Osttimor nach der Wahl
Neues Deutschland, 01. September 2001
Interview mit Monika Schlicher
ND: UNO-Generalsekretär Kofi Annan hat die Abstimmung über die Verfassunggebende Versammlung Osttimors am Donnerstag als vorbildlich bezeichnet. Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?
Es war wie an einem Feiertag. Die Leute hatten sich festlich angezogen. Die Geschäfte hatten zu. Die Fischer sind nicht rausgefahren. Viele Wähler aus den Bergdörfern sind schon in der Nacht aufgebrochen, um die Wahlstation zu erreichen. Geduldig standen sie in der Sonne in langen Schlangen vor dem Wahllokal. Insgesamt lief alles sehr diszipliniert ab – ohne Zwischenfälle, ohne Gewalt. Und diese Erfahrung war wichtig für die Menschen: Wir gehen wählen und es gibt danach keine gewaltsamen Auseinandersetzungen wie beim Unabhängigkeitsvotum vor zwei Jahren. Die Wahlbeteiligung war sehr hoch. Nun ist man gespannt, wie das Wahlergebnis ausfällt und ob es friedlich angenommen wird.
ND: Wie erklären Sie die hohe Wahlbeteiligung?
Den Menschen ist es wichtig, dass sie Weichen für ihre Zukunft stellen konnten. Allerdings geht es im Moment noch wenig um Inhalte, wofür die Parteien stehen oder wie die Verfassung aussehen wird. Es ist in den Augen vieler hier eher eine Wahl, die die vergangenen Kämpfe um die Unabhängigkeit bekräftigen soll.
ND: Die ersten Ergebnisse werden für nächste Woche erwartet. Gibt es dennoch schon Rückschlüsse auf ein mögliches Wahlresultat?
Es gilt als ausgemacht, dass die Fretilin die stärkste Partei sein wird – die Frage ist nur, wie groß deren Mehrheit sein wird. Die Timorer haben die Fretilin als diejenige Organisation gewählt, die ihnen die Unabhängigkeit gebracht hat. Es gibt allerdings in Dili auch Menschen, die befürchten, dass mit einer sehr starken Mehrheit von Fretilin der Pluralismus nicht mehr gewährleistet ist, dass es dann wieder, wie unter indonesischer Herrschaft, in Richtung Entwicklungsdiktatur gehen könnte.
ND: Durften denn die Flüchtlinge in Westtimor ebenfalls wählen?
Es durfte nur wählen, wer in Osttimor registriert worden ist. Auch die Timoresen, die noch im Exil in Australien oder in Portugal leben, hätten hierher kommen müssen, um ihre Stimme abgeben zu können. Die UNO-Übergangsverwaltung UNTAET hat erklärt, die Registrierung sei in diesem Zeitrahmen anders nicht möglich gewesen.
ND: Wie beurteilen Sie nach dem Wahltag die Perspektiven für eine baldige Eigenstaatlichkeit Osttimors?
Positiv. Die UNO hat hier eine tolle Arbeit geleistet und den Timorern ein gutes Startkapital für die Unabhängigkeit verschafft – die wird jetzt nach der Wahl mit der baldigen Annahme einer Verfassung und der Bildung einer Regierung in Etappen Wirklichkeit werden. Wenn man hinter die Kulissen blickt, kann man freilich auch vieles kritisieren, vieles läuft nicht zusammen. Beim Wiederaufbau ist noch viel zu leisten. Die Infrastruktur ist sehr schwach, viele Dörfer kann man nur während der Trockenheit erreichen. Das Erziehungswesen liegt danieder. Die Leute im Hinterland können oft nicht lesen und schreiben, haben auch Angst vor der Zukunft, Angst vor Arbeitslosigkeit. Aber wenn die Timorer verstehen, das Startkapital zu nutzen, dann wird sich die junge Nation auch weiter positiv entwickeln.
Fragen: Jochen Reinert