Der Schlüssel liegt in Jakarta
Neues Deutschland, 24. Dezember 2005
ACEH: Auf Tod und Zerstörung folgte ein viel versprechendes Friedensabkommen
Von Alex Flor, Banda Aceh
Die Motorräder an ein Brückengeländer gelehnt, schauen wir hinaus aufs Meer. Das Wasser ist spiegelglatt. »Die Küste war nie durch Wellenbrecher geschützt. Das erschien nicht nötig. Normalerweise ist die See hier ruhig«, sagt mein einheimischer Begleiter Taufik. Satellitenbilder dieses Ortes von der Situation vor und nach dem Tsunami gingen um die ganze Welt. Etwa die Hälfte des Inselstreifens wurde vom Meer verschlungen.
Wir fahren weiter über eine Schotterpiste, der irgendjemand den Namen »Straße des 26. Dezember« gab. Notdürftig aus Bauschutt aufgeschüttet, überbrückt diese Straße die Meerenge, die der Tsunami zwischen Ulee Lhee und dem Hafen gerissen hat. Ein paar frisch gepflanzte Blümchen im Niemandsland sind ein Hinweis darauf, dass der australische Außenminister drei Tage später für ein paar Minuten hier vorbeischauen wird. Die wiederhergestellten Kaianlagen und die Blümchen, die sicher bald verdorren, wurden von Australien finanziert.
Hier ein Fundament und dort zwei Treppenstufen, die früher in ein Obergeschoss führten. Ein mehrere Kilometer breiter Streifen längs der Küste sieht ein Jahr nach der Katastrophe noch immer aus wie eine Mondlandschaft. Nur vereinzelt sieht man neue Häuser, größtenteils noch unbewohnt. In Zelten, von Hilfsorganisationen geliefert, wohnen Bauarbeiter aus der benachbarten Provinz Nordsumatra. Die meisten Überlebenden haben in Barackenlagern oder bei Verwandten weiter entfernt Zuflucht gefunden.
Mustafas Haus stand direkt neben der Brücke. Er war in der Stadt Fisch verkaufen, als die Welle kam. Seine Frau konnte sich in letzter Minute mit dem Motorrad retten, erzählt sie. Zwei der drei Kinder sind spurlos verschwunden. Das dritte, ein Junge, sitzt verstört in dem provisorischen Café, das die Familie jetzt unweit ihres zerstörten Hauses unterhält. Die Welle hat ihn in wenigen Minuten fast 10 Kilometer fortgetrieben. »Einen so schnellen Transport in die Stadt hatte er noch nie. Und sogar umsonst«, scherzt die Mutter. Alle lachen, nur der Junge nicht. Er trägt riesige Narben an beiden Armen. Australische Ärzte hätten seine schweren Verletzungen operiert, erzählt er wortkarg. Dass hier überhaupt jemand überleben konnte, grenzt an ein Wunder. Etwa 170.000 Menschen verloren in Aceh ihr Leben. Eine halbe Million wurde obdachlos. Nachdem die akute Nothilfe abgeschlossen ist, konzentrieren sich die Hilfsorganisationen auf den Bau dauerhafterer Unterkünfte.
Mustafa weiß nicht, ob er sein Haus wieder aufbauen darf. Der Ende März von der Regierung verabschiedete Masterplan zum Wiederaufbau sah vor, die völlig zerstörte Küstenregion als Pufferzone unbewohnt zu lassen. Kuntoro Mangkusubroto, Chef der Wiederaufbaubehörde, erklärte jedoch kurz darauf, der Plan habe nur empfehlenden Charakter. Vertreter örtlicher Behörden sagten Mustafa, nur Fischer dürften ihre Häuser am Strand wieder aufbauen. Nun rätselt die Familie, ob Fischhändler wohl im Sinne des Gesetzes als Fischer zählen.
Im Zentrum Banda Acehs bietet sich ein anderes Bild. Hier hinterließ der Tsunami eine meterhohe Schicht aus Trümmern, Schlamm und Leichen. Aber die meisten Häuser blieben stehen. Nur vereinzelte Gebäude zeigen Erdbebenschäden, andere sind längst abgerissen. Vom Nobelhotel Kuala Tripa ist nur noch der kleine Swimming Pool erkennbar. Bis zur Hüfte im Wasser stehend, mühen sich zwei Altwarensammler mit Hammer und Eisensäge aus den Trümmerresten ein paar Kilo Moniereisen zu ergattern.
Das Leben hat die Stadt wieder. Hübsche, mit Lampions beleuchtete Straßencafés laden bis spät in die Nacht zum Besuch ein. Als ich das letzte Mal hier war, herrschte ab 21 Uhr Ausgangssperre. Jede Nacht gingen Gebäude in Flammen auf. Täglich starben Menschen bei Schusswechseln zwischen Unabhängigkeitskämpfern und dem Militär.
Im August einigten sich beide Seiten in Helsinki auf ein Friedensabkommen, das in Aceh freudig begrüßt wurde. Der Erfolg des Neuaufbaus hängt davon ab, ob die Menschen nach drei Jahrzehnten Krieg wieder ein normales Leben führen können. »Hilfe beim Bau eines Hauses wäre natürlich gut, aber wichtiger ist, dass ich wieder arbeiten und Geld verdienen kann«, sagt der Bewohner eines Flüchtlingslagers. Wer Geld verdiente, wurde in der Vergangenheit von beiden Konfliktparteien zur Kasse gebeten.
Die Demilitarisierung unter Aufsicht von Beobachtern der EU und der ASEAN läuft bisher reibungslos. »Eine Verlängerung unseres Mandats scheint unnötig«, meint daher Peter Feith, Chef der Beobachtermission AMM. Neben der Demilitarisierung sieht das Friedensabkommen aber auch weitreichende politische Regelungen vor, die eine »Selbstregierung« Acehs im Rahmen des indonesischen Staates ermöglichen sollen. Ein unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen erstellter Gesetzentwurf liegt dem indonesischen Parlament vor. Der Schlüssel für eine bessere Zukunft Acehs liegt nun in Jakarta. »Neue Waffen sind in dieser Region schnell verfügbar«, weiß der deutsche Einsatzleiter der AMM, Wolfram Hoffmann. <>
Der Autor ist Sprecher der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia!