Wie ein großer Fluss, der droht, in seinen eigenen Strudeln zu versinken

Frankfurter Rundschau, 05. September 2000

Vor einem Jahr stimmte Osttimor für eine Loslösung von Indonesien – und übt noch den Umgang mit der Unabhängigkeit

Von Jörg Meier

frankfurter_rundschau Abends um halb zehn in Dili. Es ist mal wieder dunkel in Becora. Hier, in einem östlichen Stadtviertel der osttimoresischen Hauptstadt, ist regelmäßige Stromversorgung noch keine Selbstverständlichkeit. Einige Stunden der Nacht verbringt man bei Kerzenlicht.

Vor einem Jahr wurde bekannt gegeben, dass die überwältigende Mehrheit der Osttimoresen für eine Loslösung von Indonesien votiert hatte. Zwölf Monate nach den traumatischen Ereignissen tut sich eine neokolonial anmutende UN-Administration (Untaet) schwer damit, das Land selbstständig werden zu lassen. Das indonesische Militär und pro-indonesische Milizen hinterließen die Inselhälfte nach einem Rachefeldzug in Schutt und Asche – die Stunde Null für Osttimor. Nun, so UN-Verwaltungschef Siergio de Mello, ist es wichtig, die Osttimoresen nach 400 Jahren politischer Verneinung durch Portugal und 24 Jahren indonesischer Unterdrückung in einen Prozess einzubinden, der das Land auf seine Unabhängigkeit vorbereitet.

Im Juli stand der nationale Jugendkongress Osttimors unter dem Motto, die Ströme des Widerstandes zu einem großen Fluss zusammenfließen zu lassen. Auch auf dem ersten nationalen Kongress der Dachorganisation des nationalen Widerstandes (CNRT), in dem Ende August über die politische Zukunft Osttimors debattiert wurde, waren Nationale Einheit, Versöhnung und Wiederaufbau allgegenwärtige Schlagworte. Wie jedoch soll sich eine Nation bilden, die ihre Identität noch finden muss, und welche Architekten der nationalen Einheit wollen verhindern, dass der große Fluss in seinen eigenen Strudeln versinkt ?

Leandro Isaac, der Vorsitzende des Kongresses, nennt den CNRT einen Zug in Richtung Selbstbestimmung. Wer verpasst, auf diesen Zug aufzuspringen, wird die Konsequenzen tragen müssen. Diese Metapher erinnert bedenklich an die totalitäre Herrschaft der ehemaligen Regierungspartei Suhartos in Indonesien, Golkar. Doch Osttimor will keinen Totalitarismus, sondern ein demokratisches Mehrparteiensystem. Hand in Hand mit der UN soll der CNRT den Weg für die ersten Parlamentswahlen Ende kommenden Jahres bereiten.

Symptomatisch für die Schwierigkeiten des Nation-Building-Prozesses waren die Sprachprobleme auf dem Nationalkongress. Portugiesisch ist nun offizielle Lingua Franca. Abgesehen von der Überseediaspora der Osttimoresen, die zusammen mit lokalen Politgrößen die Denkfabrik des CNRT bilden, beherrschen allerdings weniger als zehn Prozent der etwa 800.000 Osttimoresen die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht. Die 460 Delegierten des Kongresses mühten sich, den akademischen Reden ihrer großen Brüder, in denen zukünftige Modelle der Staatsdiplomatie, des Rechtssystems und der Konstitution erörtert wurden, zu folgen.

Das Verlangen nach Führung

Die Mehrheit der Volksvertreter durchschaute auch das geschickte Kalkül nicht, das die CNRT-Spitze anwandte: Um denjenigen, die sie der Vetternwirtschaft, Manipulation und Korruption anklagten, den Wind aus den Segeln zu nehmen, verkündete das Führungstrio Xanana Gusmão, José Ramos-Horta und Mario Vierras Carrascalão geschlossen seinen Rücktritt. Angeblich, um einer jüngeren Generation das Feld zu überlassen.

Wie jedoch vorherzusehen war, stellte sich die Mehrzahl der Abgeordneten hinter seine charismatischen Führer. Am Schlusstag des Kongresses, in dem bis in die frühen Morgenstunden debattiert wurde, demonstrierten sie mit der emotionsgeladenen Wiederwahl des Trios, dass das von den indonesischen Besetzern entpolitisierte Volk nicht nach politischer Transparenz, sondern greifbaren Führer verlangt.

Kurz nach dem Einmarsch internationaler Friedenstruppen im September vergangenen Jahres war die Hauptstadt eine Geisterstadt auf verbrannter Erde. Heute sind ihre Straßen Schauplatz eines Wirrwarrs: Ob für US Dollar (offizielle Währung), australisches Geld oder indonesische Rupiahs – fast alles ist wieder zu haben. Von Australiern eröffnete Supermärkte konkurrieren mit einer Vielzahl von chinesischen Händlern und Straßenverkäufern, die vor allem die Produkte einheimischer Landwirte anbieten.

Dort, wo einstmals das Hauptquartier der notorischen Aitarak-Milizen von Dili war, werden heute Dosenbier und Longdrinks in der Sundowner Bar ausgeschenkt. Die wenigen Osttimoresen, die in Bars wie dieser verkehren, sind die Kinder der Flüchtlinge von 1975. Meist in Portugal und Australien aufgewachsen und ausgebildet, versuchen sie sich nun als Architekten beim Wiederaufbau ihres Herkunftslandes, dessen ökonomische Grundpfeiler das Öl in der Timorsee sowie die Intensivierung von Kaffeeanbau und Fischerei werden sollen.

Eine Kluft zwischen diesen Wiedergekehrten und denen, die nie weg waren, will das Institut für Arbeiterrechte nicht aufkommen lassen. Es sucht den Dialog mit der Diaspora, um auch lokale Arbeitskräfte mit weniger qualifizierter Ausbildung effektiv in den Prozess des Wiederaufbaus einzubinden und soziale Marginalisierung jedweder Art zu vermeiden.

Neue Rolle der Guerilla

Besonders bedeutend für die gesellschaftliche Identität Osttimors ist die künftige Rolle der Falintil-Guerilla, deren Partisanen 24 Jahre lang bewaffneten Widerstand gegen die indonesische Armee leisteten. Aus ihr soll die neue Armee Osttimors entstehen. Die wiederholte Infiltration pro-indonesischer Milizen in osttimoresisches Terrain zeugt von der Notwendigkeit nationaler Verteidigung, die auch nach Abzug der UN und internationaler Friedenstruppen die nationale Integrität gewährleistet und eine Schlüsselrolle in der Rückführung der vertriebenen Osttimoresen in Westtimor einnimmt.

Von den dort verbliebenen 120.000 Flüchtlingen stammen 629 aus dem abgelegenen Bergdorf Turiscai. Keine der neuen Nobelkarossen, die das Stadtbild Dilis prägen, ist die holprige Straße dorthin je gefahren. Öffentlichen Transport, den sich ob stark angestiegener Benzinpreise ohnehin kaum einer mehr leisten kann, gibt es nur bis Maubisse, einem 30 Kilometer entfernten Nachbardorf. Von dort aus geht es zu Fuß oder per Pferd weiter.

Thomas Araujo, ein Stammesführer resümiert: „Wir haben lange gekämpft, um frei zu sein. Jetzt sollten wir auch die Geduld haben, nicht alles sofort haben zu wollen. In zehn oder fünfzehn Jahren können wir Bilanz ziehen, was uns unsere Unabhängigkeit gebracht hat.“

Jörg Meier war 1999 Wahlbeobachter beim Unabhängigkeitsreferendum in Osttimor und hat für GTZ und Welthungerhilfe sowohl in West- wie Osttimor gearbeitet. Er ist Mitglied der Menschenrechtsorganisation „Watch Indonesia!“ und hält sich auch derzeit in Osttimor auf.


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