Strenger Halbmond über „Mekkas Veranda“

 

Deutsche Welle, 23. Dezember 2014

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Vor dem Tsunami 2004 war die indonesische Provinz Aceh Bürgerkriegsgebiet. Heute herrscht dort zwar Frieden. Dafür hat sich in Aceh unter den Augen der Regierung in Jakarta ein islamistisches Regime etabliert.

deutsche-welleVon der größten Naturkatastrophe in der Geschichte Acehs ist heute kaum noch etwas zu sehen. Überall an der Küste wurden die zerstörten Dörfer wieder aufgebaut. Moderne Wohnhäuser, neue Moscheen, sogar asphaltierte Straßen prägen vielerorts das Bild. Die Märkte sind belebt, die Fischer fahren aufs Meer hinaus, und in den Fabriken wird gearbeitet – als hätte es die Welle nie gegeben, die am 26. Dezember 2004 alleine in der indonesischen Provinz Aceh mehr als 160.000 Menschen in den Tod riss. Rund sieben Milliarden US-Dollar Wiederaufbauhilfe sind nach dem Tsunami von 2004 aus aller Welt in die damals völlig zerstörte Provinz geflossen. „Danach“, erzählt Felix Heiduk, Indonesien-Experte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, „hat es einen Wiederaufbau gegeben, wie man ihn so schnell noch nirgendwo auf der Welt gesehen hat. Wenn man das Aceh von heute selbst mit dem Aceh vor dem Tsunami vergleicht, gab es in den letzten Jahren einen deutlichen Modernisierungsschub.“

Eine Bestrafung durch Stockschläge in der Öffentlichkeit ist in Aceh keine Seltenheit

Doch für die Menschenrechte in der Provinz gilt das nicht. Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hat sich in Aceh ein fundamentalistisches Regime etabliert. So ist Aceh die einzige Provinz Indonesiens, in der offiziell die Scharia eingeführt wurde – mit schweren Folgen: „In den vergangenen zehn Jahren hat sich das öffentliche Leben in Aceh völlig gewandelt“, erklärt Alex Flor von der Menschenrechtsorganisation ‚Watch Indonesia!‘ mit Sitz in Berlin. „So gibt es etwa die Prügelstrafe für Glücksspiel, Alkoholkonsum oder für das Ausgehen mit einem Partner, der nicht Ehepartner, Bruder oder Schwester ist. Frauen müssen immer und überall ein Kopftuch tragen und dürfen nur als Beifahrerin und nur im Damensitz Motorrad fahren.“ Jüngst wurde ein Gesetz erlassen, nach der Homosexualität mit bis zu 100 Peitschenhieben geahndet werden kann. Es steht im Raum, dass für Ehebruch die Steinigung eingeführt werden soll. Es fehlt lediglich die Unterschrift des Gouverneurs.

Die Einhaltung all dieser Gesetze wird von einer „Scharia-Polizei“ überwacht, einer Ordnungsmacht, die neben der eigentlichen Polizei agiert. „Diese Scharia-Polizei besitzt ausschließlich die Aufgabe, Übertretungen der Scharia-Ordnung zu ahnden“, so Flor: „Beim ersten Mal werden die Menschen freundlich aber bestimmt darauf aufmerksam gemacht, was verboten ist. Beim zweiten oder dritten Mal hagelt es Strafen.“ Und zwar drastische – öffentlich, als Abschreckung für andere.

Dass die Religion in Aceh strikter ausgelegt wird als in vielen anderen Teilen des Landes, ist nicht neu. „Aceh hatte immer schon den Spitznamen ‚die Veranda Mekkas‘,“ sagt SWP-Experte Felix Heiduk. „Die Region war das Einfallstor des Islam nach Südostasien und schon immer der konservativste Teil Indonesiens. Darüber hinaus wird der Tsunami von 2004 heute als ‚Strafe Gottes für sündhaftes Verhalten in Aceh‘ gedeutet“, so Heiduk. „Politische Gruppen haben diesen Diskurs für eine sehr strikte Implementierung der Scharia instrumentalisiert. Und dem können sich die Menschen kaum entziehen, wenn sie nicht als ‚unislamisch‘ gelten wollen.“

Langer Weg zum Frieden

Schon vor dem Tsunami war Aceh ein weitgehend zerstörtes Land: ausgelaugt von einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg, heimgesucht von immer wiederkehrenden Militäroperationen, gezeichnet von massiven Menschenrechtsverletzungen. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre, als die Widerstandsgruppe „Bewegung Freies Aceh“ („Gerakan Aceh Merdaka“ – kurz: GAM) gegründet wurde, gärte es in dem Landstrich an der äußersten Nordwestspitze Sumatras. Immer wieder ging die Zentralregierung in Jakarta militärisch gegen die Separatisten der GAM vor. Besonders massiv in den 1990ern, als die Provinz inoffiziell zum militärischen Operationsgebiet erklärt wurde. Im Namen der Befriedung Acehs ließ Jakarta seiner Armee freie Hand: Sie verhaftete und folterte willkürlich Menschen und ließ viele von ihnen einfach verschwinden. Tausende von Zivilisten, auch Frauen, Kinder und alte Menschen, wurden getötet.

Nach einer Phase relativer Entspannung brachen die Kämpfe 2003/2004 erneut aus. In den Monaten vor dem Tsunami wurde die GAM massiv zurückgedrängt. Indonesiens damalige Präsidentin Megawati Sukarnoputri suchte die militärische Entscheidung. Doch im Oktober 2004, nur zwei Monate vor dem Tsunami, verlor sie die Wahlen gegen ihren ehemaligen Sicherheitsberater Susilo Bambang Yudhoyono, der Aceh gegenüber mehr Kompromissbereitschaft andeutete. Kurz sah es so aus, als würde sich die Lage wieder beruhigen. Und dann kam die Welle.

„Jakarta schaut weg“

Keine Region Südostasiens wurde vom Tsunami so stark verwüstet wie Aceh. Die gesamte Küstenlinie wurde dem Erdboden gleichgemacht. Der Tsunami war für Aceh die größte Naturkatastrophe aller Zeiten, „aber für den Friedensprozess wirkte er wie ein Katalysator“, erklärt SWP-Experte Felix Heiduk: „Der Tsunami hat den Druck auf beide Konfliktparteien massiv erhöht, Frieden zu schließen, um überhaupt den dringend benötigten Wiederaufbau voranbringen zu können.“

Im August 2005 unterzeichneten beide Seiten ein Abkommen, das der Provinz weitreichende Autonomierechte zugestand und den Grundstein dafür legte, dass die GAM sich von einer bewaffneten Rebellenbewegung in die bestimmende politische Kraft der Provinz wandeln konnte. „Heute sitzt die GAM an allen Stellen an den politischen Schalthebeln, und sie hat offensichtlich Spaß daran gefunden, an der Macht zu sein“, erklärt Alex Flor. Dennoch kam die Wendung der führenden Partei Acehs hin zum fundamentalistischen Islam zumindest für ihn überraschend. „In der gesamten Zeit des Unabhängigkeitskampfes haben die Separatisten eigentlich nicht mit islamistischen Tendenzen geliebäugelt“, erklärt er. „Damals standen das Recht auf Selbstbestimmung und die schlechte Menschenrechtslage in der Provinz im Vordergrund, so dass es heute doch bitter aufstößt, dass mittlerweile in Aceh von diesen Menschenrechten niemand mehr etwas wissen will.“ Dem pflichtet auch Felix Heiduk bei: „Die Einführung der Scharia war überhaupt keine Kernforderung der Unabhängigkeitsbewegung in Aceh. Die ganze Debatte ist erst 2001 lanciert worden – und zwar von Jakarta. Damals hieß es: Unabhängigkeit gibt es auf keinen Fall. Höchstens Autonomie. Und dann könnt ihr auch die Scharia haben. Und das haben sie Aceh dann auch zugestanden.“

In Indonesien selbst werde dies gar nicht als so problematisch wahrgenommen, sagt SWP-Experte Heiduk. „Hier wird viel mehr der große Erfolg des Friedensprozesses und des Wiederaufbaus betont. Und im Hinblick auf die Eindämmung bewaffneter Gewalt war der Friedensprozess auch definitiv eine Erfolgsgeschichte.“ Nur eben eine mit Schönheitsflecken, kritisiert Alex Flor: „Wir beobachten, dass Jakarta Aceh gegenüber mit großer Vorsicht vorgeht. Man hat offenbar Angst, sich hier erneut die Finger zu verbrennen.“

Bei nationalen Wahlen erhalten islamistische Parteien kaum Zulauf

Dabei ist Aceh innerhalb Indonesiens noch immer ein Sonderfall. In der nationalen Politik des mit rund 240 Millionen Einwohnern größten muslimischen Landes der Welt spielt Religion nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch kommen Scharia-ähnliche Gesetzgebungen auf lokaler Ebene auch in anderen Regionen Indonesiens vor, etwa auf Java, Kalimantan oder Sulawesi. „Die Entwicklung in Aceh ist insofern schon auch Teil eines breiteren Trends hin zu einer stärkeren gesellschaftlichen Islamisierung“, konstatiert Alex Flor. Noch sei die Gesetzgebung in diesen Gebieten nicht so extrem wie in Aceh, gebe es keine Prügel- oder sonstigen Körperstrafen. „Nichtsdestotrotz habe ich schon das Gefühl, dass in diesen anderen Regionen Aceh doch auch ein bisschen als Vorbild gesehen wird, nach dem Motto: Wenn wir könnten, würden wir vieles auch so machen wollen.“


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