Gedenkfeier für die Opfer des Konflikts in Aceh
09. Juni 2010
von Fabian Junge
Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der indonesischen Regierung und der Unabhängigkeitsbewegung für Aceh (GAM) bleiben in dem Vertrag eingegangene Verpflichtungen zur Einrichtung einer Wahrheitskommission und eines Menschenrechtsgerichts unerfüllt. Trotz anhaltender Straflosigkeit erinnern Opfer von Menschenrechtsverletzungen an Schlüsselereignisse des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts. Am 3. Mai 2010, gedachten sie in einer Zeremonie, die öffentliche Anhörungen von Überlebenden und die Grundsteinlegung eines Mahnmals umfasste, der Opfer des sogenannten Simpang-KKA Massakers.
“Für Menschen außerhalb Acehs ist der 3. Mai vielleicht ein Tag wie jeder andere. Aber für uns hat dieses Datum eine besondere Bedeutung, denn dies ist der Tag an dem wir in Panik wegrannten, an dem man auf uns schoss und an dem wir viele geliebte Menschen verloren.“ Mit diesen Worten eröffnete ein Mitglied der Opferorganisation K2HAU (Kelompok Korban Pelanggaran HAM Aceh Utara – Vereinigung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Nordaceh) den Tag des Gedenkens an das Simpang-KKA-Massaker. Der Begriff beschreibt die schweren Menschenrechtsverletzungen, die am 3. Mai 1999 am Rande der Industriestadt Lhokseumawe, Nordaceh, verübt wurden.
Damals eröffneten Militäreinheiten das Feuer auf mehrere tausend Demonstranten, die sich an einer Straßenkreuzung nahe der Papierfabrik Kertas Kraft Aceh (KKA) versammelt hatten. Mindestens 49 Personen starben, 156 weitere wurden verletzt. In den Tagen vor dem Massaker kamen Soldaten einer örtlichen Militäreinheit in das an der KKA-Kreuzung gelegene Dorf Cot Murong und misshandelten mehrere Bewohner in einer Suchaktion nach einem Soldaten, der angeblich zuletzt in dem Dorf gesehen wurde. In Verhandlungen kamen Militär und Dorfbewohner dann überein, dass erstere das Dorf nur mit Erlaubnis der Gemeinde betreten durften. Als das Militär dieses Abkommen verletzte, wurde für die Demonstration an der KKA-Kreuzung mobilisiert, wo das Massaker stattfand 1.
Die Gedenkfeier, die an dem Ort des Massakers stattfand, zielte darauf ab, die Opfer zu ehren, ihre individuellen Leidensgeschichten aufzuzeigen und um Unterstützung für die Forderung nach einer acehnesischen Wahrheits- und Versöhnungskommission zu werden. Etwa 1.000 Personen – Opfer, örtliche Anwohner, Mitglieder der Regierung Nordacehs, Journalisten und NGO-Vertreter – nahmen an der Veranstaltung teil.
Zum Beginn des Gedenktages rezitierte ein Prediger Koranverse und sprach Gebete für die Opfer des Massakers und ihre Familien. Murtala, Vorsitzender von K2HAU, hieß die Teilnehmer willkommen. Er sprach über die schlechten Lebensumstände der Opfer und gab seiner Enttäuschung über das Ausbleiben dringend benötigter psychischer und physischer Gesundheitsversorgung Ausdruck.
Ein Höhepunkt des Tages waren die öffentlichen Anhörungen von fünf Überlebenden des Simpang KKA-Massakers. Fünf NGO-Vertreter leiteten die Anhörung und fungierten als Kommissionäre in dieser zivilgesellschaftlichen Version einer Wahrheitskommission. Das Modell für die Übung lieferte ein Gesetzentwurf für eine Wahrheitskommission, den acehnesische NGOs im Jahr 2007 der Provinzregierung übergeben hatten – bis heute ohne konkrete Reaktion.
Die Juristin Khairani Arifin stand der Kommission vor. Sie sprach den aussagenden Überlebenden ihre Dankbarkeit und Respekt aus und lud sie dann ein, ihre Erlebnisse zu schildern:
„Ich war damals 13 Jahre alt und wohnte mit meiner Familie an der KKA-Kreuzung. Ein paar Bekannte nahmen mich mit auf die Demonstration. … Gegen Mittag setze ich mich an der überfüllten Kreuzung hin, um auszuruhen. Die Stimmung zwischen Militär und Demonstranten wurde immer angespannter, und auf einmal fingen die Menschen an zu rennen. Dann fing das Militär an zu schießen. Ich warf mich auf den Boden, um den Kugeln auszuweichen. Neben mir sah ich einen Mann auf seiner Frau liegen, er umarmte sie und versuchte, sie zu beschützen. Er wurde vor meinen Augen erschossen. … Alles geschah so schnell. Meine Hose war voller Blut, aber ich dachte es wäre das Blut von jemand anders. … Nachdem die Schüsse aufgehört hatten, hob mich jemand in einen Krankenwagen. Erst da merkte ich, dass ich angeschossen worden war. … Man brachte mich ins Krankenhaus und ich wurde operiert. … Währen der ersten Nacht im Krankenhaus versammelten sich alle Verletzten in einem Raum. Wir hatten Angst dass das Militär kommen und uns entführen würde. Während des Konflikts waren Entführungen nicht unüblich in unserer Gegend.“
„An dem Tag war ich 17 Jahre alt. … Meine Mutter verbot mir am Morgen, zu der Demonstration zu gehen. Aber ich war neugierig und ging mit ein paar Freunden hin. … Die Kreuzung war voll von Menschen und die Atmosphäre angespannt. Jemand rief ‚die Frauen nach vorne, die Frauen nach vorne, sie werden es nicht wagen auf die Frauen zu schießen.‘ Einige warfen Steine auf das Militär. … Als die Schießerei losging, lief ich mit der Menge und versteckte mich in einem der Kioske am Straßenrand. Ich legte mich auf den Boden, aber meine Beine schauten aus der Tür raus, in die Richtung der Soldaten. … Als die Schießerei aufhörte, versuchte ich aufzustehen, aber meine Beine waren angeschossen. Später fand ich heraus, dass ich 19 Kugeln in meinen Beinen hatte.“
„Mein jüngstes Kind wurde mir an diesem Tag genommen. Damals verkaufte ich an der KKA-Kreuzung Reis, und an dem Tag war mein neun Jahre alter Sohn mit mir dort. .. Als die ersten Schüsse fielen, rannte ich weg und hielt ihn in meinen Armen. Aber dann fiel ich hin und verlor ihn in der Menge. Irgendwie wurde ich in einen der Läden am Straßenrand gedrängt. Viele Leute versteckten sich dort. Ich wollte rausgehen und meinen Sohn suchen, aber die anderen ließen mich nicht. Ich rief seinen Namen. Als das Militär weg war, suchte ich nach ihm aber jemand sagte mir er sei bereits im Krankenhaus. Erst später fand ich heraus, dass er an der Kreuzung gestorben war. … Ich kann diesen Tag nie vergessen, ich kann nicht akzeptieren, dass mein Sohn fort ist.“
„Ich war 15 Jahre alt damals und bereitet mich gerade auf meine Abschlussprüfung an der Schule vor. … Ich ging zu der Demonstration in meiner Schuluniform. Die Leute dort sagten, ich solle nach Hause gehen, aber ich hatte Angst, mich allein auf den Weg zu machen. … Ich wurde von den ersten Schüssen getroffen. Halb bei Bewusstsein hörte ich die Schüsse und schreiende und rufende Leute. Ich wurde ohnmächtig und wachte erst wieder auf, als ich schon im Krankenhaus war. Eine Kugel hatte mich am Kopf getroffen und ich musste mehrere Male operiert werden. … Ich habe immer noch Kugelsplitter im Kopf, aber ich kann mir die nötige medizinische Behandlung nicht leisten. … Ich hoffe, dass sich diese Gewalt nicht wiederholt. Die Regierung muss uns Opfern Aufmerksamkeit schenken. Die Verantwortlichen müssen vor Gericht gestellt werden, eine Wahrheitskommission sollte untersuchen, was genau passiert ist. Wenn die Täter nicht verklagt werden, fühlen sie sich ermutigt, ihr Handeln zu wiederholen, vielleicht noch Schlimmeres tu tun.“
Die Anhörung enthüllte die vielen Facetten individuellen Leidens im Zuge des Simpang KKA-Massakers. Sie zeigte, dass die Erinnerungen an das Ereignis und die Auswirkungen der erlittenen Verletzungen bis heute das Leben der Betroffenen bestimmen. Die Wut und Trauer der Überlebenden wurde spürbar – sei es über den Verlust eines geliebten Menschen, über eine permanente physische oder emotionale Verletzung oder über die verringerten Chancen, die eigenen Lebensziele zu erreichen. Die fünf NGO-Kommissionäre werden nun einen Bericht über die Anhörung an die Regierung Acehs verfassen, der die dringende Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während des Konflikts unterstreichen soll.
Auf die Anhörung folgte die Grundsteinlegung eines Denkmals für die Opfer des Massakers durch einen Vertreter des Regenten von Nordaceh und Mitglieder des lokalen Parlaments. Gebete und Gesänge begleiteten die Zeremonie, die um 12.30 gehalten wurde, dem Zeitpunkt, an dem 11 Jahre zuvor die ersten Schüsse fielen. Ein religiöser Führer segnete den Stein. Neben dem Grundstein wurden Bilder von drei verschiedenen Entwürfen für das Monument ausgestellt. In Beratung mit dem lokalen Parlament werden Opfer und Anwohner einen der Entwürfe auswählen.
Die Entscheidung der Regierung von Nordaceh für die Errichtung des Denkmals kann als ein Erfolg der intensiven Lobbyarbeit des Opferverbandes K2HAU gewertet werden. Es ist das erste Mal, dass eine indonesische Regierungsstelle sich bereit erklärt, den Opfern von Menschenrechtsverletzungen durch ein Bauwerk im öffentlichen Raum Anerkennung zu verschaffen. Die Grundsteinlegung zeigt, dass es in der geänderten Machtkonstellation nach dem Konflikt möglich ist, auf lokaler Ebene symbolische Anerkennung durch staatliche Akteure zu erreichen.
Seit fünf Jahren setzen sich Opfer und NGOs für ein Menschenrechtsgericht und eine Wahrheitskommission in Aceh ein. Beide Instrumente sind im Friedensabkommen und dem nationalen Gesetz, dass dieses umsetzt, vorgesehen. Bis heute hat keine der Parteien des Friedensabkommens konkrete Schritte unternommen, um diese Versprechen umzusetzen. Die zivilgesellschaftliche Initiative zur öffentlichen Anhörung der Opfer vom 3. Mai war eine der ersten ihrer Art in Indonesien. Durch sie wurde den Überlebenden Raum gegeben, um öffentlich von ihren Erfahrungen zu berichten und ihnen dadurch ein Stück Anerkennung verschafft. Nachdem ihre Forderungen nach Aufklärung und Gerechtigkeit jahrelang ignoriert wurden, haben Opfergruppen in Nordaceh die Dinge in ihre eigenen Hände genommen und demonstriert, wie eine Wahrheitskommission für Aceh aussehen könnte. <>
1 Eine Zusammenfassung der Ereignisse finden Sie unter http://www.hrw.org/campaigns/indonesia/aceh0515.htm.