PESANTREN sind islamisch-religiöse Bildungseinrichtungen auf Java und in fast allen Regionen Indonesiens, die über eine jahrhundertealte Tradition verfügen - die sogar bis in die hinduistische Zeit zurückreichen soll. Alhadar schreibt in seinem Buch nicht in erster Linie über Pesantren, nimmt diese Institutionen jedoch als Gradmesser für die Bildungssituation in Indonesien. Rein oberflächlich betrachtet ist der Zustand, in dem sich das Bildungswesen Indonesiens heute befindet, schwer zu erfassen und auch nicht leicht zu beurteilen: zu groß ist der Staat Indonesien und seine einzelnen Regionen, Inseln sind zum Teil weit voneinander entfernt - nicht nur geographisch. Nimmt man die demographischen Daten, die zur Verfügung stehen, lässt sich feststellen, dass die Analphabetenrate für ganz Indonesien in den letzten drei Jahrzehnten entscheidend kleiner geworden, die Quote der Schulabbrecher in der sechs Jahrgänge umfassenden Grundschule (SD) jedoch erschreckend hoch ist. (Bei Analphabetismus kommt immer schnell die Frage auf, was sind die Kriterien für einen Analphabeten? Ist ein Mensch, der zwei Jahre die Schule besucht hat, kein Analphabet mehr? Die Chancen für ihn, einen qualifizierten Job zu bekommen sind vermutlich nicht besonders hoch ...).
Für Alhadar steht vor allem eine Frage im Vordergrund, die wirklich sehr spannend und kontrovers ist: Kann ein Bildungssystem, das relativ unreflektiert und vor allem beinahe unverändert aus dem westlichen Industriestaatenraum übernommen und kopiert wurde, eine adäquate und vielversprechende Lösung für einen asiatischen Staat darstellen, der bei allen existierenden Verknüpfungen zur westlichen Welt soziologisch und kulturell vollkommen anders ist als bspw. die Niederlande, von wo das Schulsystem weitgehend übernommen wurde?!
Pesantren sind für Alhadar aus zweierlei Gründen ein lohnendes Untersuchungsobjekt. Zum einen verbrachte Alhadar selbst einige Jahre seiner Kindheit in einem Pesantren, zum anderen sind Pesantren Bildungseinrichtungen, die sehr stark in den ländlichen Regionen verwurzelt sind. Indonesien ist bei aller Verstädterung, die auch dort im Gang ist, zum allergrößten Teil ein Staat der Dorfregionen, z.T. so sehr, dass etliche Dörfer viele Tagesreisen von der nächsten kleinen Provinzstadt entfernt liegen. Alhadar vergleicht die sozial-industrielle Entwicklung Europas mit der Vergangenheit, Gegenwart und den Traditionen Indonesiens (mit Schwerpunkt auf Java). Der zentrale Punkt sind für ihn die Werte und Moralvorstellungen. Während die europäisch-westlichen Zivilisationen sehr leistungs- und zielorientiert ausgerichtet sind, sieht er in der indonesischen Gesellschaft eine sehr traditionelle, den Kontinuitäten verpflichtete Zivilisation - eben genau das Gegenteil von dem westlichen Höher-Schneller-Weiter. In der westlichen Erziehung sollen Individuen wachsen (die miteinander konkurrieren ...), in der indonesischen Gesellschaft geht es um ein eng verwobenenes Miteinander, verbunden mit zum Teil unumstößlichen gegenseitigen Verpflichtungen und Verbindungen. Diese gesellschaftlichen Grundwerte der indonesischen Gesellschaft kollidieren nun mit der individualistisch-leistungsorientierten Struktur der Schulbildung und führen zu schwer lösbaren Konflikten für jeden einzelnen Schüler. Dies gilt natürlich insbesondere für die ländlichen Gegenden Indonesiens. Hier sieht Alhadar eine eindeutige Chance für die Pesantren: in ihrer heute schon existierenden Vielfalt (von sehr einfachen Pesantren mit angeschlossener Grundschule, bis hin zu universitären und fachlich ausgerichteten Pesantren), können sie eine interessante Alternative und Vorbild für eine Umstrukturierung des indonesischen Bildungssystems sein. Alhadars Publikation stellt eine lohnende Lektüre dar, geschrieben von einem "Insider", der wie er selbst schreibt, sowohl in der indonesischen, als auch in der westlichen Welt sozialisiert ist. Umfangreich und vertiefend sind v.a. die Kapitel über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa und Indonesien.
A.Hadar, Ivan, Bildung in Indonesien: Krise und Kontinuität - Das
Beispiel Pesantren, Frankfurt/M: IKO - Verlag für interkulturelle
Kommunikation, 1999
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