Ein Taxifahrer im Parlament von Dili

Neues Deutschland, 18.05.2002

Osttimor wird am 20. Mai in die Unabhängigkeit entlassen: Zwergstaat vor Riesenherausforderungen

Von Jörg Meier, Dili

Neues-DeutschlandIn Dili wurde dieser Tage aufgeräumt, renoviert, gebaut. Vor dem Büro der UN-Übergangsregierung (UNTAET) wehen die Flaggen aller UN-Mitgliedsstaaten. In der Nacht vom 19. zum 20. Mai wird auch die osttimorische Nationalflagge gehisst: Mit der offiziellen Übergabe der Regierungsgewalt wird die Inselhälfte zum jüngsten souveränen Staat der Erde: Timor Loro Sa’e – Timor, Land der aufgehenden Sonne.

Gregorio Saldanha steuert sein Taxi durch das abendliche Verkehrschaos in Dili und bilanziert: „Die Unabhängigkeit wird große Herausforderungen mit sich bringen.“ Bis 1999, als sich Osttimor, die ehemalige portugiesische Kolonie, in einem von der UNO organisierten Volksentscheid für die Loslösung von der Besatzungsmacht Indonesien entschied, war Saldanha politischer Gefangener auf Java. Terroristische Tätigkeiten und Mitgliedschaft in der Widerstandspartei Fretilin wurden ihm vorgeworfen. Heute ist er Mitglied der verfassunggebenden Versammlung, die mit der Unabhängigkeit in das erste Parlament Osttimors umgewandelt wird.

Südostasiens Armenhaus

Dass Saldanha nach Feierabend als Taxifahrer arbeitet, um sein Abgeordnetengehalt von 420 US-Dollar aufzubessern, spricht für die Schwierigkeiten, die seine Heimat in den nächsten Jahren zu bewältigen hat. Osttimor, das mit seinen 15.000 Quadratkilometern etwa so groß wie Schleswig-Holstein ist, wird das ärmste Land Südostasiens sein. Knapp die Hälfte seiner 738.000 Einwohner sind Analphabeten, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 57 Jahren. Über 40 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als einem halben Dollar am Tag, Unterernährung und Malaria sind vor allem in ländlichen Gebieten weit verbreitet.

Lediglich 17 Prozent der Bevölkerung sprechen die offizielle Nationalsprache Portugiesisch, 63 Prozent sind des Indonesischen mächtig. Die einheimische Sprache Tetum wird internationalen Standards noch nicht gerecht. Die Kapazitäten im Gesundheits-, Bildungs- und Regierungswesen, der Bürokratie, dem Sicherheitsapparat und der Justiz sind unzureichend, ein Großteil der Infrastruktur wurde 1999 im Rachefeldzug des indonesischen Militärs und seiner Milizen zerstört.

Nach dem Abzug der UNTAET-Mission werden viele Städte ohne Kommunikationsmöglichkeiten, in einigen Fällen gar ohne Elektrizität sein. UN-Sprecherin Babara Reis kommentiert: „Wir ziehen Telefonsysteme, Internet, Satelliten, Generatoren und Fahrzeuge ab, weil die Timorer derzeit noch nicht im Stande sind, sie eigenständig zu warten.“ Indirekt spricht sie damit eines der größten Mankos der UNTAET-Mission an: die unzureichende Ausbildung lokaler Fachkräfte. Wirtschaft, Infrastruktur, Gastronomie – fast alles ist fremdbestimmt.

„Für das Geld, das ein australischer Ingenieur verdient“, so Saldanha, „könnten wir zehn Timorer beschäftigen, aber uns fehlt es an ausgebildeten Kräften.“ Selbst die Regierung rekrutiert sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Osttimorern, die während der 24 Jahre indonesischer Besatzung im politischen Exil lebten und dort Fähigkeiten erlangten, an denen es den Daheimgebliebenen mangelt. Auch Fernanda Bourges gehört dieser Diaspora an. Bis vor wenigen Wochen war die in Moçambique ausgebildete Karrierefrau Finanzministerin des Übergangskabinetts. Sie quittierte ihren Posten wegen unzureichender Transparenz in Regierungsfragen und warf dem zukünftigen Premierminister Mari Alkatiri, der wie sie selbst die Jahre des Exils in Moçambique verbrachte, Mangel an „Good Governance“ (gutem Regieren) vor. In den Tagen vor der Unabhängigkeitserklärung wurde die sechste internationale Geberkonferenz für Osttimor in Dili abgehalten. Internationale Wirtschaftsexperten schätzten, dass die neugeborene Nation in den nächsten drei Jahren mindestens weitere 300 Millionen US-Dollar Aufbauhilfe braucht, bevor sie von Einnahmen aus Ölvorkommen in der Timorsee profitieren kann. Nach der Geberkonferenz, die am Mittwoch endete, kann sich die Regierung Osttimors sogar auf Zusagen über 440 Millionen Dollar berufen. Wichtig ist allerdings nicht nur das Geld, sondern vor allem die Fähigkeit, es sinnvoll zu nutzen. Die unabhängige Regierung muss enormen Herausforderungen in sozialen und ökonomischen Fragen gerecht werden. Ein gewissenhaftes Management der wenigen Ressourcen und andauernde Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für Osttimor sind unabdingbare Voraussetzungen für den Start in die Unabhängigkeit.

Megawati ist spaneingeladen

Saldanhas Taxi fährt an der Strandpromenade entlang. An der landeinwärts gelegenen Straßenseite erstrahlen Konsulate und Botschaften in prunkvollem Glanz. Nur das Anwesen des letzten indonesischen Gouverneurs von Osttimor, Abilio Osorio Soares, steht leer. Obwohl nach dem Referendum nicht vom Militär und seinen Milizen niedergebrannt, scheint das riesige Haus unter einem Fluch zu stehen. Ziegenkot und Spinnenweben überall. Der große, in den vergilbten Marmorboden einbetonierte Konferenztisch, an dem Soares indonesische Minister empfing, ist das letzte Relikt seiner Amtszeit.

Soares selbst steht heute zusammen mit Verantwortlichen aus den Reihen des Militärs und der Polizei in Jakarta vor Gericht. Er muss sich für die Verbrechen von 1999 verantworten. Das Verfahren jedoch ist eine Farce. Die Angeklagten treten zeitgleich als Zeugen auf, um ihre Kumpane fadenscheinig zu verteidigen.

In Osttimor selbst ist das Interesse an dem Prozess gering. Um nicht zu sehr in wirtschaftliche Abhängigkeit von Australien, Japan und den ehemaligen portugiesischen Kolonialherren zu geraten, braucht Osttimor gute Beziehungen zu seinem riesigen Nachbarland. Der gerade zum Präsidenten gewählte Xanana Gusmão pocht auf Versöhnung. Seine Bemühungen, Indonesiens Präsidentin Sukarnoputri Megawati zur Unabhängigkeitsfeier nach Dili einzuladen, scheinen letztlich von Erfolg gekrönt zu werden. Wenn auch nur für wenige Stunden und in Zusammenhang mit einem Arbeitsbesuch im indonesischen Westtimor wird das Staatsoberhaupt des Inselreiches anwesend sein, wenn UN-Generalsekretär Kofi Annan den Nationalhelden Xanana Gusmão in sein Amt als Präsident einführt.

Dutzende weitere Staatsgäste und bis zu 200.000 Osttimorer werden zur Unabhängigkeitsfeier erwartet. Die Vorbereitungen erinnern ein bisschen an „Unser Dorf soll schöner werden“. Nur ein wenig aufwändiger: 1,8 Millionen US-Dollar haben Zeremonienmeister José Ramos Horta und sein Planungskomitee für die Feierlichkeiten veranschlagt. Kritiker fragen sich, wo die 800.000 Dollar Preisgeld geblieben sind, die der Friedensnobelpreisträger den Ärmsten der Armen in Osttimor versprochen hat. Joaquim Fonseca von der Menschenrechtsorganisation Yayasan Hak beanstandet: „Es ist alles so künstlich und oberflächlich. Teile der politischen Elite wollen unser Land der Welt in Glanz und Glitter präsentieren, aber wir müssen den Realitäten ins Auge sehen.

Zerplatzt die Seifenblase?

Realität herrscht in Soibada. Ein Jesuitenseminar in dem abgelegenen Bergdorf war die Schule Hortas und anderer Führungspersönlichkeiten. Heute leben drei Nonnen mit 170 Waisenkindern in dem einst berühmten Dorf. Nahezu abgeschnitten von der Außenwelt, führen sie ein spartanisches Leben. Vorräte sind rar, Elektrizität gibt es nur für zwei Stunden am Tag. Aber auch in Dili wird bald wieder eine andere Realität herrschen. Die Hotels und Restaurants, die eigens zur Unabhängigkeit hergerichteten Messezentren, all der Prunk scheint wie eine Seifenblase, die bald zu zerplatzen droht: Die Stärke der internationalen Friedenstruppen wird von 8.000 auf 5.000 Mann reduziert, Hunderte hochbezahlte UN-Mitarbeiter werden abgezogen – mit ihnen ihr Geld. Einige der luxuriösen Etablissements in Dili drohen wie Kartenhäuser einzustürzen, über 2.000 Timorer werden allein in der Hauptstadt ihre Arbeitsplätze verlieren.

Die Erwartungen an die Regierung sind hoch. Saldanha nennt zwei seiner Prioritäten: Rückführung der etwa 65.000 Osttimorer, die bis heute in Flüchtlingslagern jenseits der Grenze verweilen, und Integration ehemaliger Guerillakämpfer, die nicht in die Polizei und die Militärkräfte aufgenommen wurden und mit Revolution drohen, sollte ihnen keine Anerkennung zukommen. Wie sich Osttimor letztlich entwickeln wird, lässt sich derzeit nur schwer voraussagen. Saldanha stimmt darin mit mir überein, dass die ersten zwölf Monate der unabhängigen Regierung wegweisend sein werden. Nach einem gemeinsamen Abendessen fährt er mich mit seinem Taxi nach Hause, um am nächsten Morgen wieder seiner Beschäftigung als Abgeordneter nachzugehen. <>


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