Information und Analyse

ZUM 15. JAHRESTAG DES FRIEDENS IN ACEH

Anhänger der Partai Aceh auf einer Wahlkampfveranstaltung in Banda Aceh (Gunnar Stange, 01.04.2009, Banda Aceh).

 

15 Jahre Frieden in Aceh

ein Gastbeitrag von Gunnar Stange

Am 15. August 2020 jährt sich die Unterzeichnung des Friedensvertrages – des sogenannten Memorandum of Understanding (MoU) – zwischen der indonesischen Regierung und der Bewegung Freies Aceh (Gerakan Aceh Merdeka, GAM) in Helsinki zum 15. Mal. Der Friedensvertrag beendete einen fast dreißigjährigen bewaffneten Konflikt in Indonesiens westlichster Provinz Nanggroe Aceh Darussalam (kurz Aceh), in dem geschätzte 30.000 Menschen den Tod fanden und Zehntausende Opfer unzähliger Menschenrechtsverbrechen wurden. Nach zwei gescheiterten Friedensprozessen zwischen 1999 und 2003 einigten sich die Konfliktparteien mit dem MoU auf ein umfassendes Rahmenwerk, das einen Friedensprozess ermöglichte, der vor allem deshalb als erfolgreich gelten muss, weil ein erneuter Ausbruch des Krieges bis heute verhindert werden konnte. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigen Befunde der vergleichenden internationalen Konfliktforschung. So zeigt beispielsweise Colliers, Hoefflers und Söderboms 2006 veröffentlichte Studie, dass in 40 Prozent der Fälle, in denen bewaffnete Konflikte zu einem vorläufigen Ende finden, diese nach fünf Jahren erneut ausbrechen (Collier, P./ Hoeffler, A. / Söderbom, M. (2006): Post-Conflict Risks. Working Paper No. 256. Oxford: Centre for the Study of African Economics).

Die Erfolgsfaktoren

Wesentlich für diesen Erfolg waren drei Faktoren. Erstens setzten die verheerenden Folgen des Indian Ocean Tsunami Ende Dezember 2004, dem in Aceh geschätzte 170.000 Menschen zum Opfer fielen, beide Konfliktparteien unter einen enormen moralischen Erfolgsdruck. Ein Wiederaufbau der Provinz inmitten eines bewaffneten Konflikts war schlichtweg undenkbar. Die beispiellose internationale Unterstützung für den Wiederaufbau Acehs sorgte gleichsam dafür, dass Aceh zwischen 2005 und 2009 nicht nur unter verstärkter internationaler Beobachtung stand, sondern auch zu einer Wiederaufbauökonomie wurde, die bis dahin ungesehene Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten schuf. Zweitens gelang es Martti Ahtisaari, dem ehemaligen finnischen Präsident und Verhandlungsführer in Helsinki, sowohl die Europäische Union als auch die ASEAN (Association of Southeast Asian Nations) davon zu überzeugen, eine paritätisch besetzte Friedensüberwachungsmission (Aceh Monitoring Mission, AMM) zu entsenden, die, mit einem äußerst robusten internationalen Mandat ausgestattet, die Umsetzung der Sicherheitsvereinbarungen des MoU zwischen September 2005 und Dezember 2006 überwachte. Drittens gab die GAM mit der Unterzeichnung des MoU ihr Ziel der Unabhängigkeit von Indonesien auf. Die indonesische Seite ermöglichte ihrerseits die Zulassung unabhängiger Kandidaten bei den direkten Exekutivwahlen auf Lokal- und Provinzebene sowie die Zulassung lokaler Parteien in Aceh – ein absolutes Novum in der indonesischen Geschichte. Auf diese Weise konnten Vertreter der GAM sehr schnell in das regionale politische System integriert werden. Bereits bei den ersten Gouverneurs-, Landrats- und Bürgermeisterwahlen nach dem Friedensschluss Ende 2006 wurde eine Vielzahl parteiunabhängiger Kandidaten aus den Reihen der GAM gewählt und Irwandi Yusuf, ein ehemaliger Militärstratege der GAM, zum ersten Gouverneur Acehs nach dem Friedensschluss.

Von der GAM zur Partai Aceh

Das Autonomiegesetzes für Aceh (Law on the Governing of Aceh, LoGA), das im August 2006 verabschiedet worden war und die gesetzliche Grundlage für das zukünftige Verhältnis zwischen Aceh und Jakarta schuf, enttäuschte die Hoffnungen all derer, die auf ein substantielles Mehr an Autonomie für Aceh gehofft hatten. Eine Vielzahl der Bestimmungen des MoU, die die Provinz Aceh vis-à-vis der Zentralregierung politisch gestärkt hätten, wurden entweder abgeschwächt oder gar nicht erst in das Gesetzeswerk aufgenommen. Dennoch wäre ein Fortgang des Friedensprozesses ohne das Gesetz nicht denkbar gewesen. Mit der Gründung der Partai Aceh im Jahre 2008 verfügte die GAM alsbald über eine eigene lokale Partei. Vor dem Hintergrund der tiefen Enttäuschung über das Autonomiegesetz wurde in der Folge die Forderung nach einer vollständigen Umsetzung des MoU zum einzigen politischen Anliegen der Partei. Mit dieser Agenda und einer schlagkräftigen Wahlkampfmaschine bestehend aus ehemaligen Kombattanten der GAM, die in den bevölkerungsreichsten Distrikten der Provinz bis auf die Dorfebene organisiert waren, gelang es der Partai Aceh bei den ersten Parlamentswahlen nach dem Friedensschluss im April 2009 fast 50 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen. Ein lange schwelender Konflikt zwischen der mittlerweile nach Aceh zurückgekehrten Exilführung der GAM um Malik Mahmud Al Haytar und der jüngeren GAM-Generation um Irwandi Yusuf mündete schließlich in die Gründung der Partai Nasional Aceh (PNA), einer zweiten lokalen Partei aus den Reihen der GAM. Diese konnte bei den Parlamentswahlen 2014 zwar nur einen bescheidenen Erfolg verbuchen, reüssierte dann 2019 aber unter neuem Namen (Partai Nanggroe Aceh) durchaus erfolgreich. Zwar dominiert die Partei Aceh bis heute mit etwa 20 Prozent der Sitze das Regionalparlament, hat jedoch in den drei Parlamentswahlen seit 2009 sukzessive an Zustimmung eingebüßt. Heute befindet sie sich in einer Großkoalition mit der PNA und anderen nationalen Parteien. Diese Entwicklungen zeigen einerseits, dass aus Kombattanten nicht über Nacht professionelle Politiker werden, andererseits aber auch, dass die GAM das politische Verfahren zur Austragung nach wie vor bestehender Konflikte mit der indonesischen Zentralregierung weitgehend akzeptiert hat.

Fallstrick Korruption

Nachdem es Irwandi Yusuf 2017 erneut gelungen war, die Gouverneurswahl für sich zu entscheiden – das Gouverneursamt gewann 2012 Zaini Abdullah aus der ehemaligen Exilfraktion der GAM – wurde er im Jahre 2019 wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder zu sieben Jahren Haft verurteilt. Neuer Gouverneur wurde sein Vize Nova Iriansyah aus den Reihen der nationalen Partai Demokrat. Damit verfügt erstmals seit dem Friedensschluss wieder eine nationale politische Partei über einen entscheidenden Einfluss in der Provinz, der allerdings aufgrund der nach wie vor dominanten Rolle der Partai Aceh und der PNA im Provinzparlament durchaus begrenzt ist. Der Fall Irwandi Yusuf steht stellvertretend für den Umgang der neuen politischen Eliten Acehs mit den ihnen anvertrauten Mandaten. Seit dem Friedensschluss machten Politiker aus den Reihen der GAM immer wieder im Zusammenhang mit Korruptionsskandalen von sich reden. Dies ist auch den großen Problemen bei der Reintegration ehemaliger Kombattanten geschuldet, die bis zum heutigen Tage übermäßig stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind und von ihren ehemaligen Kommandeuren in politischen Ämtern unterstützt werden. Zudem fließen unterschlagene öffentliche Mittel in den Stimmenkauf bei Wahlen und werden selbstverständlich auch zur persönlichen Vorteilsnahme veruntreut. Dennoch führt Aceh längst nicht mehr die Spitze der korruptesten Provinzen Indonesiens an. Diese fragwürdige Ehre wird laut einer Untersuchung der Nichtregierungsorganisation Indonesia Corruption Watch (ICW) mittlerweile der Provinz Ost-Java zuteil (https://news.detik.com/berita/d-4346603/provinsi-juara-kasus-korupsi-versi-icw-jatim-pertama-sumut-kedua).

Konfliktbearbeitung

Die soziale und wirtschaftliche Situation der Bevölkerung Acehs hat sich in den vergangenen 15 Jahren durchaus verbessert – die Armutsrate fiel von knapp 30 auf circa 15 Prozent –, dennoch rangiert Aceh nach wie vor auf Platz sieben der am stärksten von Armut betroffenen Provinzen Indonesiens (https://lifepal.co.id/media/deretan-provinsi-termiskin-di-indonesia/). Die durchschnittliche Armutsrate des Landes liegt bei circa 10 Prozent (https://www.worldbank.org/en/country/indonesia/overview). Vor allem die Opfer des Aceh-Konflikts sind die großen Verlierer des Friedensprozesses. Zwar wurden viele von ihnen finanziell kompensiert, aber auf der psychosozialen Ebene ist ein Großteil der Traumata der Jahrzehnte des Konflikts bis heute nicht aufgearbeitet. So wurde, wie im MoU vorgesehen, weder ein Menschenrechtsgerichtshof, der die in Aceh verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit hätten verfolgen können, noch eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, die diesen Namen auch verdient hätte, geschaffen. Aufgrund des fehlenden nationalen Rahmens für eine solche Kommission richtete das Provinzparlament Acehs im Jahre 2013 zwar die Komisi Kebenaran dan Rekonsiliasi Aceh (KKR) ein. Allerdings verfügt sie nicht über das Mandat Polizisten und Militärs vorzuladen und erfährt wenig bis keine politische Unterstützung, da führende Vertreter aus den Reihen der GAM ebenso wenig Interesse daran haben, die von ihnen begangenen Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, wie die indonesischen Sicherheitsorgane.

Fazit

Alles in allem ist Aceh im Verlauf der letzten 15 Jahre in einer Art indonesischer Normalität angekommen. Trotz aller nach wie vor bestehenden Konflikte um die Umsetzung des MoU und die weitere Ausgestaltung des politisch-administrativen Verhältnisses zwischen Aceh und Jakarta verlief die Integration der ehemaligen Unabhängigkeitsbewegung in die indonesische Politik weitgehend erfolgreich. Dennoch schwebt vor dem Hintergrund der fast 150-jährigen Konfliktgeschichte Acehs, in der jede Generation Krieg erlebt hat, das Damoklesschwert eines erneuten bewaffneten Konflikts über der Provinz. Vor allem die nach wie vor weitgehend unbearbeiteten Konfliktursachen – wie Militarismus und Entwicklungsdefizite – und der eher halbherzige Wahrheits- und Versöhnungsprozess erinnern daran, dass der Konflikt trotz aller gegenwärtiger Stabilität nach wie vor nicht als nachhaltig gelöst gelten kann.

Über den Autor

Dr. Gunnar Stange ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Er verfasste seine Dissertation zum politischen Transformationsprozess in Aceh zwischen 2005 und 2012 auf Grundlage mehrerer Feldforschungsaufenthalte in Aceh. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Internationale Entwicklung, Friedens- und Konfliktforschung sowie Flucht- und Vertreibungsprozesse, vornehmlich in den Ländern Südostasiens.

 


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