Angst vor der „zweiten Todeswelle“
Telepolis, 07. Januar 2005
http://www.telepolis.de/r4/artikel/19/19179/1.html
Harald Neuber
Die Geberkonferenz für die Katastrophengebiete in Südostasien verspricht vier Milliarden US-Dollar. Kofi Annan warnt vor Spätfolgen – dazu gehört auch der Krieg in Aceh
Hilfsleistungen in Höhe von vier Milliarden US-Dollar haben die Teilnehmer der internationalen Geberkonferenz am heutigen Donnerstag in der indonesischen Hauptstadt Jakarta zugesagt. Bei dem eilends anberaumten Treffen ging es in erster Linie um die Koordinierung der Hilfsmaßnahmen und einen Verteilungsschlüssel für die Hilfsgelder. Bei dem Treffen, das am Morgen mit einer Schweigeminute für die inzwischen 145.000 bestätigten Todesopfer begann, kam auch Bewegung in den Streit zwischen der US-Regierung und den Vereinten Nationen.
US-Außenminister Colin Powell gab bekannt, dass die 350 Millionen US-Dollar Soforthilfe der Verwaltung der UN unterstellt werden. Zudem erklärte Powell die von US-Präsident Bush deklarierte „Kerngruppe“ von Helferstaaten für aufgelöst. Bush hatte mit der Bezeichnung in der UNO für Unmut gesorgt, weil der Vorstoß dort als Versuch gewertet wurde, ein paralleles Krisenmanagement aufzubauen. UN-Generalsekretär Kofi Annan warnte indes vor den humanitären Spätfolgen der Flutkatastrophe:Wir haben den Überlebenden gegenüber die Pflicht, eine zweite Welle des Todes zu verhindern, die diesmal vermeidbare Ursachen hat. UN-Generalsekretär Kofi Annan
Dass dazu auch der andauernde Bürgerkrieg in der indonesischen Provinz Aceh gehört, fand in Jakarta (zumindest offiziell) keine Erwähnung. Seit 1976 kämpfen in der Provinz im Norden Sumatras Aufständische der „Bewegung freies Aceh“ (GAM) gegen die Zentralregierung des muslimischen Staates, um einen unabhängigen islamischen Staat zu etablieren. Hilfsorganisationen hatten schon unmittelbar nach der Flutkatastrophe Ende Dezember Behinderungen durch Mitglieder der indonesischen Streitkräfte in Aceh kritisiert. Mindestens 94.000 Tote waren alleine hier zu beklagen. Wegen der Militarisierung sei es schwierig gewesen, zu den Bedürftigen vorzudringen. Durch den weiter bestehenden „zivilen Notstand“ war es Helfern erst mit Verzögerung möglich, in das Innere Acehs vorzudringen.Die von der indonesischen Regierung zu verantwortenden Verzögerungen haben unnötig Leben gekostet. Aus einer Stellungnahme der US-Menschenrechtsorganisation Nonviolence International (1) gegenüber der Nachrichtenagentur IPS
Auch die in Großbritannien ansässige Menschenrechtsorganisation Tapol (2) bestätigte andauernde Militäroperationen in der Unruheprovinz. Staatspräsident Susilo Bambang Yudhoyono hebe den Ausnahmezustand in Aceh nicht auf, sagt Tapol-Mitarbeiter Paul Barber, daher spiele das Militär immer noch eine Hauptrolle in der Region.Schätzungen zufolge sind seit Beginn des Konfliktes von gut 28 Jahren 50.000 Soldaten nach Aceh verlegt wurden, wo sie 5.000 Rebellen gegenüberstehen. Eskaliert war der Bürgerkrieg, als die Regierung Ende Mai 2003 das Kriegsrecht in der Provinz ausrief, um gegen die Separatisten rigider vorgehen zu können. Ein Jahr später war der militärische Ausnahmezustand in den „zivilen Notstand“ umgewandelt worden. Tatsächlich hat die Armee die volle Kontrolle behalten, vor allem, weil die zivile Verwaltung durch den Krieg weitgehend entmachtet, die notwendige Infrastruktur zerstört wurde. Hilfsorganisationen fordern nun immer vehementer einen uneingeschränkten Zugang zu allen Teilen Acehs. Schließlich handele es sich nicht mehr um eine innere Angelegenheit Indonesiens, sondern um eine internationale Katastrophe.
Die Situation in Aceh lässt eine Fortführung der Kriegshandlungen einfach nicht zu. Die internationale Gemeinschaft muss daher mit der notwendigen diplomatischen Höflichkeit, aber doch bestimmt auf die Regierung in Jakarta einwirken. Alex Flor, Mitarbeiter der deutschen Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia!, im Gespräch mit Telepolis
Ein Sprecher der indonesischen Streitkräfte hatte gegenüber der Tageszeitung „Jakarta Post“ allerdings schon Ende Dezember zwei Aufgaben für die Armee in Aceh definiert (3): „Hilfe und Wahrung der Sicherheit“. Nach unbestätigten Berichten von Watch Indonesia! war es sogar noch zu Gefechten zwischen Armee und Rebellen gekommen, nachdem die Tsunami-Welle das Land verwüstet hatte. Dabei seien vier Menschen ums Leben gekommen, unter ihnen ein GAM-Kommandant. Andere Hilfsorganisationen berichteten, dass Flutopfer auf dem Weg zu Notunterkünften von Soldaten verhört wurden.Wenn der erste Schock über die Katastrophe vorüber ist und die Lage in Aceh wieder aus den internationalen Schlagzeilen verschwindet, droht eine Verschärfung des Konfliktes. Der Bürgerkrieg in Aceh nämlich hat in erster Linie soziale Ursachen. Schon vor der Flutkatastrophe lebte hier 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Am 26. Dezember wurden ganze Städte und Dörfer zerstört, Äcker und Weideland durch das Salzwasser schwer geschädigt. Eine „zweite Todeswelle“ könnte Aceh also durchaus treffen. Weniger Aufsehen erregend, aber dafür langfristiger und verheerender.
Links
(1) http://www.nonviolenceinternational.net
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