tag hat kein Individuum oder Investigationsteam genügend Beweise aufbringen können, um auch nur einen einzigen Fall vor Gericht zu bringen. Sarmento gesteht: „Am Anfang hätten wir einfach nicht die Mittel gehabt, uns solcher Fälle anzunehmen. Selbst die Aufklärung einfacher Verbrechen zog sich über Monate hinweg. Keine Akten, keine Computer, keine Büros. Nun glaube ich, dass wir imstande wären, uns dieser Probleme anzunehmen. Aber es fehlt an Transparenz in diesem Land.
Vergangenes Jahr bereisten Studenten aus Dili entlegene Gegenden Osttimors, um der Landbevölkerung die Vorzüge eines demokratischen Mehrparteinsystems anzupreisen. Demokratie sei wie ein Baum, den man gemeinsam pflanzt, hegt und pflegt, um eines Tages Schutz unter seiner Krone zu finden, war ihre Botschaft. Vielleicht hatte Fernando da Sousa, ein 63jähriger Bauer aus Same recht, als er resümierte: „Wir, die einfachen Leute, werden doch nur die kleinen Blätter an diesem Baum sein. Wir werden abfallen und verwelken. Der Stamm und das Geäst des Baumes werden die reichen und klugen Leute in den Städten sein, und sie werden Ihre eigene Politik machen. Ich hoffe nur, dass es friedlich bleibt.“ <>