Verfassungskrise in Jakarta
23. Juli 2001
von Alex Flor, Makassar (Indonesien)
Fernab aller drängenden politischen und wirtschaftlichen Probleme rangelt die politische Elite in Jakarta um die Macht über den Vielvölkerstaat Indonesien. Heute morgen in aller Frühe wurde dem schwer angeschlagenen Staatspräsidenten Wahid von der Beratenden Volksversammlung das Misstrauen ausgesprochen. Wahid hoffte bis zuletzt auf eine Kompromisslösung und erklärte vorab, er werde nicht auf dieser „illegalen Sitzung“ erscheinen. Statt dessen machte er seine Drohungen der letzten Wochen wahr und rief den Ausnahmezustand aus, der die Auflösung beider Kammern des Parlamentes und baldigen Neuwahlen nachziehen würde. Diese Anordnung wurde von allen Seiten ignoriert und das Parlament reagierte mit dem Amtsenthebungsverfahren. Megawati Sukarnoputri, die bisherige Vizepräsidentin, wurde bereits als neue Präsidentin vereidigt. Wahid erkennt das Verfahren nicht an und weigert sich von seinem Amt zurückzutreten.
Indonesien steht am Rande einer Verfassungskrise, die das Land in seinem Bestreben um demokratische Reformen um Jahre zurückzuwerfen droht. Abdurrahman Wahid spricht der Beratenden Volksversammlung (MPR) das Recht ab, ihn ohne triftigen Grund vorzeitig des Amtes zu entheben. Im Gegenzug hält die MPR, das höchste Verfassungsorgan des Landes, Wahids Drohung der Auflösung dieser Kammer für verfassungswidrig.
Seit über einem Jahr sägen die Gegner Wahids an seinem Stuhl. Der erste äußere Anlass war seine mutmaßliche Verwicklung in zwei Korruptionsskandale, gefolgt von der umstrittenen Entlassung zweier Minister. Der erste Anlass entfiel, nachdem der Generalstaatsanwalt kürzlich erklärte keinerlei Anhaltspunkte für ein Ermittlungsverfahren gefunden zu haben, und der Streit um die entlassenen Minister geriet schlicht in Vergessenheit. Dennoch wurde am eingeschlagenen Kurs eines Amtsenthebungsverfahrens festgehalten. „Diese beiden Fälle sind nicht mehr der Punkt. Wir werden unsere Position nicht ändern, da wir uns nun mehr auf politische Angelegenheiten wie Führungsqualität und Kompetenz konzentrieren,“ erklärte der Abgeordnete Alvin Lie von der Reformfraktion.
Von Beginn seiner Amtsperiode an kämpft Wahid mit dem Handicap, sich nur auf seine eigene 12 Prozent-Partei PKB verlassen zu können. Um sich dennoch auf Mehrheiten stützen zu können, holte er Politiker aller Fraktionen an den Kabinettstisch seiner ´Regierung der nationalen Einheit´ – und machte sich damit erst recht handlungsunfähig. Wahids Gegner – allen voran der Präsident der MPR, Amien Rais, ließen keine Gelegenheit aus, Wahids Politik zu torpedieren. Keines der drängenden Probleme Indonesiens – Separationsbewegungen, regionale Unruhen, schwächelnde Wirtschaft, zunehmende Verarmung, Schuldenkrise, mangelnde Rechtssicherheit – konnte angepackt oder gar bewältigt werden. Die Regierung erwies sich als schwach und verlor zunehmend an Sympathie. Die wenigen politischen Entscheidungen, die noch getroffen wurden, waren Einzelentscheidungen des Präsidenten, was ihm den Ruf einbrachte, sich als autoritärer Herrscher zu gebärden. Einst reformfreudige Studenten schlugen sich auf Seiten seiner Gegner und forderten Wahids Absetzung. Im Volk wächst die Sehnsucht nach einer starken Hand und man beginnt Ex-Diktator Suharto wieder in etwas besserem Lichte zu sehen. Die alten Suharto-Kräfte – das Militär und die ehemalige Regierungspartei GOLKAR – hören die Signale mit Wohlgefallen.
Schlüsselfigur im Machtpoker ist Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri, die eigentliche Wahlsiegerin von 1999. Ihre Demokratische Partei PDI-P ist die stärkste Fraktion im Parlament. Megawati ist beim einfachen Volk beliebt, sie gilt als Symbolfigur der Reformbewegung. Zu öffentlichen Äußerungen lässt sie sich nur äußerst selten hinreißen. Einzig erkennbares Merkmal ihres politischen Kurses ist ein ausgeprägter Nationalismus, was ihr die Unterstützung des Militärs sichert. Um Präsident Wahid, dem sie persönlich eng verbunden ist, ablösen zu können, benötigt sie aber darüber hinaus entweder die Unterstützung der von Amien Rais angeführten islamischen Mitte (central axis) oder von GOLKAR. Beide Varianten sind für Megawati wenig attraktiv. Zwar macht sich die islamische Mitte derzeit sehr für sie stark, aber Megawati dürfte noch nicht vergessen haben, dass es eben diese Kräfte waren, die 1999 ihre als sicher geltende Wahl zur Präsidentin mit dem Argument vereitelten, eine Frau könne nicht Präsidentin eines islamischen Landes werden. Unwahrscheinlich, dass sich mit diesen Partnern bis zum Ende der Legislaturperiode in Ruhe regieren lässt. Eine Koalition mit GOLKAR dagegen dürfte Megawati bei den nächsten Wahlen 2004 erhebliche Stimmenverluste einbringen.
Wahids taktische Manöver zielen darauf, die Reihen seiner Gegner zu spalten und so zu einem Kompromiss zu finden. Sein bislang stärkster Trumpf war die vor wenigen Wochen erfolgte Ernennung des als durchsetzungsfähig geltenden Baharuddin Lopa zum neuen Generalstaatsanwalt. Lopa kündigte umgehend Ermittlungsverfahren wegen Korruptionsverdachtes gegen die Fraktionsführer von PDI-P und GOLKAR, Arifin Panigoro und Akbar Tandjung, an und versprach außerdem, das eingestellte Verfahren gegen Ex-Diktator Suharto wieder aufzunehmen. Unglücklicherweise erlag Lopa nur vier Wochen später bei einem Besuch in Saudi-Arabien einem Herzinfarkt, wie es heißt. In der Öffentlichkeit wird freilich heftig über mögliche andere Todesursachen spekuliert.
Ob Wahid weitere Trümpfe im Ärmel hat, darf bezweifelt werden. Seine stärkste verbleibende Waffe scheint die Drohung mit dem Ausnahmezustand zu sein. Amien Rais erklärte, falls Wahid diese Drohung tatsächlich wie angekündigt letzten Freitag wahr machen sollte, werde er umgehend für den nächsten Tag eine vorgezogene Sondersitzung der MPR einberufen. Am Freitag erklärte der Präsident, der Ausnahmezustand werde auf den 31. Juli verschoben, was Amien Rais jedoch nicht davon abhielt, am Samstag die MPR einzuberufen. Die schnellgefundene Begründung für die Sondersitzung war nun die am Freitag verlautbarte Vereidigung eines umstrittenen neuen Polizeichefs durch Präsident Wahid. Erwartungsgemäß beschloss die MPR, Abdurrahman Wahid am Montag vorzuladen, um sich vor der Kammer zu rechtfertigen – um ihn daraufhin seines Amtes entheben zu können. Wahid kündigte an, er werde am Montag nicht erscheinen.
Die Bevölkerung nimmt die Aussicht, in Kürze möglicherweise ohne Parlament und ohne Regierung dazustehen weithin gelassen: eine große Veränderung zum Machtvakuum der letzten Monate wird offenbar nicht befürchtet. Eine günstigere Konstellation für das Militär, sich als Retter der Nation zu profilieren ist kaum denkbar. <>