Die Olympiade der Wahlbeobachter
15. Juni 1999
von Alex Flor
Der folgende Artikel erschien gleichfalls in leicht gekürzter Form in der Wochenzeitung Jungle World
Indonesien hat gewählt. Alleine diese Tatsache genügte, das Vertrauen der Wirtschaft in diese nun „drittgrößte Demokratie“ der Welt zu stärken. Die Börse reagierte positiv auf die Nachricht vom friedlichen Verlauf des Wahltages und der IWF bewilligte umgehend die Auszahlung der nächsten Dollarmilliarde an den ehemaligen Tigerstaat.Nach der Phase der „Gelenkten Demokratie“ unter dem ersten Staatspräsidenten Sukarno und den darauf folgenden 32 Jahren Diktatur unter Suharto hatten die Wähler zum ersten Mal seit 44 Jahren wieder die Möglichkeit, in freien Wahlen ihre Stimme abzugeben. 48 Parteien waren angetreten, mehrere dutzend weitere hatten nicht die zur Teilnahme erforderlichen Voraussetzungen erfüllt. Nicht zugelassen waren alle Parteien, die nicht in mindestens einem Drittel der Provinzen organisiert sind – keine Chance also für die Vertretung regionaler Interessen, wie sie in Deutschland beispielsweise von der CSU wahrgenommen werden. Nach wie vor verboten sind Parteien, die sich auf den Marxismus-Leninismus oder andere Spielarten des Kommunismus berufen. Weil nach Jahren der Verfolgung und politischen Gehirnwäsche niemand mehr so genau weiß, was sich hinter diesen Lehren verbirgt, herrscht größte Vorsicht: so kommt auch der Begriff „Sozialismus“ im Vokabular des neuen pluralistischen Parteienspektrums Indonesiens nirgendwo vor.
Nach den blutigen Unruhen in mehreren Landesteilen während der letzten Monate befürchteten viele gewaltsame Zusammenstöße auch während des Wahlkampfes. Lange wurde sogar in Frage gestellt, ob die Wahlen überhaupt stattfinden würden. Bei der Wahl 1997, als es politisch nichts zu entscheiden gab, da die Wähler nur zwischen der Regierungspartei Golkar und zwei gleichgeschalteten Blockparteien wählen konnten, hatte der Wahlkampf mehrere hundert Menschenleben gekostet. Lediglich in der nach Unabhängigkeit strebenden Provinz Aceh und im indonesisch besetzten Ost-Timor kam es diesmal zu schwereren Zwischenfällen. Ansonsten lief die Wahl weitgehend geordnet und in fröhlicher Atmosphäre ab.
Dabei war die Wahl keineswegs unumstritten. Als die Beratende Volksversammlung (MPR), im November 1998 die Richtlinien zur Wahlgesetzgebung beriet, war es in den Straßen Jakartas zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen. Mehrere Demonstranten sowie einige Mitglieder eigens zu diesem Zweck aufgestellter ziviler Milizen (PAM Swakarsa) kamen dabei ums Leben. Die Demonstranten sprachen der Versammlung, die noch aus den undemokratischen Wahlen von 1997 hervorgegangen war, schlicht die Legitimation ab, nun die Grundlagen für freie Wahlen festzulegen. Insbesondere stieß auf Kritik, daß dem Militär in Zukunft immerhin noch 38 Sitze – statt bisher 75 – im Parlament vorbehalten bleiben sollten, die nicht vom Volk gewählt werden müssen. Einige Studentenverbände riefen daher zum Boykott der Wahl auf.
Zur Abstimmung standen somit nur die Kandidaten für die 462 übrigen Mandate im 500 Sitze zählenden Parlament (DPR) sowie die Abgeordneten der Provinz- und Kommunalparlamente. Erst im November wird die Beratende Volksversammlung (MPR) einen neuen Präsidenten wählen. Sie setzt sich zusammen aus dem Parlament und zusätzlichen 200 Vertretern, von denen wiederum 135 von den jeweils stärksten Parteien in den Provinzen entsandt und 65 von sogenannten „funktionalen Gruppen“ wie Berufsgruppenverbänden u. dgl. delegiert werden. Wer auch immer aus den Parlamentswahlen vom 7. Juni als Sieger hervorgehen wird, muß sich also einstweilen mit dem amtierenden Präsidenten Habibie arrangieren. Die stark auf den Präsidenten zugeschnittene Verfassung Indonesiens läßt dem Parlament wenig Spielraum für eigene Entscheidungen. Spekulationen über mögliche Koalitionen, die zu einer Regierungsbildung führen können, werden daher noch bis November das meistdiskutierteste Thema in der indonesischen Öffentlichkeit bleiben.
Schenkt man den bislang vorliegenden Zahlen Glauben, dann trug die oppositionelle Demokratische Partei (PDI Perjuangan) einen klaren Sieg davon. Sie liegt derzeit mit ca. 38 % der Stimmen in Führung mit großem Abstand vor allen anderen Parteien. Die Noch-Regierungspartei Golkar folgt mit 21 % auf Platz zwei. Die PKB des populären Moslemführers Abdurrahman Wahid, deren Gründungsziel war, im islamischen Lager zusätzliche Stimmen für die PDI zu mobilisieren, liegt mit 13 % an dritter Stelle, dicht gefolgt von der tendenziell regierungstreuen muslimischen PPP mit 11 % und der Reformpartei PAN mit 9 % der Stimmen.
Vorsitzende und Präsidentschaftskandidatin der PDI ist Megawati Soekarnoputri, eine Tochter des Republikgründers und ersten Präsidenten Sukarno, der ungeachtet seiner zweifelhaften politischen Experimente in den letzten Jahren seiner Amtszeit von vielen noch immer als Idol verehrt wird. Für viele Wähler war die Stimme für Megawati eine späte Abrechnung mit Suharto. 1966 hatte Suharto ihren Vater de facto des Amtes enthoben und sich selbst ins Präsidentenamt gehievt. Sukarno stand seither praktisch unter Hausarrest und starb wenige Jahre später aufgrund einer mysteriösen Krankheit. Wie keine andere symbolisiert Megawati aber auch persönlich die Opposition zum Suharto-Regime. Durch ein Ränkespiel von Regierung und Militär wurde sie 1996 als Vorsitzende der gleichgeschalteten PDI ihres Amtes enthoben. Aus Protest dagegen besetzte ihre Anhängerschaft daraufhin die PDI-Parteizentrale in Jakarta, bis das Gebäude von bezahlten Schlägerbanden und Militärs am 27. Juli 1996 brutal geräumt wurde. Dutzende fanden bei der Erstürmung der Parteizentrale und den darauf folgenden Straßenschlachten den Tod. Die Regierung läutete darauf eine neue Hexenjagd auf Oppositionelle ein, in deren Verlauf zahlreiche Aktivisten der damals noch illegalen Linkspartei PRD verhaftet und zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Einige von ihnen, darunter der PRD-Vorsitzende Budiman Sudjatmiko, sitzen bis heute im Gefängnis, obwohl die Partei inzwischen längst offiziell zugelassen wurde und sogar an den Wahlen teilnehmen durfte.
Zugute kam Megawati, daß sie trotz ihrer Entmachtung über einen funktionierenden Parteiapparat verfügte, der sich als gut geölte Wahlkampfmaschine erwies. Anderen prominenten Oppositionellen, die persönlich unter Suharto zum Teil wesentlich größere Opfer bringen mußten, Megawati intellektuell überlegen sind und über weitaus klarere programmatische Ziele verfügen, fehlten vergleichbare Voraussetzungen. Ähnlich dem Schicksal der Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR müssen sich die Parteien von unter Suharto inhaftierten Dissidenten wie Sri-Bintang Pamungkas, Budiman Sudjatmiko oder Gewerkschaftsführer Muchtar Pakpahan damit abfinden, bei den Wahlen von den großen Parteien überrollt zu werden. Auch Amien Rais, der sich im vergangenen Jahr als Wortführer vor die Studentenbewegung gestellt hatte, um Suhartos Rücktritt zu bewirken, schnitt mit knapp 9 % für seine PAN-Partei enttäuschend ab. Lediglich in seiner Heimatstadt Yogyakarta und in einigen Regionen Sumatras konnte er Achtungserfolge erzielen.
Noch stehen alle Analysen des Wahlergebnisses allerdings auf sehr schwachen Beinen. Denn sechs Tage nach dem Urnengang waren erst ca. 40 % der Stimmen ausgezählt, größtenteils auf Java und in städtischen Gebieten. Diese Zahlen sind somit weder repräsentativ, noch lassen sie sich aufgrund des komplizierten Auszählungsmodus ohne weiteres in Parlamentssitze umrechnen. Die Sitzvergabe erfolgt nach Verhältniswahlrecht auf Provinzebene. Ein Schlüssel legt fest, wieviele Abgeordnete jede Provinz ins nationale Parlament entsendet. So reichen in einer dünnbesiedelten Provinz z.T. deutlich weniger Stimmen aus um ein Mandat zu erlangen als in den dichtbesiedelten Provinzen auf Java und Bali. Genau dort haben aber PDI und PKB ihre Hochburgen, während Golkar auf den sog. Außeninseln und in ländlichen Gebieten noch sehr stark ist. Nach diesem komplizierten System könnten 25 % der Stimmen für Golkar ausreichen, um zusammen mit dem Militär und einigen kleineren Parteien im November ihren Präsidentschaftskandidaten durchzubringen. Für die dann möglicherweise entstehende „Cohabitation“, also einem Präsidenten von Golkar und einer Parlamentsmehrheit der Reformparteien ist Indonesiens junge Demokratie in keiner Weise vorbereitet. Das Amt eines Ministerpräsidenten gibt es nicht, alle Macht liegt beim Präsidenten, dessen Kabinett sich seine Gesetzentwürfe aber vom Parlament absegnen lassen muß. Selbst ohne eine derart komplizierte Konstellation stellen die drängenden politischen und wirtschaftlichen Probleme Indonesiens jede denkbare neue Regierung vor eine äußerst schwierige Aufgabe. Die Enttäuschung der Wählerschaft ist vorprogrammiert und kann schnell zu erneuten Unruhen führen. Megawati Soekarnoputri bewies allerdings Weitblick und vermied jeden konkreten Hinweis auf ihr Wahlprogramm sowie jedes konkrete Wahlversprechen – niemand wird ihr somit Wählerbetrug vorwerfen können.
Vorerst sorgt jedoch erst mal die lähmend langsame Auszählung der Stimmen für Ungeduld. Möglicherweise ist die Dauer einfach dem komplizierten Zählsystem geschuldet sowie der Tatsache, daß es zum ersten Mal bei indonesischen Wahlen tatsächlich etwas zu zählen gibt, weil der Sieger nicht schon vorher feststeht. Doch zunehmend werden auch Bedenken laut, Golkar könne die Zeit nutzen, um das Ergebnis zu manipulieren. Die internationalen Wahlbeobachter könnten hier eine entscheidende Rolle spielen, um einem Streit über das Wahlergebnis vorzubeugen. Doch ihre Zahl ist viel zu gering, um eine effektive Beobachtung leisten zu können. Aus Deutschland waren gerade mal 14 Wahlbeobachter gekommen – auf mehr als 8 Mio Stimmberechtigte einer. Fatal ist aber vor allem, daß sie bereits am 12. Juni wieder die Rückreise antraten, als noch mehr als 60 % der Stimmen auszuzählen waren. Auch im Vorfeld der Wahl war die Aufenthaltsdauer viel zu kurz, um beispielsweise dem häufig erhobenen Vorwurf des Stimmenkaufs nachgehen zu können. Frühere Wahlen wurden von Suharto euphemistisch als „Fest der Demokratie“ bezeichnet – eine Bezeichnung, die der Vorsitzende von Watch Indonesia!, Pipit Kartawidjaja, als treffend empfand: „Der Gastgeber und Ausrichter eines Festes bestimmt doch, wer dazu eingeladen wird und wer nicht“. Die Wahl 1999 schien dagegen so etwas wie die „Olympiade der internationalen Wahlbeobachter“ gewesen zu sein: „Dabeisein ist alles“. <>