Große Mehrheit in Osttimor für Unabhängigkeit
Berliner Zeitung, 04. September 1999
Pro-indonesische Milizen brennen Dörfer nieder / UN-Sicherheitsrat tritt zusammen
Stefan Leifert
LISSABON/DILI/BERLIN, 3. September. Die Bewohner Osttimors haben nach Berichten zweier portugiesischer Fernsehsender bei der Volksabstimmung am Montag mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit von Indonesien gestimmt. Der staatliche Sender RTP und eine private Fernsehanstalt berichteten am Freitagabend aus der Inselhauptstadt Dili, zwischen 70 und 90 Prozent der Wähler hätten die von Jakarta angebotene Autonomie abgelehnt und damit die Unabhängigkeit gewählt. Das Ergebnis der Volksabstimmung sollte am Sonnabend um 3.00 Uhr MESZ gleichzeitig in Dili und bei den Vereinten Nationen in New York bekannt gegeben werden. Der amtierende Präsident des UN-Sicherheitsrates, Arnold Peter van Walsum, kündigte in New York an, das höchste UN-Gremium werde das Ergebnis noch am späten Freitagabend (Ortszeit) hinter verschlossenen Türen erörtern. In Osttimor selbst setzten pro-indonesische Milizen auch am Freitag ihre Angriffe auf Befürworter der Unabhängigkeit fort. Nach Angaben der UN-Mission brannten sie mehrere Dörfer ab, steckten Häuser in einem Vorort der Hauptstadt Dili in Brand, sperrten den Zugang zum Flughafen und vertrieben in der Nähe von Suai rund 2.000 Menschen. In Maliana wurden seit dem Unabhängigkeitsreferendum vom Montag mindestens vier einheimische UN-Mitarbeiter getötet, fünf weitere, darunter ein Deutscher, wurden am Freitagabend vermisst. Die Vereinten Nationen zogen daraufhin ihr Personal dort vollständig ab.
Gespannte Ruhe in Dili
Nach Einschätzung von Sabine Hammer von der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia ist die Lage in Osttimor „weiterhin sehr ernst“, von einer Eskalation könne aber nicht gesprochen werden. Im Zentrum von Dili herrsche „gespannte Ruhe“, sagte sie der „Berliner Zeitung“. Äußerst kritisch sei hingegen die Situation im Landesinnern. Allein in Maliana seien 200 Häuser von den Milizen niedergebrannt worden. „Zielscheibe der Milizen ist vor allem die einheimische Bevölkerung, weniger die ausländischen Beobachter“, so Hammer. Trotzdem sprach die UN-Mission die dringliche Empfehlung auch für Ausländer aus, keine Reisen ins Landesinnere zu machen. In der Bevölkerung sei die Angst sehr groß, dass die indonesischen Sicherheitskräfte abziehen könnten, falls sich die Berichte vom Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter bestätigen sollten, sagte Sabine Hammer. „In diesem Fall entstünde ein Machtvakuum, das die Milizen ausnutzen könnten.“ Beobachter hätten zudem gesehen, wie die Polizei Waffen an die pro-indonesischen Milizen auslieferte. Schon zuvor war den indonesischen Sicherheitskräften wiederholt vorgeworfen worden, sie bemühten sich nicht ernsthaft um ein Ende der Gewalt in Osttimor. Auch UN-Sprecher Wimhurst warf am Freitag der indonesischen Polizei vor, fast überhaupt nichts gegen die militanten Unabhängigkeitsgegner zu unternehmen. Das Verhalten der annähernd 9.000 Polizisten sei „völlig unangemessen“, so dass sich die Sicherheitslage weiter zugespitzt habe. Die Stadt Liquiça sei praktisch von den Milizen eingenommen worden, die zahlreiche Häuser in Brand gesteckt hätten.
Blauhelm-Einsatz erwogen
Nach Angaben von UN-Sprecher Fred Eckard erwägt man im New-Yorker UN-Hauptquartier die Entsendung einer schnellen Einsatztruppe. Voraussetzung sei jedoch, dass eine offizielle Einladung dazu von Indonesien und Portugal vorliegt. UN-Sprecher David Wimhurst erklärte, es werde Wochen dauern, bis die Truppen dann in Osttimor stationiert werden könnten. Der britische Außenminister Cook teilte mit, der im südchinesischen Meer liegende britische Zerstörer „HMS Glasgow“ sei in Bereitschaft versetzt worden, um erforderlichenfalls „Hilfe leisten zu können“. Die indonesische Armee verstärkte am Freitag ihre Truppen in Osttimor um 1.500 Mann. Außerdem wurden 400 zusätzliche Bereitschaftspolizisten auf die Insel geschickt. Armeechef Wiranto kündigte in Jakarta an, die Streitkräfte bereiteten sich auf eine mögliche Massen-Evakuierung vor. Bis zu 200.000 Menschen könnten notfalls auf dem Land-, See- und Luftweg weggebracht werden, falls sich die Situation in Osttimor weiter zuspitze. (mit epd, Reuters, dpa, AFP)