Information und Analyse

Das ›unfinished Business‹ in Aceh: von der Flagge bis zur engen Hose

Information und Analyse, 20. Juli 2013

 

  von Basilisa Dengen

 

Acht Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Helsinki bleiben sowohl für die Staatsführung in Jakarta als auch für die Regierung von Aceh noch viele unvollendete Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber dem Volk Acehs. Die Opfer des über 30 Jahre andauernden bewaffneten Konflikts warten bis heute auf Gerechtigkeit. Nun wird versucht, die Regierung in Jakarta dazu zu bewegen, die Flagge der bereits aufgelösten GAM (Gerakan Aceh Merdeka – Bewegung Freies Aceh) als offizielle Flagge der Provinz anzuerkennen. Währenddessen ist innerhalb der Gesellschaft Acehs eine Spaltung bezüglich der Einführung der Regierungsverordnung über den Wali Nanggroe, dem »symbolischen Staatsoberhaupt« (s. SUARA 2/11, S. 12), zu beobachten. Mindestens drei Ethnien können sich nicht mit der Mehrheit Acehs identifizieren und wollen sich daher von der Provinz trennen.

 
Flag_of_AcehDie Beziehungen zwischen Aceh und Jakarta erleben eine neue Zuspitzung. Im März 2013 verabschiedete das Parlament der Provinz Aceh eine lokale Verordnung (Qanun No. 3/2013) zur Frage der Flagge und des Wappens von Aceh. Die rote Flagge mit einem weißen Halbmond und einem Stern in der Mitte wird von einem schwarzen und weißen Balken flankiert. Das Provinzparlament entschied sich damit für die Flagge der ehemaligen Widerstandsbewegung GAM. Jakarta reagierte umgehend auf diese Entwicklung. Unmittelbar nach Bekanntwerden der neuen Verordnung forderte Präsident Yudhoyono das Parlament in Aceh dazu auf, die Benutzung dieser Flagge in der Provinz zu unterlassen. Gleichzeitig flog der indonesische Innenminister Gamawan Fauzi zur Aufnahme neuer Verhandlungen nach Aceh.

Nach einem Treffen mit Gouverneur Zaini Abdullah erklärte Fauzi, dass die genaue Prüfung des Qanun noch einige Zeit in Anspruch nehmen werde. Eigentlich wären nur einige wenige Zugeständnisse notwendig gewesen,  um die entstanden Irritationen aufzulösen und Jakarta milde zu stimmen. Aceh aber beharrte darauf, keinerlei Änderungen an der neuen Verordnung zu akzeptieren. Mittlerweile dauern die Verhandlungen schon über 90 Tage an, die gewöhnliche Dauer zur Überprüfung  einer lokalen Verordnung wurde damit schon mehr als 60 Tage überschritten.

Seit dem Beginn der Verhandlungen wird die neue Flagge trotz eines Verbots des Gouverneurs weiter gehisst. Im April dieses Jahres gingen tausende Menschen in Aceh auf die Straßen und forderten, dass die indonesische Regierung den Einsatz der Flagge duldet.

Es gehört schon fast zur Tradition, dass in Jakarta die Alarmglocken schrillen, sobald in sogenannten ›hot spot‹ Gebieten die Bevölkerung etwas anderes als die indonesische Flagge hochzieht. Und nicht selten, auch das gehört leider zu einem immer wiederkehrenden Motiv, reagiert die Regierung auf solche Geschehnisse mit übertriebener Härte.

Im März etwa nahm die Polizei in Buru, Molukken, 17 Bergbauarbeiter der Goldmine Gunung Botak fest. Ihnen wurde vorgeworfen, die Flagge der molukkischen Separatistenbewegung RMS (Republik Maluku Selatan; Republik Südmolukken) gezeigt zu haben. Die Arbeiter wurden später nach einem Verhör freigelassen, nachdem sie angegeben hatten, dass die vermeintliche RMS-Flagge eine französische Flagge sei. Hintergrund war das kurz zuvor stattfindende Qualifikationsspiel zur Fußball-WM zwischen Spanien und Frankreich, bei dem die Bergbauarbeiter die französische Mannschaft unterstützten.

Verstoß gegen das MoU von Helsinki?

Debatten und Konflikte dieser Art stellen keine Besonderheit in den Beziehungen zwischen Aceh und Jakarta dar. Schon im Jahr 2007, als die ehemaligen Kämpfer der Widerstandsbewegung GAM eine eigene lokale Partei mit dem gleichen Namen gründeten, reagierte Jakarta scharf und unverzüglich. Sogleich nach der Parteigründung legten die Abgeordneten des für Sicherheit zuständigen Parlamentsausschusses sowie Politiker der Parteien PAN, Golkar und PBB ihr Veto gegen die politischen Aktivitäten in Aceh ein. Muladi, der Chef des Instituts für nationale Verteidigung (Lemhannas) forderte ohne wenn und aber: Die Partei muss  juristisch vernichtet werden!

Die aktuelle Debatte gleicht den Auseinandersetzungen der Vergangenheit in vielerlei Hinsicht. Befürworter des Qanun weisen darauf hin, dass Beschlüsse zu Flagge und Wappen von Aceh eigentlich nicht in den Entscheidungsbereich der zentralen Regierung in Jakarta fallen würden. Laut Memorandum of Understanding von Helsinki (MoU) hat Jakarta lediglich in den fünf folgenden Bereichen ein Weisungsrecht: Außenpolitik, Verteidigung und Sicherheit, Justiz und Währung. Über alle anderen Fragen kann Aceh frei und unabhängig entscheiden. Ganz ähnlich wie das Veto Jakartas gegen die Parteigründung durch die GAM stellt somit auch die Forderung nach einem Verbot von Flagge und Wappen für viele in Aceh einen Angriff auf ihr Selbstbestimmungsrecht dar.

Nur Djuli, der den Friedensverhandlungen in Helsinki beiwohnte, betont, dass die GAM lediglich ihre Treue zur indonesischen Verfassung erklärt habe. Dies bedeute aber nicht, dass Aceh sämtlichen Gesetzen, die Jakarta verabschiedet, unweigerlich zustimmen muss. In diesem Zusammenhang wirft er nicht ganz unbegründet die Frage auf, welchen Sinn das MoU von Helsinki denn habe, wenn die indonesische Regierung ohnehin jedwede Gesetzgebung in Aceh erfolgreich torpedieren kann?

Es existieren jedoch auch kritische Stimmen, die argumentieren, dass die Einführung der GAM-Flagge in Aceh gegen das MoU verstoße. So besage die Präambel, dass die GAM sich dazu verpflichte, der indonesischen Verfassung und den Gesetzen der Zentralregierung zu folgen, was damit automatisch auch das Gesetz zur regionalen Flagge beinhalte. Der Vorsitzende der Aceh Monitoring Mission (AMM), Peter Feith, vertrat 2007 ebenfalls diese Position: Er wies darauf hin, dass Namen, Wappen und Flagge der lokalen Partei in Aceh mit den indonesischen Gesetzen übereinstimmen müssten.

Auch das Magazin Acehkita widmete sich im Jahr 2007 diesem Thema. Der Autor des Artikels, Aguswandi, ein junger Acehnese, der sich stark für die Menschenrechte in Aceh engagierte und später auch Vorsitzender einer lokalen Partei in Aceh (Partai Rakyat Aceh – PRA) war, versuchte, die Problematik nicht nur von der juristischen Seite zu beleuchten. Vielmehr warf er die Frage in den Raum, warum Jakarta immer so empfindlich reagiere, sobald irgendwo auf dem indonesischen Archipel eine andere als die Nationalflagge gehisst werde? Meist käme dann die Frage nach den Drahtziehern auf, gefolgt von einem Befehl, die Leute festzunehmen. Die Frage nach dem »Warum?«, also den Ursachen dafür, dass die Leute eine Widerstandsflagge hissen, spiele für Jakarta jedoch faktisch nie eine Rolle.

Hinsichtlich des Konflikts zwischen Aceh und der indonesischen Zentralregierung führt Aguswandi aus, dass Jakarta noch immer Angst vor einer Rückkehr der GAM habe, die letztlich die Einheit Indonesiens bedrohen würde. Selbst die Transformation der GAM von einer Sezessionsbewegung zu einer politischen Partei habe man nicht als einen Erfolg wahrgenommen. Natürlich wird dieser Prozess dazu führen, dass die GAM in der politischen Arena gegen andere Parteien kämpft. Infolge der Transformation kämpft sie nun jedoch nicht nicht mehr mit Waffen, sondern mit Ideen zur Verbesserung der Wirtschaft und des sozialen Lebens in Aceh. Es ist daher Zeit, dass Jakarta seine kritische Sichtweise auf die Entwicklungen in Aceh ändert, zumal sich die Zukunft in den Beziehungen beider Seiten nicht auf einer endlosen Diskussion um Flagge und Wappen aufbauen lässt.

Wie sieht Aceh heute aus?

Es ist wohl noch zu früh, um beurteilen zu können, inwiefern die Partai Aceh (früher Partai GAM) zur Demokratisierung und zur wirtschaftlichen Entwicklung in Aceh beiträgt. Zwar berichtet Acehs Amt für Statistik von einem Wirtschaftswachstum in Höhe von etwa fünf Prozent. Die offizielle Arbeitslosenquote von 7,8 Prozent im Jahr 2012 ist nach Angaben des Amts mit der Quote der Nachbarprovinz Nordsumatra vergleichbar. Dennoch lebt noch immer etwa jeder Fünfte der insgesamt 4,5 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze.

Auffällig ist zudem, dass einige Gesetzesbeschlüsse der Partai Aceh, die mit 47 Prozent eine deutliche Mehrheit im Parlament besitzt, zu einer Spaltung innerhalb der Gesellschaft Acehs geführt haben. So fühlen sich die Ethnien aus Zentralaceh wie die Gayo, Alas und Singkil von den Regelungen der Qanun über Wappen und Flagge in ihrer Identität marginalisiert. Sie erwägen sogar, sich als eine neue, von Aceh unabhängige Provinz abzuspalten. Letztlich ereilt den Qanun damit in Aceh ein ähnliches Schicksal wie im Konflikt mit der indonesischen Zentralregierung: er erhält keine uneingeschränkte Zustimmung.

Im MoU von Helsinki werden einige Aufgaben beschrieben, die Jakarta und Aceh zu erledigen haben. Man kann sie in zwei Gruppen kategorisieren: Sicherheitsvereinbarungen und politische Vereinbarungen.
 
Die Sicherheitsvereinbarungen wurden mehr oder weniger erfolgreich unter der Führung der AMM realisiert. Die vereinbarte Zahl von Waffen der GAM konnte vernichtet werden, die nicht regulär in Aceh stationierten (non-organic) Truppen wurden nach Hause geschickt und die GAM als separatistische und militärisch agierende Organisation wurde aufgelöst.

Die politischen Vereinbarungen beinhalten unter anderem die Einführung eines Gesetzes zur Regierungsführung von Aceh (UU Pemerintahan Aceh), aber auch zur Etablierung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (KKR Aceh) sowie eines Menschenrechtsgerichtshofs. Zu Letzterem gibt es bis heute keinen bedeutenden Fortschritt. Seit Beginn der Friedensverhandlungen gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen Aceh und Jakarta um die Rückwirkung (retroactive effect) des Menschenrechtsgerichtshofs. In dem Gesetz über die Regierungsführung von Aceh (Nr.11/2006) steht, dass das Gericht nur für  Verbrechen zuständig ist, die nach der Verabschiedung dieses Gesetzes begangen wurden. Ein Gericht ohne rückwirkende Zuständigkeit macht für viele in Aceh überhaupt keinen Sinn.  2008 erklärte der damalige Minister für Justiz und Menschenrechte, Andi Mattalatta, der Presse, es sei nicht angemessen, dass die indonesische Regierung den GAM-Kämpfern Amnestie gewährt hat, während Mitglieder der indonesischen Armee noch zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Theoretisch, ermöglicht es das Gesetz 26/2000 über Menschenrechtsgerichtshöfe, zumindest die Verbrechen von 2000-2005 vor Gericht zu bringen. Dennoch bleiben zwei Probleme bestehen: erstens, welche Form von Gerechtigkeit erfahren die Opfer der Verbrechen, die von 1976 bis 2000 begangen wurden? Und zweitens  braucht es einen Präsidentenerlass und die Zustimmung des Parlaments, um dieses Gericht einzuberufen. Somit stellt sich auch hier die immer wieder gleiche Frage nach dem politischen Willen von  Regierung und Parlament.

Bis heute bestehen große Spannungen zwischen Aceh und Jakarta hinsichtlich der Implementierung dieser Vereinbarungen. Die Regierung in Aceh ist der Meinung, dass die zugesprochene Sonderautonomie nie verwirklicht wurde, da jede vom lokalen Parlament verabschiedete Verordnung der Genehmigung der zentralen Regierung in Jakarta bedarf. Damit unterscheide sich die Autonomie in Aceh in keiner Weise von der Praxis in anderen indonesischen Provinzen, so  ihre Beschwerde.

Wird es eine Wahrheitskommission geben?

Von der Etablierung einer Wahrheitskommission hörte man zumindest bis zum April dieses Jahres relativ wenig. Auch nach dem Erlass des ehemaligen Gouverneurs Irwandi Jusuf zur Bildung eines Teams für die  Wahrheitskommission im Jahr 2008 waren in dieser Frage kaum Fortschritte zu erkennen. Unter den in Aceh agierenden Menschenrechtsorganisationen gibt es diesbezüglich unterschiedliche Auffassungen. Nachdem das indonesische Verfassungsgericht im Dezember 2006 das nationale Gesetz Nr. 27/2004 über Wahrheits- und Versöhnungskommissionen kassierte, waren einige Menschenrechtsorganisationen der Meinung, dass es nun keinen Sinn mehr mache, sich für eine entsprechende Kommission auf lokaler Ebene in Aceh stark zu machen.

Die Menschenrechtlerin Samsidar von der Frauenhilfsorganisation LBH Apik Aceh, sieht das anders. In einem Buchbeitrag über die Errichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission in Aceh (Demi Kebenaran dan Keadilan di Aceh – Catatan Ide Rumusan Komisi Kebenaran dan Rekonsiliasi di Aceh, KPK Aceh 2008) äußert sie die Meinung, dass der Verfassungsgerichtsentscheid von 2006 nicht als Hindernis gesehen werden darf, um Verbrechen aufzudecken und nach der Wahrheit zu suchen. Wahrheitsfindung, so Samsidar weiter, sollte nicht nur auf ein rechtliches System oder auf Gerichtsprozesse angewiesen sein. Vielmehr müsse in Aceh eine Wahrheitskommission aus der Perspektive der Opfer etabliert werden, wo man den betroffenen Menschen einen Raum zur Verfügung stellt, in dem sie ihre Gefühle, ihr Leid, aber auch ihre Anforderungen an die Gerechtigkeit unmittelbar aussprechen können. Zudem sollten die Opfer dabei auch die Möglichkeit haben, den nach Möglichkeit anwesenden Tätern, aber auch der Öffentlichkeit und insbesondere den Mitgliedern der Kommission frei und ohne Einschüchterung von der Vergangenheit zu erzählen. Das Ziel bestünde darin, dass die Gewalttaten während des Konflikts von 1976-2005 gründlich aufgearbeitet und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt werden. Die Erfahrung zeigt, wie wichtig dieser Prozess für das kollektive Gedächtnis und Bewusstsein der Gesellschaft, wie auch für das Streben nach Versöhnung und Gerechtigkeit ist.

Der Pessimismus gegenüber der lokalen Wahrheitskommission zeigt sich hingegen in den von vielen Menschenrechtsorganisationen geäußerten Bedenken, ob ein solches Verfahren in Aceh Gerechtigkeit für die Opfer bringen könne. Ist es gerecht, wenn die Täter ausschließlich in der Bevölkerung Acehs gesucht werden? Samsidar stellt diesem Vorwurf eine rhetorische Frage entgegen: Brauchen die Menschen in Aceh wirklich keine Wahrheitsfindung für sich selbst? Kann man mit letzter Sicherheit sagen, dass sich unter ihnen nicht auch Leute befinden, die Schuld auf sich geladen haben und bei denen die Notwendigkeit besteht, sich für ihre Verbrechen bei den Opfern zu entschuldigen? Im Jahr 2008 kam es zu einer Tragödie in Atu Lintang, Zentralaceh, als ein Büro der KPA (Verband der ehemaligen Widerstandskämpfer) angegriffen und in Brand gesteckt wurde. Sechs KPA-Mitglieder kamen bei diesem Vorfall ums Leben. Allein dieser Hinweis reicht aus, um den Sinn einer lokalen Wahrheits- und Versöhnungskommission zu unterstreichen.

Als die Debatte um die Flagge verstärkte Aufmerksamkeit in den indonesischen Medien gewann, nutzten einige Menschenrechtsorganisationen die Gelegenheit, um die Frage nach der Wahrheitskommissionen in Aceh wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Politik. Im Parlament von Aceh (DPRA) wird neuerdings über diese Idee wieder diskutiert. Der Vorsitzende des DPRA, Hasbi Abdullah, stellte im Juni fest, dass eine Verordnung zur Errichtung einer Wahrheitskommission in Aceh noch in diesem Jahr verabschiedet werden muss. Dies erscheint zunächst als Hoffnungsschimmer für die zahlreichen Opfer des Konflikts, die seit Jahren auf Gerechtigkeit warten. Allerdings sind solche Versprechen in der öffentlichen Debatte der Provinz Aceh nichts Außergewöhnliches, und derlei Ankündigungen wie jene von Hasbi Abdullah hört man in Aceh schon seit Jahren. Fakt ist leider, dass eine Entscheidung zur Einführung einer Wahrheitskommission schon lange auf der Liste der zu verabschiedenden Verordnungen steht. Realisiert wurde dieses Vorhaben indes nie. Otto Syamsuddin Ishak, ein Acehnese in der Nationalen Menschenrechtskommission, stellt daher berechtigterweise die Frage, warum das DPRA einen Qanun zur Flagge und zur Symbolik verabschiedet, über die für die Zukunft Acehs weitaus wichtiger erscheinende Einführung einer Wahrheitskommission aber keine Fortschritte erzielt.

Ungünstige Lage für Frauen und Kinder

231 Monitoring Network, eine Koalition verschiedener NGOs in Aceh, berichtete im Juni, dass die Gewalt gegen Frauen in Aceh in den zwei letzten Jahren kontinuierlich angestiegen sei. Im Zusammenhang mit der Evaluierung eines Gesetzes zur Frauenförderung und zum Kinderschutz in Aceh wurden zwischen 2011 und 2012 1.060 Fälle dokumentiert. Zwar handelt es sich in 73 Prozent der Fälle um häusliche Gewalt, jedoch kommt es auch in der Öffentlichkeit zunehmend zu gewalttätigen Übergriffen gegenüber Frauen. Bedauerlicherweise hat die Gesellschaft solche Ereignisse verinnerlicht, und auch die Regierung hat bisher nichts dagegen unternommen.

Suraiya Kamaruzzaman von Flower Aceh macht vor allem die Einführung der Scharia im Jahr 2001 verantwortlich für die steigende Gewalt gegenüber Frauen. Sie kritisiert insbesondere, dass die Scharia Frauen nicht ausreichend schütze und sich lediglich auf belanglose Angelegenheiten fokussiere. Dazu gehört etwa das Mitfahrverbot für Frauen auf dem Motorrad. Der Bürgermeister von Lhokseumawe hat es den Frauen untersagt, breitbeinig hinter einem Mann Motorrad zu fahren. Es verstoße gegen die »Moral und die guten Sitten«. In Lhoksukon/Nordaceh hat eine islamische Organisation Frauen sogar das Tragen von engen Hosen verboten. Demgegenüber wünscht sie sich, dass die Regierung wieder Geld für öffentliches Auspeitschen zur Verfügung stellt, damit die Bevölkerung so noch stärker eingeschüchtert werden kann und gehorsam bleibt. Im gleichen Bezirk hat es der Regierungschef den Frauen sogar verboten, in öffentlichen Veranstaltungen zu tanzen, vor allem wenn sich unter den Gästen erwachsene Männer befinden.

Unfinished Business in Aceh: Aufgaben der Regierungen in Jakarta und Aceh

Die Debatte um die Flagge ist angesichts der vielen ungelösten Probleme nur ein kleiner Streitpunkt in den Beziehungen zwischen Aceh und Jakarta. Mittlerweile verhandeln beide Seiten nicht mehr nur über die Flagge, sondern auch über die Regierungsverordnung zur Aufteilung der Erlöse aus Öl- und Gasvorkommen, die eigentlich schon vor sechs Jahren hätte realisiert werden müssen. Laut dem MoU von Helsinki sollen die Öl-und Gasvorkommen im Verhältnis von 70 zu 30 Prozent zwischen Aceh und der Zentralregierung in Jakarta aufgeteilt werden.

Inmitten der Verhandlungen über die Flagge hat es die Regierung von Aceh geschafft, einen gewissen Druck auf Jakarta auszuüben, so dass die Verordnung zur Aufteilung der Erlöse aus den Gas- und Ölvorkommen in Aceh aller Voraussicht nach noch dieses Jahr verabschiedet wird. War das Hissen der verbotenen Flagge also nur ein Mittel zum Zweck?

Schlussendlich stellt sich die Frage, was die Regierungen in Jakarta und Aceh unternehmen müssen, um ihre Beziehungen zu normalisieren? Anstatt sich mit unsinnigen Streitigkeiten über Flaggen und Wappen aufzuhalten, sollte sich die indonesische Zentralregierung zukünftig verstärkt mit den substantiellen Problemen der Region Aceh befassen. Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Meinungsfreiheit, des Zugangs zu Bildung und der besseren Gesundheitsversorgung, aber auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze gehören zweifelsohne zu den wichtigen Themen, an denen Jakarta arbeiten sollte. Demgegenüber muss die Regierung in Aceh  lernen, alle Gruppen in der Gesellschaft im Entscheidungsprozess zu berücksichtigen und mit einzubeziehen. Das MoU von Helsinki ist nur dann ein Erfolg, wenn nicht nur die ehemaligen GAM-Kämpfer davon profitieren, sondern die Beschlüsse des Abkommens dem gesamten Volk von Aceh zugute kommen.


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