Extremismus in Indonesien:
Die Illusion einer moderaten Alternative
03. April 2018
von Alex Flor
»Wer vom Islamismus nicht reden mag, sollte auch vom Rechtspopulismus schweigen«. Mit diesem Satz endet ein Beitrag des Gastautors Marco Stahlhut in der FAZ vom 17. Februar 2018. Und völlig korrekt schreibt er ein paar Sätze zuvor: »Dabei haben die gegenwärtig dominanten Strömungen in dieser Religion viel mehr Gemeinsamkeiten mit dem deutschen rechten Rand, als irgendeinem tolerant gesinnten Menschen lieb sein kann«. Es wäre interessant gewesen, diesen Gedanken weiter auszuführen, denn es geht hier tatsächlich um einen globalen Trend der Abgrenzung von Anderen, der bei aller berechtigten Kritik an zunehmend rückwärtsgewandten Entwicklungen im Islam, nur wenig mit dieser Religion zu tun hat.
»America first!«, »Italia first!«, »Deutschland den Deutschen!«: selbst in gestandenen Demokratien der westlichen Welt liegen abgrenzende, fremdenfeindliche Slogans im Trend. Und nicht überall ist Fremdenfeindlichkeit auf Muslime beschränkt. Donald Trumps Projekt einer Mauer an der mexikanischen Grenze wendet sich nicht gegen muslimische Zuwanderer. So überrascht es nicht, dass auch in Indonesien Ressentiments gegen alles, was von der dort herkömmlichen Norm abweicht, gerade eine Hochkonjunktur erleben. Und um es vorwegzunehmen: diese Ablehnung scheinbar »fremder« Einflüsse beschränkt sich in Indonesien keineswegs auf das islamische Lager.
Deutschland als Migrationsziel
Kleiner Sprung zurück nach Deutschland: Wer alt genug ist, um sich noch an den grassierenden Ausländerhass im Deutschland der frühen 90er Jahren zu erinnern, wird zahlreiche Parallelen zu den Angriffen auf Flüchtlingsheime und den islamfeindlichen Aufzügen von Pegida und Co. feststellen. Nur dass sich die pogromartigen Übergriffe von Rostock, Hoyerswerda und anderswo damals nicht gegen den Islam, sondern vor allem gegen ehemalige vietnamesische VertragsarbeiterInnen (verächtlich als »Fidschis« benannt) und Flüchtlinge der Jugoslawienkriege (»Kanaken«) richteten. Letztere waren zwar zu größeren Teilen auch Muslime, aber das spielte damals nicht die wesentliche Rolle.
Wie jede größere Flüchtlingskrise überall auf der Welt war der Ansturm von Flüchtlingen aus Jugoslawien ebenso eine Herausforderung wie der jüngste Zustrom von Menschen aus Syrien und anderen Krisenregionen. Überfüllte Turnhallen als Notaufnahmelager, Versorgungsprobleme, überforderte lokale Behörden und Hilfseinrichtungen, Akzeptanzprobleme auf der einen und Integrationsprobleme auf der anderen Seite sind nur einige der realen Probleme, die in ihrer Bedeutung mitnichten kleingeredet werden sollen. Aber, war die mit einem überfüllten schwarz-rot-golden gefärbten Boot geschmückte Titelseite »Ansturm der Armen« eines als sozialliberal eingestuften großen deutschen Nachrichtenmagazins 1991 wirklich notwendig oder gar hilfreich, um diese Probleme zu bewältigen? Durfte man sich darüber wundern, dass der durch dieses Bild nahegelegte Slogan »Das Boot ist voll!« die Lufthoheit über den Stammtischen – und leider nicht nur dort – eroberte?
Wir haben es überlebt. Nicht einmal der rechte Rand des politischen Spektrums thematisiert heute noch VietnamesInnen oder die damals aus dem Balkan Zugewanderten, die nach Ende des Krieges tatsächlich hier geblieben sind. Rund 350.000 Kriegsflüchtlinge kamen damals nach Deutschland. Rund 20.000 davon wurden als Härtefälle eingestuft und blieben dauerhaft bei uns im Land (https://www.br.de/nachrichten/fluechtlinge-rueckblick-kosovo-balkan-100.html). Mehrere Hunderttausend kehrten nach Ende des Konflikts in ihr Heimatland zurück. Hätte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl gesagt: »wir schaffen das!«, kaum ein Mensch würde es ihm posthum übelnehmen. Denn »wir« haben es tatsächlich geschafft! Aber Kohl hat so etwas nie gesagt. Statt sich um humanitäre Probleme zu kümmern, fuhr er lieber mit seinem »Freund« Suharto, dem indonesischen Diktator, zum Angeln.
Natürlich unterschreitet die Zahl der seinerzeit 350.000 Flüchtlinge bei weitem den Zustrom des Jahres 2015 von rund 1,5 Mio. Menschen. Was zeigen uns diese Zahlen? Die einen mögen daraus den Schluss ziehen, dass schon die damalige vergleichsweise geringe Zahl von Flüchtlingen zu erheblichen Problemen führte. Andererseits lässt sich aber auch argumentieren, dass die eher geringen Zahlen von damals bereits zur allgemeinen Panikmache ausreichten. Heute wie damals fühlen sich vorurteilsbehaftete Menschen durch die Medien, einschließlich der »einseitigen« öffentlich-rechtlichen und der übrigen »Lügenpresse«, bestätigt und ermutigt mit gewaltsamen Mitteln gegen MigrantInnen vorzugehen. Die Möglichkeit, dass es sich bei einer tätlich angegriffenen Person gar nicht um eine Flüchtlingsfrau aus Syrien, sondern um die seit Jahren praktizierende Ärztin oder Anwältin von nebenan handeln könnte, wird dabei stillschweigend in kauf genommen.
Die realen Probleme anerkennend, die es mit sich bringt, mal eben ein paar Hunderttausend Menschen in unserer Gesellschaft aufzunehmen, muss die Frage gestellt werden, warum sich eines der reichsten und bestorganisierten Länder der Welt, von dieser Zuwanderung überfordert fühlen sollte? Wer darauf wert legt, stolz auf Deutschland zu sein, sollte darauf stolz sein, dass unser Land in der Welt so angesehen ist, dass es alle hierher zieht. Selbst wenn es unter den MigrantInnen Leute gibt, die nur in unser Sozialsystem einwandern wollen: ist das nicht dennoch ein Beweis für den guten Ruf, den unser Sozialstaat trotz all seiner Mängel weltweit genießt?
Nach dem verlorenen Krieg lag Deutschland 1945 am Boden. Die Gesellschaft bestand zu nicht geringen Teilen aus ausgebombten »Trümmerfrauen« und ihren Kindern. Viele Männer waren an der Front gefallen oder befanden sich in Kriegsgefangenschaft. Industrie und Infrastruktur waren zerstört. Die Wirtschaft war weit unter dem Nullpunkt angekommen, Lebensmittel waren knapp.
Es gilt nichts zu beschönigen. Auch damals gab es Integrationsprobleme. Nicht alle hatten Verständnis dafür, warum vertriebenen »Sudetendeutschen« Wohnraum vermittelt wurde, während die Ausgebombten selbst keinen finden konnten. Und dennoch gelang es Deutschland in den drei damals westlich kontrollierten Sektoren rund zwölf Millionen aus dem Osten vertriebene Flüchtlinge aufzunehmen. Es galt das Wenige mit anderen zu teilen. Da wurden von der am Boden liegenden deutschen Gesellschaft echte Opfer gebracht. Aber heute ist die Turnhalle voll, und im Geräteraum wird eine Gebetsecke eingerichtet …
Wer das Bedürfnis hat, stolz auf Deutschland zu sein, der oder die möge es angesichts der damaligen Integrationskraft der Deutschen gerne sein. Nicht jedoch, ohne sich selbst zu hinterfragen, wie es mit der eigenen Bereitschaft etwas zu teilen beschaffen ist. Ist es nicht geradezu lächerlich, wenn heute über Aufnahmekapazitäten – um den politisch aufgeladenen Begriff der »Obergrenze« zu vermeiden – von rund 200.000 MigrantInnen pro Jahr diskutiert und beschlossen wird? In einem der reichsten Länder der Welt? In einem Land, welches sich am Tiefpunkt seiner Geschichte und seiner wirtschaftlichen Leistung in der Lage zeigte, das sechzigfache dieser Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen und langfristig zu integrieren?
Ach ja, man muss natürlich differenzieren. Diejenigen, die damals hierher kamen, das waren ja keine kulturfremden Menschen. Im Gegenteil: sie sprachen Deutsch und sie waren ebenso vom Nazisystem sozialisiert wie die Einheimischen. Sie waren gut integrierbar. Den Koran hatten sie nicht im Fluchtgepäck.
Von Indonesien in die Welt
Völlig zurecht verweist Marco Stahlhut auf den »Siegeszug des Islamismus im Islam«. Und ebenso richtig verweist er auf die beängstigenden Entwicklungen in Indonesien, dem Staat mit der zahlenmäßig größten muslimischen Bevölkerung weltweit. Selbstverständlich sollten Regierungen in aller Welt (nicht nur im Westen, Herr Stahlhut!) dieser Problematik mehr Aufmerksamkeit widmen und sich vom Wunschdenken eines »moderaten« und toleranten Islam, für den Indonesien noch immer als Vorzeigebeispiel gilt, lösen. Die möglichen Folgen einer zunehmend rückwärtsgewandten Entwicklung des Islam in Indonesien müssen zweifelsohne in den düstersten Farben gezeichnet werden: welche inneren Konflikte drohen in dem Vielvölkerstaat aufzubrechen, sollte die Islamisierung eines Tages die zahlenmäßig starken Minderheiten von Christen, Hindus und ethnischen Chinesen ernsthaft bedrohen? Schon heute gibt es vielerorts Angriffe auf Kirchen oder buddhistische Tempel. Üblicherweise jedoch dort, wo die entsprechenden Religionsgemeinschaften eine kleine Minderheit darstellen. Dort, wo sie »fremd« sind – da haben wir wieder dieses Wort. Aber was wird passieren, wenn sich Christen in ihren Kerngebieten wie Nordsumatra, Nordsulawesi oder Flores bedroht fühlen? Die blutigen Konflikte auf den Molukken um die Jahrtausendwende mit Tausenden von Toten mögen hierfür nur einen Vorgeschmack geliefert haben.
Man mag sich lieber nicht ausmalen, welche globalen Auswirkungen es auf den Islam hätte, wenn sich größere Teile Indonesiens in Richtung der Provinz Aceh entwickelten, wo bereits eine harte Form der Scharia praktiziert wird. Stahlhuts Warnungen sind berechtigt. Muss man deshalb jedoch auf eine generelle Unvereinbarkeit des Islam mit der Demokratie schließen, wie er es nahe legt? Fürchtet nicht gerade er selbst um den Fortbestand eines Staatswesens, welches seit 20 Jahren mit der Demokratie zumindest experimentiert? »Indonesien [ist] eines der wenigen muslimisch geprägten Länder mit einer halbwegs funktionierenden Demokratie«, schrieb er am 25. April 2017 ebenfalls in der FAZ.
Vereinbarkeit von Islamophobie, Demokratie und Vorurteilen
Es gibt kein wahrhaft demokratisches Land auf der Welt. Es gibt nur Staaten, die mehr oder weniger demokratische Defizite aufweisen, und autokratische Systeme. Indonesien gehört zur Gruppe der Staaten mit mehr demokratischen Defiziten.
Wenn Indonesien fällt, gibt es »kein moderates mehrheitlich muslimisches Land von Bedeutung« mehr, schreibt Stahlhut. Stimmt. Weder halbwegs »moderate« Staaten wie Albanien, Bosnien, noch der Kosovo, der Senegal oder andere westafrikanischen Staaten gelten bislang als Vorzeigebeispiele liberaler Demokratien westlichen Musters. Und wenn sie es denn wären, würden sie daran scheitern das darauf gesetzte Kriterium zu erfüllen »von Bedeutung« zu sein. Aber liegen die Probleme dieser genannten Länder tatsächlich im Islam begründet?
Mit gleichem Recht ließe sich sagen, dass auf dem gesamten afrikanischen Kontinent autokratische und korrupte Regierungen vorherrschen, deren Gesellschaften an Homophobie kaum zu übertreffen sind. Sind Afrikaner – oder gar schwarze Menschen insgesamt – daher grundsätzlich nicht mit demokratischen Werten kompatibel? Wer solche Ansichten öffentlich äußern würde, müsste sich zurecht dem Vorwurf des Rassismus stellen.
Und wie »moderat« und demokratisch sind die meisten Staaten und Gesellschaften Osteuropas? Zeigt die orthodoxe Kirche größeres Verständnis für die Rolle von Frauen als der Islam? Werden Begriffe wie Stolz und Ehre in Ländern des Balkans weniger in patriarchalischer Weise verstanden als in den mehrheitlich muslimischen Ländern weiter südlich? Würde man sich als Schwuler wünschen lieber in Russland zu leben, anstatt in Indonesien? Und welch lange Tradition von Aufklärung und Humanismus trennt uns eigentlich von Zeiten, als Homosexualität auch in Deutschland noch ein Straftatbestand war? Ein paar wenige Jahre Fortschritt sind keine Rechtfertigung für Überheblichkeit oder gar Ausgrenzung.
Es geht nicht um eine allzu liberale, die Probleme unter den Teppich kehrende oder gar naive Sicht von Gutmenschen auf den Islam. Aber warum reden wir trotz aller Ähnlichkeiten von Bewegungen in aller Welt, die sich gegen alles »Fremde« und »Andere« wenden, am Ende doch nur wieder über den Islam?
Wie kommt es, dass einstige Aufreger wie Trickdiebe von Roma und Sinti, polnische Autodiebe, die Russenmafia oder vietnamesische Zigarettenschmuggler in der Aufmerksamkeit so weit zurückgefallen sind? Problem erledigt? Wohl kaum. Vor wenigen Tagen wurden in Großbritannien zwei aus Russland stammende Menschen mit einer seltenen Chemikalie vergiftet …
Bei aller berechtigten Sorge ist es der Problematik nicht dienlich die Regeln der Objektivität zu verlassen, die man von einem Journalisten zu erwarten hätte. So lesen wir in Stahlhuts Beitrag in der FAZ vom 17. Februar 2018: »Die erste islamistische Partei, PAN, fordert bereits die Todesstrafe für [Homosexuelle]«. Es sei dahin gestellt, ob PAN (Partai Amanat Nasional, Partei des nationalen Mandats) es verdient, als »islamistisch« bezeichnet zu werden. Die Forderung nach der Todesstrafe für LGBT-Personen jedenfalls wurde – schlimm genug! – von einem einzelnen Parteimitglied aus der erzkonservativen Provinz Aceh gestellt. Es ist bislang nicht überliefert, dass sich seine Partei mehrheitlich hinter diesem Vorschlag versammelt hätte.
Weit über das Ziel hinausgeschossen war auch der bereits zitierte Beitrag desselben Autors im April letzten Jahres. Schon der Titel, unter dem dieser Beitrag im Internet zu finden war, zeugt von schlechtem Stil: »„SZ“ und „taz“ wissen, wer „gemäßigter Muslim“ ist« (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/sz-und-taz-wissen-wer-gemaessigter-muslim-ist-14985932.html). Der herablassende Ton, mit dem hier über zwei erfahrene Kollegen gesprochen wurde, die für andere Zeitungen im Asien-Ressort schreiben, ist einem angesehenen Blatt wie der FAZ nicht würdig, zumal einer der beiden Beiträge von einem völlig anderen Thema handelte und der »gemäßigte« Muslim dort nur in einem unwesentlichen Nebensatz genannt wurde. Islam ist eine Religion wie jede andere und als solche zu akzeptieren. Islamismus dagegen ist die Erhebung dieser Religion zu einer politischen Ideologie, die anderen – im Extremfall sogar unter Anwendung von Gewalt – ihre Normen aufzwingen möchte. Anies Baswedan, der Politiker, um den es sich hier handelte, in die Nähe des Islamismus zu rücken ist absurd. Erst als seine Kandidatur für das Amt des Gouverneurs der Hauptstadt Jakarta schon bekannt war, begab er sich zum ersten Mal auf eine Pilgerreise nach Mekka, wie sie von frommen Muslimen erwartet wird. Reichlich spät für einen »Islamisten«.
Über den Wahlkampf in Jakarta 2016/17 berichtete Marco Stahlhut in mehreren gut recherchierten Beiträgen ebenfalls in der FAZ. Der zur Wiederwahl kandidierende Amtsinhaber Basuki Tjahaja Purnama, genannt »Ahok«, ein ethnischer Chinese und Christ wurde von einer systematisch geplanten Massenkampagne islamistischer Kreise in verleumderischer Weise demontiert und endete letztlich sogar im Gefängnis. Man warf ihm vor, Koranzitate in einer Weise zitiert zu haben, die zu religiösen Spannungen beitragen könne. Sein Gegenkandidat Anies Baswedan profitierte von dieser Schmutzkampagne. Er gewann die Wahlen. Es war ein schmutziger Sieg.
Die geschmähten Kollegen von SZ und taz lagen dennoch völlig richtig, Anies Baswedan als gemäßigten Muslim zu bezeichnen. Ihm mag man vorwerfen können ein prinzipienloser, machtgeiler Opportunist zu sein, der zur Erfüllung seiner Ziele selbst mit dem Teufel paktieren würde. Mögen andere darüber entscheiden, ob dieser Vorwurf weniger schwer wiegt als die Unterstellung des Islamismus. Vertretern der ihn im Wahlkampf unterstützenden islamistischen Gruppen bereitete er kürzlich einen recht unterkühlten Empfang. Seither werden Stimmen aus diesem Lager laut, die beklagen, man sei wohl einzig aus machtpolitischen Gründen benutzt worden. Manchmal scheinen sogar radikale Islamisten zu treffenden politischen Analysen fähig zu sein.
Alternative für Indonesien
Der Appell, die Probleme beim Namen zu nennen, anstatt sich hinter »liberalem« Wunschdenken zu verstecken, verdient Unterstützung. Aber dem Islamismus Einhalt gebieten zu wollen ist ein Ding. Ein anderes Ding ist es, Alternativen aufzeigen zu können, Die abstoßenden, auf Hass und Abgrenzung basierenden Rezepte der Alternative für Deutschland sind hinreichend bekannt. In Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, in denen der Islamismus tatsächlich die Gesellschaftsordnung bedroht, gibt es dagegen nur ein klassisches Muster, welches sich beim besten Willen nicht mehr hinter scheinbar demokratischen Fassaden verstecken kann. Dieses Muster, das beispielsweise aus Algerien, der Türkei oder Ägypten bekannt ist, besteht ganz simpel aus einer Dichotomie aus Islamismus versus Militärherrschaft.
Auf wessen Seite stehen wir, wenn wie in Ägypten die uns vielleicht unsympathische Partei der Muslimbrüderschaft bei Wahlen die Mehrheit gewinnt? Und welche Sympathie zeigen wir anschließend dem halbwegs säkularen Regime eines Militärdiktators, der die gewählte Regierung weggeputscht hat und nun mit harter Hand Gefängnis- oder gar Todesstrafen über die ehemaligen Regierungsmitglieder und die Anhänger der Wahlsieger von damals verhängen lässt? Sind Militärherrschaft und Demokratie besser miteinander vereinbar als Islam(ismus) und Demokratie? Stärkt es das Vertrauen islamischer oder gar islamistischer Parteien in die Demokratie, wenn ein Militärregime ihnen den nach demokratischen Regeln errungenen Wahlsieg nach kurzer Zeit durch einen Putsch wieder wegnimmt und die gewählten Vertreter ins Gefängnis steckt? Oder dienen solcherlei Interventionen nicht eher der weiteren Radikalisierung dieses Lagers, welches sich von der Demokratie betrogen fühlt? Je härter die Maßnahmen, desto sicherer dürfen sich gewisse Protagonisten in ihrer Opferrolle inszenieren.
Welcher Seite würden wir uns als aufgeklärte BürgerInnen und gute DemokratInnen zuwenden, wenn es nur die Wahl zwischen islamischer Regierung und einem säkularen Militärregime gäbe? Für welche Seite entscheiden sich in solch einer Konstellation die WählerInnen, die es gewohnt sind, dem »kleineren Übel« ihre Stimme zu geben? Solche Fragen könnten recht bald für Millionen von Wählerinnen und Wählern in Indonesien relevant werden.
Indonesientypisch liegt die Antwort vielleicht, ohne deshalb Klarheit zu verschaffen, irgendwo in der Mitte. Es waren die großen, sogenannten »säkularen« Parteien, die bislang die meisten an der Scharia orientierten Regelungen und Gesetze in den Provinzen und Kommunen initiierten und verabschiedeten. Es sind dieselben Parteien, die sich jederzeit für militärische Maßnahmen zur Erhaltung der territorialen Einheit der Republik stark machen werden. Die vergleichsweise kleinen islamischen Parteien werden diesem Modell folgen. In Indonesien geht es nicht um die Frage der Vereinbarkeit des Islam mit der Demokratie, sondern vielmehr um die Frage der Vereinbarkeit des Islam mit dem nationalistischen Konzept des Einheitsstaates Indonesien.
Entsprechend des kulturell verankerten Strebens nach Harmonie werden sich die sogenannten »säkularen« und die islamischen Parteien und Bewegungen auf einen gemeinsamen Kompromiss einigen: die friedliche Koexistenz von staatlichem Autoritarismus und Islamismus. Warum wählen, wenn man beides haben kann?
Wer zu Fremdenfeindlichkeit in Deutschland schweigt, sollte auch nicht über Indonesien reden. Und wer von militärischer Unterdrückung nicht reden mag, sollte auch vom Islamismus schweigen.
FAZ, 17. Februar 2018
Extremismus in Indonesien: Die Illusion eines moderaten Islams
von Marco Stahlhut, Jakarta
Indonesien debattiert über die Todesstrafe für Homosexuelle; vorehelicher Sex soll strafbar werden – das hat Folgen weit über das Land hinaus.
Indonesien plant, jegliche außerehelichen sexuellen Beziehungen zu kriminalisieren. Im Visier der Ultrakonservativen stehen insbesondere Homosexuelle. Die erste islamistische Partei, PAN, fordert bereits die Todesstrafe für sie. So weit wollen die anderen Parlamentsfraktionen noch nicht gehen. Aber wenn das Muster der vergangenen Jahre bestehen bleibt, nach dem die Islamisten einen politischen Vorstoß machen, der zunächst undenkbar erscheint, bis sie ihn dann nicht sehr viel später durchsetzen, wird auch das kommen.
Bereits in diesem Jahr jedenfalls, womöglich schon in den nächsten Wochen, soll das „Verbrechen“, einen anderen Menschen des gleichen Geschlechts zu lieben, mit mehrjähriger Haft bestraft werden. Stoppen könnte das Gesetz nur noch der indonesische Präsident, worauf bisher nichts hindeutet. So triumphieren die Islamisten abermals, nachdem es ihnen im vergangenem Jahr bereits gelungen war, den bekanntesten christlichen Politiker des Landes, den Ex-Gouverneur der Hauptstadt Jakarta, für zwei Jahre hinter Gitter zu bringen – wegen „Beleidigung des Korans“.
Die Entwicklungen in Indonesien haben Implikationen weit über das Land hinaus. Denn Indonesien ist nicht irgendein beliebiger Staat. Indonesien wurde von westlichen Politikern und Experten noch bis vor kurzem als Paradebeispiel für einen moderaten Islam hochgehalten, ja als Vorbild für eine Vereinbarkeit von Islam und Demokratie. Dabei sind die neuesten Entwicklungen zwar schockierend, aber nicht überraschend. Sie haben sich seit Jahren abgezeichnet. Wer das nicht wahrhaben wollte, war der Westen.
Für alle tolerant gesinnten Menschen, denen an der liberalen Demokratie etwas liegt, sollten die Entwicklungen im größten muslimischen Land der Erde ein Warnruf sein. Denn Indonesien ist kein Einzelfall, sondern nur ein besonders dramatisches Beispiel für den Siegeszug des Islamismus im Islam. Wenn von der deutschen Regierung nichts Entscheidendes getan wird, dürften die in Deutschland lebenden Muslime von diesem allgemeinen Trend beeinflusst werden. So gut wie alle Imame, religiösen Unterweisungstexte, und das meiste Geld für Moscheen und Religionsschulen sowieso, kommen ja nicht aus Deutschland selbst, sondern aus der islamischen Welt.
Nach dem Wandel Indonesiens gibt es kein moderates mehrheitlich muslimisches Land von Bedeutung mehr. Kann jemand auch nur ein islamisches Land der Gegenwart nennen, in dem Juden und Homosexuelle nicht verteufelt werden – und zunehmend auch Christen? Ein solches Land, in dem eine Mehrheit der Machthaber oder der Bevölkerung auch nur verbal die Gleichberechtigung von Frau und Mann unterstützte? Ein solches Land, das in den letzten Jahren fortschrittlicher geworden wäre statt rückschrittlicher? Oder eines, in dem nicht nur formal Demokratie herrschte, sondern auch ein Rechtsstaat, der verhinderte, dass sie nicht zur Mobherrschaft gegenüber religiösen Minderheiten verkommt?
Auch andere „moderate“ Länder sind nicht moderat
Die Türkei – in der bereits seit Bestehen der Republik keine einzige Kirche gebaut werden durfte – ist nun so weit gekippt, dass im Biologieunterricht das Lehren der Evolutionstheorie gestrichen wurde. Säkulare Bildungseinrichtungen werden in Ausbildungsorte für Prediger verwandelt. In den massenhaft ausgeweiteten türkischen Imam-Hatip-Schulen werden bereits Jugendliche religiös indoktriniert. Die staatliche Religionsbehörde Ditib hetzt gegen das Begehen nach christlichen Feiertagen wie etwa Weihnachten. Das ist die Religionsbehörde, der auch die türkischen Imame in Deutschland folgen.
Ein anderer Kandidat für ein „moderat muslimisches“ Land soll Tunesien sein: ein Land, in dem ebenfalls Islamisten an der Regierung beteiligt sind. Ein Land, aus dem proportional besonders viele Menschen zum „Islamischen Staat“ gegangen sind. Ein Land, in dem Homosexuelle schon jetzt im Gefängnis sitzen. Ein Land schließlich, in dem Frauen rechtlich so massiv benachteiligt werden, dass sie nur die Hälfte des Anteils ihrer männlichen Geschwister erben – im Einklang mit dem Rest der muslimischen Welt. Aber eine bloße Ankündigung des tunesischen Präsidenten im letzten Jahr, zumindest Letzteres ändern zu wollen – eine Änderung, für die er politisch keine Mehrheit besitzt, und von der man seitdem nichts mehr gehört hat –, reichte, um Tunesien in westlichen Medien als Beleg für einen moderaten Islam zu bezeichnen.
Statt das Spiel weiterzuspielen, muslimische Länder als „moderat“ zu bezeichnen, die tatsächlich nur weniger menschenfeindlich als Iran und Saudi-Arabien sind, ist es an der Zeit, der Realität ins Auge zu sehen. Nach Jahrzehnten ungehinderter Geld- und Ideologieströme aus den ebenso reichen wie reaktionären arabischen Golf-Staaten wird der Islam nun weltweit von Auslegungen dominiert, die auf andere Religionen verächtlich herabsehen, Frauen als Wesen zweiter Klasse betrachten und gegenüber Juden und Homosexuellen eine Haltung einnehmen, die von ausgesprochen intolerant bis eliminatorisch reicht. Wer das nach der Entwicklung in Indonesien und der Türkei immer noch nicht wahrhaben möchte, der muss Gründe dafür haben, die Augen zu verschließen.
Es gibt auch moderate Tendenzen des Islam
Gewiss, Saudi-Arabien, der Hauptsponsor des Extremismus, hat gesellschaftliche Liberalisierungsmaßnahmen eingeleitet, die für dortige Verhältnisse erstaunlich sind. Noch deutet aber nichts daraufhin, dass Saudi-Arabien auch den weltweiten Export von Wahhabismus und Salafismus eingestellt hätte; also eben der reaktionären Islaminterpretationen, deren Zusammenhang mit wachsender Intoleranz und Gewalt hinreichend belegt ist. Warum ausgerechnet der höchst machtbewusste saudische Kronprinz auf die Erlangung ideologischer Dominanz im Islam künftig verzichten sollte, hat bisher noch kein Experte überzeugend erläutert.
Dass es im Islam auch andere Tendenzen gibt, dass es individuelle Muslime und Aktivisten gibt, die fortschrittlicher denken, ist richtig. Aber Individuen und Strömungen, die mit den jeweils dominierenden nicht d’accord gehen, gibt es überall in der Welt außerhalb Nordkoreas – und womöglich sogar dort. Man muss aber auch sagen, wie viele Anhänger sie haben und wie einflussreich sie sind. Die Wahrheit ist, dass es sich überall in der gegenwärtigen muslimischen Welt um marginale Größen handelt.
Natürlich bedeutet das nicht, dass wir in Deutschland vor jedem Muslim Angst haben müssen, denn für längst nicht alle Muslime steht ihre religiöse Identität im Vordergrund. Es gibt kulturelle, säkulare und Ex-Muslime. Es gibt Muslime, die an ihren Gott glauben, aber nicht jedes Wort der Freitagspredigt als Handlungsanweisung verstehen. Es gibt hoffentlich auch Imame, die wirklich Integration und nicht Abgrenzung predigen. Man kann das alles nicht oft genug sagen.
Über Islamismus und Rechtspopulismus reden
Aber das alles sind Muslime, die in der islamischen Welt angefeindet werden und auch in Deutschland kaum Unterstützung erhalten. Weder vom Staat noch von vielen ihrem Selbstverständnis nach tolerant Eingestellten im Land, die lieber Ultrakonservative und Islamisten hofieren. Wer das für Polemik hält, erkläre bitte, wie es sein kann, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin nicht ein-, sondern gleich zweimal das Gedächtnis an den islamistischen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 ausgerechnet zusammen mit Muslimen beging, deren Einrichtungen vom Verfassungsschutz wegen Verdachts auf Islamismusnähe beobachtet werden. Oder wie es sein kann, dass an der Humboldt-Universität in Berlin im Beirat eines neu einzurichtenden Islam-Instituts nur Vertreter konservativer und ultrakonservativer Gruppen sitzen und kein einziger liberaler oder gar kritischer Muslim.
1,4 Millionen Zuwanderer sind seit 2015 nach Deutschland gekommen, davon geschätzt achtzig Prozent Muslime, überproportional junge Männer. Die sich abzeichnende große Koalition rechnet laut den Sondierungsgesprächen mit einem weiteren Zuzug von jährlich um die 200.000 Migranten. Bisher kannte Deutschland vor allem muslimische Einwanderer aus der Türkei, die bis zum Erdogan-Regime zumindest oberflächlich ein säkular geprägter Staat war. Und selbst bei ihnen hat sich die dritte und vierte Generation, dem internationalen Trend folgend, zunehmend islamisiert. Die neuen Zuwanderer kommen aber meist aus Staaten, deren religiöser Konservativismus den Heimatländern der Minderheiten in Frankreich und Großbritannien in nichts nachsteht. In beiden Einwandererstaaten wird wie bei uns an der Fiktion festgehalten, der gegenwärtige Islam wäre eine Religion wie jede andere. In England und Frankreich gibt es bereits islamistische Enklaven, in denen für Frauen, Minderheiten und moderate Muslime die westliche Rechtsordnung faktisch nicht mehr gilt.
Die Entwicklungen im globalen Islam gehen so deutlich in Richtung eines Siegeszugs des Islamismus, dass für das Verschweigen dieser Tatsache durch sich als liberal verstehende westliche Eliten kaum eine Erklärung übrig bleibt als klassisches Lagerdenken: Man fürchtet, der „Rechten“ zu nutzen, wenn man den Islam kritisiert. Dabei haben die gegenwärtig dominanten Strömungen in dieser Religion viel mehr Gemeinsamkeiten mit dem deutschen rechten Rand, als irgendeinem tolerant gesinnten Menschen lieb sein kann. Wohin die Entwicklung in Indonesien geht, war seit Jahren hinreichend deutlich. Für den Rest der muslimischen Welt ist das nicht anders. Alle Informationen dazu liegen bereits seit langem vor. Wer aber vom Islamismus nicht reden mag, sollte auch vom Rechtspopulismus schweigen.