Wie kann richtig geholfen werden?
Unbegreifliche Zustände für Flüchtlinge
19. Januar 2005
von Alex Flor
Wie kann richtig geholfen werden? An Geld fehlt es vorerst nicht mehr. Nothilfeorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen mussten bereits zum Spendenstopp aufrufen, da sie sich nicht in der Lage sehen, die gespendeten Gelder sinnvoll in konkrete Projekte umzusetzen. Dennoch bleibt die Lage vor Ort bedrückend, wie beiliegender Brief beschreibt, den wir heute aus Aceh erhielten. Obdachlos gewordene leben unter katastrophalen Bedingungen, und insbesondere abseits der Schwerpunktzentren internationaler Nothilfeprojekte fehlt den Menschen das Nötigste für ein menschenwürdiges Dasein. Hilfsgüter und medizinische Versorgung erreichen die Bedürftigen nicht.
Die Probleme sind bekannt. Pläne der indonesischen Regierung, die Flüchtlinge in 24 großen Camps anzusiedeln, um ihre Versorgung besser kanalisieren zu können, stießen umgehend auf Widerspruch seitens deutscher Hilfsorganisationen. Große Flüchtlingslager bringen erhebliche soziale Risiken mit sich und geben Raum für Kontrolle, Unterwanderung und Manipulation der Bewohner durch den Militärapparat. Den Menschen müsse vor Ort geholfen werden, fordern die Hilfsorganisationen. Der Einwand ist berechtigt, doch die Umsetzung in die Praxis gestaltet sich schwierig. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur: konzeptionelle Schwächen der Projekte, mangelnde Kapazität, fehlende oder zerstörte Infrastruktur und nicht zuletzt die vom indonesischen Militär auferlegten Restriktionen erschweren dezentrale Hilfsmaßnahmen.
Angesichts der Unmöglichkeit, mit noch mehr Geld auf die Schnelle eine bessere Versorgung der Katastrophenopfer zu gewährleisten, mehren sich Aufrufe und Projekte, die auf mittel- und langfristige Hilfe setzen. Dieser Ansatz ist verständlich und richtig, zumal zu Befürchten steht, dass nach der ersten großen Hilfswelle dringend benötigte Gelder zum Wiederaufbau Acehs ausbleiben werden. Diese Erkenntnis ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass vielen Bedürftigen „HIER und JETZT“ geholfen werden muss, wie Boboy Simanjuntak schreibt. Ungeachtet der Notwendigkeit mittel- und langfristiger Hilfe gilt es somit die akut geleistete Nothilfe zu optimieren, ohne den Betroffenen durch Umsiedlung oder dergleichen weiteres Leid zuzufügen.
Unbegreifliche Zustände für Flüchtlinge
von Boboy Simanjuntak
Was ich aus Banda Aceh berichten kann, ist unbegreiflich. Viele Hilfsorganisationen sind hier. Große Projekte werden von indonesischen und ausländischen Nichtregierungsorganisationen, internationalen Institutionen und der indonesischen Regierung in Angriff genommen, doch haben sie keine Verbindung zu den Orten, wo die von der Flutwelle Geschädigten untergekommen sind. Zwar sind manche der Flüchtlinge in Wohnhäusern untergekommen, viele aber hausen unter freiem Himmel auf öffentlichen Plätzen. Von diesen Menschen spreche ich.
Die Nothilfsprojekte sind wirklich hervorragend. Aber sie greifen das Kernproblem nicht an: HIER und JETZT steht das LEBEN dieser FLÜCHTLINGE auf dem Spiel. Viel zu viele werden einfach ihrem Schicksal überlassen und nicht berücksichtigt. Werden sie überhaupt jemals etwas von den Hilfsprojekten haben? Werden sie dann nicht schon sterbenskrank sein oder seelisch so zerrüttet, nur weil die Hilfe zu spät kommt? Denn die großartigen Projekte sind langfristig angelegt, und es wird ewig dauern, bis sie greifen. Was aber geschieht bis dahin mit den Flüchtlingen in der Zwischenzeit, während sie auf die Projekte warten? Bis die alle laufen, wird es noch lange dauern.
AKUTE NOTHILFE für die OPFER HIER und JETZT leisten meist nur kleinere Nichtregierungsorganisationen. Sie sind es, die vor Ort sind, dort wo Flüchtlinge untergekrochen sind, nur sie haben direkten Kontakt mit ihnen. Leider jedoch ist die Organisation ihrer Hilfeleistung nicht ausreichend koordiniert. In dieser Situation ist es DRINGEND NOTWENDIG, sie bei der LÖSUNG der PROBLEME GROSS ANGELEGT zu UNTERSTÜTZEN!
Ein Symptom für die Problematik ist, dass, wie allgemein bekannt ist, mehr als genug Hilfsgüter gespendet werden, mehr als genug Geld zur Verfügung gestellt wird. Trotz dieser überwältigenden Spendenbereitschaft aber erhalten die wenigstens Flutopfer Hilfe. Warum nicht? Warum gibt es so viele Posko (Anlaufstellen von NGOs) in den Flüchtlingslagern, die nicht auf die notwendigsten Bedürfnisse der Flüchtlinge reagieren können? Leider kommt es auch vor, dass die Flüchtlinge schroff behandelt werden.
Um Ihnen eine Vorstellung zu geben, wie es aussieht, nur ein Beispiel von einer „Unterkunft“ von Flüchtlingen, die ich genauer beobachten konnte: Dort sind Hunderte von Erwachsenen und Jugendlichen, Dutzende von älteren Menschen, acht schwangere Frauen, etwas 50 Kleinkinder und mehr als 50 Säuglinge! Es ist kein Lager, sondern die Menschen leben einfach in den Trümmern zerstörter Häuser. Keine Mauern gibt es, keinen Fußboden. Nur der nackte Erdboden und ein bisschen Gras, das bei Regen oder in der Nacht kalt und feucht wird. Gegen die Kälte haben sie nichts als Plastikplanen, und auch davon nicht genug. Wenn sie sich hinlegen, kriecht die Feuchtigkeit in ihre Körper. Gegen den Wind und gegen Erkältungen schützt sie nur eine Plane, aus Plastik, kaum ein und einen halben Meter hoch. Auch wenn die Trümmer höher sind, hilft das nicht viel gegen Wind. Noch viel weniger schützen die Trümmer gegen Regen. Der Regen dringt durch und durchnässt die Flüchtlinge. Wie furchtbar ist das nachts, im Schlaf!
GANZ DRINGEND BRAUCHEN die Flüchtlinge DECKEN! Außer Unterwäsche und Damenbinden. Denn nicht jeder Flüchtling besitzt eine eigene Decke oder eine eigene Matte. Und wenn sie zum Posko gehen und darum bitten, können die Freiwilligen im Posko ihnen nichts geben.
Die Flüchtlinge haben nicht genug zu essen. Sie essen, was auch immer da ist, höchstens zwei Mal am Tag. Kochen ist nicht möglich, denn sie haben nichts, womit sie kochen könnten. Sie haben auch kein sauberes Wasser. Die Kinder und Säuglinge leiden unter Mangelernährung und Vitaminmangel. Sogar Milch bekommen sie sehr selten. Kaufen können die Flüchtlinge sich auch nichts, denn sie haben kein Geld. Sind sie jetzt gezwungen zu stehlen? Es gibt keine Badestellen und keine Toiletten. In Europa kennen wir transportable öffentliche Toilettenhäuschen, ein Meter im Quadrat. Solche transportablen Toilettenhäuschen sollten jetzt gespendet werden. Bis jetzt müssen die Flüchtlinge ihr Geschäft direkt auf den Boden verrichten, oder ins Gras oder in den Fluss. Diese ungelösten sanitären Probleme bedrohen ihre Gesundheit zusätzlich. Ärzte und medizinisch Ausgebildete fehlen. Sanitäter stehen nur an wenigen, bestimmten Stellen zu Verfügung, nur für ein paar Stunden, und das auch nicht jeden Tag.
So läuft die Arbeit hier, so klappt die Zusammenarbeit und die Organisation unter den hier anwesenden Stellen!
Mit diesem Schreiben möchte ich Sie bewegen, ihre Aufmerksamkeit jetzt sofort der Lage in Aceh zu widmen. Verwenden Sie nicht zu viel Zeit mit der Entwicklung von tollen Hilfsprojekten. Werden nicht diejenigen, die jetzt schwach auf sich allein gestellt ums Überleben kämpfen, eines Tages die großen und mächtigen und undurchschaubaren Organisationen ablehnen? Ist es unwichtig, dass die Menschen jetzt leiden? Ist es dagegen wichtiger, ihre Zukunftsprobleme zu lösen? Wir müssen ihnen jetzt helfen, mit gemeinsamer Kraft.
Vielen Dank.
Boboy Simanjuntak
Reporter Deutsche Welle Radio
19. Januar 2005übersetzt von Marianne Klute
Watch Indonesia!