Osttimor: Befreiungsfront gilt als sicherer Wahlsieger
Neues Deutschland, 30. August 2001
Leiter der UNO-Übergangsverwaltung spricht von verantwortungsbewusstem Wahlkampf
Aus Dili berichtet Monika Schlicher
Bei den heutigen Wahlen für eine Verfassunggebende Versammlung rechnen Beobachter mit einer großen Stimmenmehrheit für die Befreiungsfront Fretilin. Doch es gibt auch nagelneue Parteien, die für Überraschungen sorgen können.
»Viva Fretilin!« Schon seit den frühen Morgenstunden kreuzt lärmend ein Korso aus Mopeds, Bussen und Lkw durch Dili. Am letzten Tag des Wahlkampfes in Osttimor ziehen Tausende von Anhängern der Befreiungsfront durch die Straßen der Hauptstadt. Am späten Nachmittag endet die Demonstration im Stadion, wo die Menschen schon seit Stunden auf der Tribüne geduldig ausharren. Die gesamte Parteiführung ist zugegen. Mit über 10.000 Menschen ist es die größte Kundgebung des gesamten Wahlkampfes. Sie gleicht mehr einem Fest der Freude und Einigkeit, die Menschen sind sichtlich bewegt, als die alte Widerstandshymne angestimmt wird.
Auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Unabhängigkeitsreferendum am 30. August 1999 wählt Osttimor eine Verfassungsgebende Versammlung. 88 Repräsentanten, 75 direkt gewählte Kandidaten und 13 Distriktvertreter, werden innerhalb von 90 Tagen eine Verfassung ausarbeiten. Die von den Vereinten Nationen ausgerichtete Wahl gilt als wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem souveränen Osttimor. Insgesamt 16 Parteien nehmen an der Wahl teil – wobei das Parteienspektrum in den letzten Wochen heftig in Bewegung war. 14 der Parteien haben einen Nationalen Pakt unterzeichnet und sich damit zu Gewaltfreiheit und Toleranz sowie zur Anerkennung des Wahlergebnisses verpflichtet. Die Angst vor gewaltsam ausgetragener Rivalität zwischen den Parteien ist sehr groß unter der Bevölkerung; die Erfahrung mit einem Mehrparteiensystem war bislang von kurzer Dauer und endete 1975 im Bürgerkrieg. Doch die befürchteten Unruhen blieben bislang aus. Der Wahlkampf, so der Leiter der UNO-Übergangsverwaltung UNTAET, Sergio de Mello, wurde sehr verantwortungsbewusst geführt. Es gab nur wenige Fälle von Einschüchterung und Bedrohung. Beobachter halten eine Zweidrittel-Mehrheit der Fretilin für möglich. Mari Alkatiri, Generalsekretär der Fretilin, geht sogar von 85 Prozent der Stimmen aus. »Ohne Fretilin wären wir heute nicht frei. Sie hat uns die Unabhängigkeit gebracht«, so ein Dorfbewohner aus Alas, sieben Stunden von Dili entfernt. »Mit einer Vielzahl an Parteien hätte dies nicht erreicht werden können«. Wie er denken viele. Wie keine andere Partei wird Fretilin im Land mit dem Widerstand gleichgesetzt. Doch wird die Partei in der Lage sein, auf die veränderten, vielfältigen Anforderungen des Aufbaus zu reagieren? Mario Carrasçalão, Vorsitzender der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei (PSD), bezweifelt dies. »Wir leben nicht mehr in den Zeiten des Widerstandes«. Die PSD wurde von Mitgliedern aus der Führungsetage der Fretilin und der Timorischen Demokratischen Union (UDT) gegründet, die in der Revitalisierung der alten Parteien nicht die Zukunft Timors sehen. Die PSD gilt als neue moderate Alternative zur Fretilin. Zur Überraschung jedoch könnte die Demokratische Partei (PD) werden. Die von der studentischen Widerstandsbewegung Renetil erst unlängst gegründete Partei hat rasch an Zulauf aus der jüngeren Generation gewonnen, die sich von den alten Parteien und politischen Eliten aus Inland und Exil weder vertreten noch verstanden wissen.
Engagiert und mit viel persönlichem Einsatz führen die UNO-Volunteers der unabhängigen Wahlkommission im ganzen Land Aufklärungskampagnen durch. Doch das Material der UNO hierzu kam viel zu spät, technische Probleme taten ein übriges. »Uns läuft die Zeit davon«, so Jörg Meier, der in einem entlegenen und nur schwer zugänglichem Bergdorf auf der Südseite der Insel für die Wahlkommission arbeitet. Das einfach gehaltene, bebilderte Anschauungsmaterial gibt es in drei Sprachen: Tetum, Indonesisch und Portugiesisch. Poster und Videos, die über Laptop vorgeführt werden, kommen bei der Bevölkerung gut an. Rückfragen gibt es keine. Die Analphabetenrate im Land, so eine Mitarbeiterin der Organisation Timor Aid, liegt vermutlich deutlich höher als angenommen. Die Zeit für ausführliche Beratungen mit der Dorfbevölkerung fehlt. Das Prozedere der Wahl scheint verstanden, Inhalte und Bedeutung erschließen sich vielen noch nicht. Die Menschen wünschen sich Sicherheit und Frieden. Nur – die Politik wird in Dili gemacht. <>