Zehntausende auf der Flucht vor dem Terror der Milizen
Süddeutsche Zeitung, 07. September 1999
Lage in Osttimor außer Kontrolle
UN-Mitarbeiter verlassen die indonesische Provinz/USA schließen Stationierung einer Friedenstruppe nicht aus. Nach der Gewalt-Eskalation in Osttimor haben inzwischen so gut wie alle Journalisten die Region verlassen. Da sich verbleibende Beobachter nicht mehr auf die Straße wagen, lässt sich kaum mehr ein Bild von der Lage machen.
Von Andreas Bänziger
Singapur – Angesichts der eskalierenden Gewalt in Osttimor auch gegen Journalisten und internationale Organisationen sind am Montag ausländische Niederlassungen und Vertretungen in der indonesischen Provinz evakuiert worden. Die Vereinten Nationen flogen einen Teil ihres Personals aus. Die australische Luftwaffe brachte die UN-Vertreter, die noch auf dem Weg zum Flughafen beschossen wurden, nach Australien. Ian Martin, der Chef der UN-Mission, blieb mit etwa 400 Mitarbeitern im Hauptquartier in der Hauptstadt Dili, das von pro-indonesischen Milizen belagert wurde. Inzwischen schloss die Regierung in Washington die Stationierung einer internationalen Friedenstruppe nicht aus, falls die Gewalt nicht beendet werde.
Auch die acht Bundesbürger, die sich bis zuletzt als Beobachter in der Hauptstadt Dili aufhielten, brachten sich in Sicherheit. Wie die Sprecherin der Organisation Watch Indonesia, Monika Schlicher, sagte, trafen sie am Montag in Darwin in Australien ein. Ein weiterer Beobachter sitze in Bacau fest. Von dort sei der Weg zum Flughafen in Dili noch zu gefährlich. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) musste am Montag seine Niederlassung in Dili mit elf Mitarbeitern evakuieren. Die Milizen hatten das Grundstück des IKRK angegriffen und das Gebäude in Brand gesetzt. Das IKRK ist in vielen Konflikten die Organisation gewesen, die in extrem gefährlichen Situationen am längsten ausgeharrt hat. Auf dem Gelände der IKRK-Vertretung befanden sich rund 2.000 Flüchtlinge, deren Verbleib nach Aussagen einer IKRK-Sprecherin unbekannt ist.
Mehrere tausend Menschen, die auf dem benachbarten Grundstück des Bischofs und Friedensnobelpreisträgers Carlos Belo, Zuflucht gefunden hatten, wurden von den Milizen gezwungen, das Gelände zu verlassen. Belo war stets für eine friedliche Lösung für das ehemals portugiesische, 1975 von Indonesien gewaltsam annektierte Territorium eingetreten. Sein Haus stand am Montagabend in Flammen.
Eine unbekannte Zahl von Osttimoresen, vermutlich Befürworter der Unabhängigkeit, wurden auf Lastwagen nach Westtimor verschleppt. Zehntausende von Menschen sind auf der Flucht. Wieviele Menschen umgebracht wurden, lässt sich nicht abschätzen. Nachdem fast sämtliche Journalisten die Region verlassen haben und verbleibende Beobachter sich nicht mehr auf die Straße wagen, lässt sich kaum mehr ein Bild von der Lage machen. Augenzeugen berichteten von Hunderten von Köpfen, die am Straßenrand aufgespießt waren.
Nach einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats entsandten die UN eine Krisenmission nach Jakarta, um mit der indonesischen Regierung über einen friedlichen Übergang zu einem unabhängigen Osttimor zu beraten. Der indonesische Polizeipräsident Rusmanhadi erklärte, die Lage sei außer Kontrolle. Nach seinen Angaben sollten noch am Montag bis zu 1.200 weitere Soldaten in die Region geschickt werden.
Die ehemalige Kolonialmacht Portugal forderte ein entschiedenes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft, die dem Morden ein Ende setzen könnte. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, schloss militärische und wirtschaftliche Konsequenzen nicht mehr aus. Wenn die indonesische Regierung das Unabhängigkeitsvotum nicht anerkenne, dann werde sich das auf die bilateralen Beziehungen auswirken. Die US-Außenministerin Madeleine Albright hält eine internationale Intervention in Ost-Timor für möglich, falls Indonesien die Welle der Gewalt auf der Inselhälfte nicht stoppt.
Beobachter fürchten um das Leben des osttimoresischen Freiheitshelden Xanana Gusmão. Dieser soll am Mittwoch aus dem Hausarrest in Jakarta entlassen, nach Dili geflogen und den völlig wehrlosen UN überstellt werden. Dies könnte einem Todesurteil gleich kommen. Die Situation in Osttimor spitzte sich zu, nachdem die UN am Samstag das Resultat der Volksabstimmung über die Zukunft Osttimors bekanntgaben, dem gemäß 78,5 Prozent der Osttimoresen die Unabhängigkeit von Indonesien wollen. <>