Zehn Jahre Vergangenheitsaufarbeitung in Indonesien: Eine Bilanz der verpassten Chancen
21. Mai 2008
von Fabian Junge
Vor zehn Jahren trat Indonesiens Diktator Suharto zurück. Damit war der Weg frei für Reformen. Heute hat die Demokratie in der Gesellschaft Fuß gefasst. Politische Häftlinge wurden freigelassen, die Bildung von Parteien und Gewerkschaften wieder erlaubt und freie Wahlen fanden statt. Bemühungen um eine Aufarbeitung der unter der Diktatur verübten Menschenrechtsverletzungen sind jedoch gescheitert.
Jakarta am 21. Mai 1998: Indonesiens Präsident Suharto verkündet unter dem Jubel der Bevölkerung seinen Rücktritt. 33 Jahre lang hat sein Regime, die Neue Ordnung, eine Politik der autoritär gelenkten Entwicklung verfolgt, deren Früchte größtenteils Suhartos Familie oder eine korrupte Elite aus Militärs, Technokraten und Großunternehmern einstrichen. Hunderttausende, die diesen Interessen im Weg standen, wurden ermordet, viele verschwanden in den Folterkammern und waren jahrzehntelang eingesperrt. Indonesien unter General Suharto war wahrlich „Kein Paradies für die Menschenrechte“, wie Amnesty International einst titelte.
Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Neuen Ordnung war eine zentrale Forderung der Reformbewegung. Die Bestrafung Suhartos und seiner Generäle, die Aufklärung der Verbrechen und eine Neubewertung der Geschichte sollten das Fundament einer umfassenden Demokratisierung bilden. Zunächst tat sich jedoch wenig, denn die Täter von damals konnten ihre Macht nach dem Regimewechsel weitgehend erhalten und blockierten die staatliche Aufarbeitung.
Die Osttimor-Krise 1999 änderte das politische Kräfteverhältnis, indem sie die internationale Gemeinschaft auf den Plan rief. Die Bilder von Gewalt, Vertreibung und Zerstörung, mit denen sich das indonesische Militär und von ihm kontrollierte Milizen für das Unabhängigkeitsvotum der osttimoresischen Bevölkerung rächten, schockierten die Welt. Um die Einrichtung eines internationalen Strafgerichts zu verhindern, verabschiedete Indonesiens Parlament ein Gesetz, das die Ahndung vergangener schwerer Menschenrechtsverletzungen vor nationalen ad hoc-Gerichten ermöglicht.
Neben den Verbrechen in Osttimor wurde bisher lediglich der Tanjung Priok-Fall vor dem ad hoc-Menschenrechtsgericht verhandelt. Damals, am 12. September 1984, richtete das Militär ein Massaker an islamisch inspirierten Regimekritikern an. In beiden Verfahren wurden die Hauptverantwortlichen gar nicht erst angeklagt. Wer vor Gericht gestellt wurde, kam spätestens im Berufungsverfahren frei. Anfang Mai 2008 sprach der Oberste Gerichtshof mit Eurico Guterres, dem Anführer der osttimoresischen Milizen, auch den letzten Angeklagten des Osttimor-Tribunals frei.
Die schwache Justiz war nicht willens und in der Lage, gegen das politisch mächtige Militär vorzugehen. Die Prozesse sollten den Anschein eines rechtmäßigen Verfahrens wecken, um den weltweiten Ruf nach Gerechtigkeit für die Opfer abzuwenden. Für die tatsächliche Aufklärung der systematischen Menschenrechtsverletzungen und Bestrafung der Täter haben sie jedoch nichts geleistet.
Auch in anderen Fällen versuchten Opfergruppen und Menschenrechtler über ein ad hoc-Gericht strafrechtliche Aufarbeitung zu erzielen. Auf ihr Betreiben untersuchte die staatliche Menschenrechtskommission viele weitere vergangene Menschenrechtsverletzungen. Drei Berichte beleuchten die spannungsgeladenen Monate vor und nach Suhartos Rücktritt. Der Sicherheitsapparat entführte damals mindestens 23 politische Aktivisten, von vielen fehlt bis heute jede Spur. An Jakartas renommierten Universitäten Trisakti und Atma Jaya schossen Soldaten wahllos auf demonstrierende Studenten und töteten Dutzende. Bei Pogromen gegen Indonesiens chinesische Minderheit im Mai 1998, die mutmaßlich von Hardlinern im Militär provoziert wurden, starben über Tausend in brennenden Einkaufszentren, hunderte Frauen wurden vergewaltigt.
In allen Fällen erhob die Menschenrechtskommission den Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen hochrangige Militärs und forderte ein ad hoc-Gericht. In allen Fällen weigerte sich die Staatsanwaltschaft, Ermittlungen einzuleiten. Und auch das Parlament, dessen Zustimmung zur Einrichtung eines ad hoc-Gerichts nötig ist, ignorierte den Ruf nach Gerechtigkeit. Längst haben sich dort die ehemaligen Regimegegner mit den Tätern von einst in neuen und alten Parteien arrangiert. Für Macht, Prestige und die Möglichkeit der Selbstbereicherung, die Indonesiens Elite mehr als alles andere zusammenschweißt, lässt man die Vergangenheit gerne ruhen. Dass sich dies in näherer Zukunft ändern wird, ist nicht zu erwarten: Erst kürzlich eröffnete die Menschenrechtkommission eine Untersuchung über die Verbrechen in Talangsari, Lampung. Dort griff das Militär 1989 unter der Führung des späteren Geheimdienstchefs Hendropriyono eine als regimefeindlich eingestufte muslimische Sekte an und ermordete über 200 Menschen. Als die Kommission mehrere hochrangige Militärs hierzu vernehmen wollte, rief Verteidigungsminister Juwono Sudarsono alle Armeeangehörigen auf, die Vorladungen zu ignorieren und damit gültiges Recht zu brechen.
Ein Gesetz zur Schaffung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission enttäuschte 2004 abermals die Erwartungen. Nicht nur individuelle Schuld, sondern die wiederkehrenden Muster der zahllosen Menschenrechtsverletzungen und die Natur des Systems, das solche Verbrechen verübte, sollten im staatlichen Auftrag ermittelt werden. Doch bald wurde klar, dass man unter dem Deckmantel der Versöhnung die Lasten der Vergangenheit reinwaschen wollte. Im Austausch für ihre Aussagen sollten die Täter auch von schwersten Menschenrechtsverletzungen amnestiert werden. Eine Entschädigung für die Opfer war an die Bedingung geknüpft, dass sie ihren Peinigern offiziell vergeben und auf weitere rechtliche Schritte verzichten. Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen teilten sich in zwei Lager: Sollte man in Abwesenheit einer Alternative mit der Kommission kooperieren oder diese ignorieren? Bevor man sich hierüber einigen konnte, annullierte das Verfassungsgericht das Gesetz Ende 2006. Seitdem ist es still geworden um das Thema Vergangenheitsbewältigung. Menschenrechtsorganisationen fordern eine Neuauflage der Wahrheitskommission mit verbessertem Mandat, was jedoch wenig aussichtsreich scheint.
Beim Umgang mit der Vergangenheit hat Indonesien in den letzten zehn Jahren viele Chancen verpasst. Eine Verurteilung der Hauptverantwortlichen der Verbrechen in Osttimor und Tanjung Priok etwa hätte gezeigt, dass auch Suhartos Generäle nicht über dem Gesetz stehen. Das hätte wichtige Impulse für die Unterordnung des Militärs unter die zivile Führung sowie zur Errichtung eines für die Demokratie unabdingbaren Rechtsstaates geben können. Gerade die Auseinandersetzung mit den Verbrechen in Osttimor bot zudem die Gelegenheit, einen friedlicheren Umgang mit regionalen Konflikten zu finden. Stattdessen hat sich, befördert durch den Verlust Osttimors, ein blinder Nationalismus durchgesetzt, der den Einheitsstaat Indonesien zum Fetischobjekt erhebt. Diese Ideologie legitimiert gegenwärtig im ressourcenreichen Westpapua eine erneute Welle der Gewalt gegen Menschenrechtler und andere zivilgesellschaftliche Kräfte. Der dortige Militärchef, Burhanuddin Siagian, gegen den in Osttimor eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt, erklärte dazu: „Wenn es um die nationale Einheit der Republik Indonesien geht, lassen wir uns nicht von Menschenrechten einschüchtern.“
Die versäumte Neubewertung der Geschichte, wie sie zum Beispiel die Wahrheitskommission hätte anstoßen können, rächt sich auch an anderer Stelle: Im vergangenen Jahr verbrannte die Staatsanwaltschaft ca. 30.000 Schulbücher, weil sie der offiziellen Erzählung der Machtergreifung Suhartos widersprachen. Damals, im Oktober 1965, riss Suharto nach einem fehlgeschlagenen Putschversuch die Macht an sich und stürzte das Land in einen antikommunistischen Blutrausch. Über die Zahl der Opfer gibt es bisher nur Schätzungen: waren es 500,000, eine Millionen, oder mehr? Auch die Hintergründe bleiben ungeklärt. Historiker streiten darüber, ob unter anderem Indonesiens erster Präsident Sukarno, militärinterne Machtkämpfe oder gar Suharto selbst verantwortlich waren. Letzterer gab die Schuld an dem Staatsstreich der Kommunistischen Partei. Die Geschichte vom kommunistischen Verrat und der Rettung der Nation durch die Armee unter der Führung Suhartos bildete seitdem das ideologische Fundament der Neuen Ordnung.
Nach dem Rücktritt Suhartos versuchten Historiker und Überlebende der Massaker von 1965/66, dieses dunkle Kapitel indonesischer Zeitgeschichte neu zu schreiben. Sie hinterfragten Suhartos Version der Ereignisse und brachen das Schweigen über die bis dahin tabuisierten Gewaltexzesse, deren Trauma bis heute auf der Gesellschaft lastet. In den erwähnten Schulbüchern wurde dies teilweise aufgegriffen. Die Verbrennungen stellten so den vorläufigen Sieg der autoritären Elite im Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte dar. Die alte Elite hat viel zu verlieren, würde doch ein Wandel in der offiziellen Geschichtsschreibung ihre Mittäterschaft offenlegen. Sie fürchten die dadurch drohenden Legitimitäts- und Machtverluste.
Indonesien hat es bisher nicht verstanden, das Verhältnis zu seiner belasteten Vergangenheit neu zu bestimmen. Man hat es bisher versäumt, die Menschenrechtsverletzungen der Neuen Ordnung als Unrecht anzuerkennen und ein Nein zu Gewalt und Diktatur in der Gesellschaft zu verankern. Stattdessen hat sich auf unbestimmte Zeit ein System etabliert, das Elemente aus Demokratie und Autokratie verbindet, in dem freie Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit einhergehen mit einem politisch mächtigen Militär, mit Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen, deren Muster aus der Zeit der Neuen Ordnung stammen.
Die Opfer fühlen sich vom Staat allein gelassen. Viele von ihnen leben bis heute am Rande der Gesellschaft. „Mein Wunsch ist es, dass meine Enkel einmal ein normales Leben ohne Diskriminierung führen können“, so die heute über 80-jährige Surati, die 1965 in politische Gefangenschaft geriet. Sie und andere Opfer fordern Rehabilitierung und vor allem Aufklärung über die Ursachen der Verbrechen, unter deren Folgen sie bis heute leiden. Nichtregierungsorganisationen bemühen sich, die Leidensgeschichte der Opfer zu dokumentieren, damit diese nicht in Vergessenheit geraten. Sie sind es, die den Grundstein legen für eine zukünftige Aufarbeitung und ein politisches System, das zunehmend gerecht und demokratisch ist. <>