Vom Arzt verstümmelt

Jungle World, 21. August 2014

 

In Indonesien werden jährlich Millionen von Mädchen genital verstümmelt. In den meisten Fällen führt medizinisches Personal die weibliche Beschneidung durch.

von Antje Missbach

Jungle WorldVerstümmeln gehört eigentlich nicht zu ihren Aufgaben, so möchte man meinen. Doch Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und sonstiges medizinisches Personal beteiligen sich in einigen Ländern an der Beschneidung von Mädchen in Krankenhäusern und Gesundheitszentren, an der sogenannten Medikalisierung von weiblicher Genitalverstümmelung. Anfang August forderte der UN-Menschenrechtsrat die indonesische Regierung erneut auf, medizinischem Personal diese Praxis nicht mehr zu erlauben sowie jede Form von weiblicher Genitalverstümmelung zu verbieten und Zuwiderhandlungen angemessen zu bestrafen. In dem fast 250 Millionen Einwohner zählenden Land werden Schätzungen der Nichtregierungsorganisationen Watch Indonesia!, Terre des Femmes und der indonesischen Frauenorganisation Kalyanamitra zufolge bis zu zwei Millionen weibliche Babys und Kinder pro Jahr beschnitten. Die drei Organisationen hatten eine gemeinsame Kampagne für ein Verbot von weiblicher Genitalverstümmelung in Indonesien ins Leben gerufen und begrüßten den Entschluss des UN-Menschenrechtsrats, allerdings steht ein vollständiges Verbot von FGM (female genital mutilation) in Indonesien noch aus. Die dort verbreiteten Formen der Genitalbeschneidung unterscheiden sich zwar meist von der drastischeren Praxis in vielen afrikanischen Ländern, wo die gesamte Klitoris und auch die kleinen Schamlippen entfernt werden und die Vaginalöffnung teilweise zugenäht wird, dennoch kann jede Form von FGM für die betroffenen Mädchen und Frauen unmittelbare Schmerzen als auch dauerhafte physische und psychische Schäden verursachen und stellt eine Menschenrechtsverletzung dar. Selbst kleine Wunden bergen ein hohes Infektionsrisiko, was zum Tod der Betroffenen führen kann.

Weibliche Beschneidung wird in Indonesien seit Jahrhunderten praktiziert. In der Vergangenheit wurde sie meist von traditionellen Heilern durchgeführt. In einigen Gebieten des aus über 17.000 Inseln bestehenden Archipels ist die Beschneidung ein rein symbolischer Akt, bei dem ein Stück Gelbwurz durchtrennt wird. Andernorts wird die Klitoris angeritzt oder die vorderste Hautpartie, das frenulum clitoris, abgeschnitten. Trotz eines offiziellen Verbots von 2006 bleiben Beschneidungen von Mädchen weiterhin gängig, vor allem in ländlichen Gegenden und bei den ärmeren Bevölkerungsschichten, da beschnittene Frauen als keuscher und schöner gelten als unbeschnittene. Tugendwahn und Aberglauben gehen dabei Hand in Hand.

Legitimiert und sogar gefordert wird die weibliche Beschneidung von islamischen Gelehrten, wenngleich sie vom Koran (anders als für Jungen) nicht vorgeschrieben ist. Indonesien ist ein säkularer Staat, dennoch reicht der Einfluss von religiösen Gruppen weit in die Politik hinein und hat oft Auswirkungen auf die Gesetzgebung. Vertreter des konservativen Rats der Muslimgelehrten (MUI), des höchsten islamischen Gremiums des Landes, stuften weibliche Genitalbeschneidung als »moralisch empfehlenswert« ein und erreichten 2010, dass das bis dahin geltende Beschneidungsverbot indirekt außer Kraft gesetzt wurde. Ein entsprechender Erlass des Gesundheitsministeriums von 2006 wurde in eine Handlungsanleitung für medizinisches Personal gewandelt, wie es Genitalbeschneidungen »korrekt« vorzunehmen habe – anstelle von traditionellen Dorfhebammen oder Heilern. Damit wurden sie zu einer lukrativen Einnahmequelle für Krankenhäuser und Kliniken. Obwohl die Hygienestandards bei Beschneidungen in Krankenhäusern im Vergleich zu Schulen oder Privathäusern als besser gelten, hat die Beschneidung durch medizinisches Personal neben ihrer Legitimierung unter anderem zur Folge, dass nun größere Teile der Klitoris entfernt werden als zuvor bei traditionellen Ritualen.

Nach Angaben von Basilisa Dengen, Geschäftsführerin der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia!, werden etwa 65 Prozent aller Bescheidungen von Mädchen in indonesischen Krankenhäusern vorgenommen. Einige Krankenhäuser bieten sogar spezielle Pakete für neugeborene Mädchen an, die neben Untersuchungen, Impfungen und Ohrlochstechen eben auch Beschneidungen beinhalten. Die Preise liegen hier zwischen umgerechnet 20 und 30 Euro. In einigen größeren Städten halten islamische Organisationen auch Massenbeschneidungen ab und locken die Eltern mit Verpflegungspaketen und Bargeld, wenn sie ihre Töchter beschneiden lassen.

Der Erlass zu Beschneidungen unter medizinischer Aufsicht von 2010 wurde nicht nur von Frauenorganisationen in Indonesien kritisiert, auch der UN-Menschenrechtsrat hatte die indonesische Regierung damals aufgefordert, die Praxis vollständig zu untersagen. Im Dezember 2012 beschloss die UNO, dass neben der teilweisen oder vollständigen Entfernung der weiblichen Genitalien auch sämtliche Verfahren für nichtmedizinische Zwecke, wie das Einstechen, Durchbohren, Einschneiden, Kratzen, Brennen oder Verätzen der Geschlechtsorgane, als Genitalverstümmelung anzusehen seien. Alle Staaten wurden aufgefordert, Genitalbeschneidungen bei Frauen und Mädchen zu verbieten und die Straflosigkeit dafür zu beenden. Daraufhin erließ das indonesische Gesundheitsministerium Anfang 2014 eine neue Regelung, mit der die vorherige von 2010 für ungültig erklärt wurde. Dieser Schritt war nicht zuletzt nötig, um die Gesetzeslage in Einklang mit anderen nationalen Gesetzen, aber auch internationalen Konventionen zu bringen, die Indonesien ratifiziert hat.

Dennoch geht die Praxis weiter und ihre Befürworter argumentieren, dass die Beschneidung nicht so drastisch wie in afrikanischen Ländern ausfalle und die Durchführung durch medizinisches Personal die Gesundheit der Mädchen weniger gefährde. Dass weibliche Beschneidung überhaupt so populär ist und sogar einschneidendere Formen annimmt, liegt an gesellschaftlichen Veränderungen wie der strengeren Auslegung des Islam und der Hinwendung zu konservativeren Vorstellungen von Geschlechterrollen. Fast 90 Prozent der Bevölkerung sind muslimisch. Lange Zeit galt Indonesiens Islam als Paradebeispiel für Pluralismus, religiöse Toleranz und ein friedliches Miteinander mit den nichtmuslimischen religiösen Minderheiten der Christen, Buddhisten und Hindus. Unter den zahlreichen islamischen Organisationen gibts es sowohl konservative als auch modernen und ausgesprochen liberale. Ähnlich wie in anderen mehrheitlich muslimischen Ländern setzte aber auch in Indonesien seit Ende der achtziger Jahre eine stärkere Hinwendung zu konservativen und fundamentalistischen Islamauslegungen ein, insbesondere zum Wahhabismus aus Saudi-Arabien. Auffällig ist beispielsweise, dass sich immer mehr Frauen in Indonesien verschleiern.

In den vergangenen 20 Jahren haben einige Entwicklungen im Verhältnis von Religion und Staat Anlass zur Sorge gegeben. Nicht nur ist die Zahl der religiös motivierten Gewalttaten gegenüber Minderheiten extrem gestiegen, auch kommen die dafür Verantwortlichen mit ausgesprochen geringen Strafen oder gänzlich ungestraft davon. Nachdem die Zentralregierung Ende der neunziger Jahre viele Befugnisse an die regionalen Parlamente abgetreten hatte, wurden in einzelnen Provinzen beispielsweise extrem konservative Kleiderverordnungen erlassen. In der Provinz Aceh gelten Erlasse, die Alkoholkonsum und anderes als unislamisch betrachtetes Verhalten untersagen. Organisationen, die sich in Indonesien gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzen, haben es angesichts dieser Entwicklungen schwer, Verbündete zu finden.


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