Portugals politische Kultur hat sich geändert seit Anfang September 1999. Das Entsetzen über die brutalen Racheakte pro-indonesischer Milizen nach dem Referendum in Timor hat über alle politischen und weltanschaulichen Differenzen hinweg die Portugiesen ergriffen und zu einer Solidaritätsbewegung und Politisierung geführt, wie sie das Land seit der Aufbruchstimmung nach dem 25. April 1974 nicht mehr erlebt hat. Ob spontan oder organisiert, still betend oder laut anklagend und einfordernd, privat oder politisch, mit einfachsten Mitteln oder mit großzügigen Gesten, in den Städten oder in der Provinz, ob jung oder alt, jeder fühlte sich auf seine Art und mit seinen Möglichkeiten dazu aufgerufen, dem grausamen Morden und Brandschatzen im Bruderland etwas entgegenzusetzen und seinen Beitrag dazu zu leisten, dass die Menschen in der ehemaligen Kolonie nach den langen blutigen Auseinandersetzungen mit der indonesischen Besatzungsmacht endlich in einem freien Land und in Frieden leben können, in Timor Lorosae.
"Ich habe Glück gehabt, als sie mich 1972 als Soldat nach Timor geschickt haben," sagte Sr. Domingos, ein Bauarbeiter aus Grândola. "Wir haben doch nur unsere Gärten bestellt und ansonsten gab es keinen Ärger mit den Timoresen. Wir sind gut mit ihnen ausgekommen, da erging es den anderen in Afrika viel schlechter. Erst als die Indonesier 1975 kamen, ging es auch da los. Die haben mehr als 100.000 in einem Jahr Besetzung auf dem Gewissen, aber da waren wir viel zu sehr mit der Veränderung im eigenen Land beschäftigt." Später, seit Mitte der 80iger Jahre rückten weitere Horrormeldungen von Übergriffen und Massakern Ost-Timor wieder ins Zentrum portugiesischer Berichterstattung und führten zu zögernden Interventionen auf internationaler politischer Ebene. Seit dem Massaker auf dem Friedhof von Santa Cruz, bei dem 1991 im November 271 Menschen umkamen, meist wehrlose Jugendliche, die sich für die Unabhängigkeit eingesetzt hatten, flohen immer mehr Ost-Timoresen u.a. nach Portugal, verschafften dem Anliegen des Volkes der Maubere Gehör und Solidaritätsgruppen forderten ein entschiedeneres Eingreifen Portugals, begleitet von einer z.T. engagierten Presse. Anlässlich wiederholter Nachrichten über Terror und Massaker im Inselstaat und der andauernden Inhaftierung des Widerstandsführers Xanana Gusmão, dem ‚Mandela aus Timor', trat die portugiesische Musikgruppe Trovante mit der Hymne "Ai, Timor" auf, die in den letzten Jahren auf keinem der bei Jugendlichen so beliebten Konzerte und Festivals fehlte und zu der alle einstimmten- sich mit Lichtern in den Händen wiegend. Schon zu anderen Fragen hatte sich die Generation der nach dem 25. April Geborenen dank besserer Schulausbildung nicht nur mit erhöhten Konsumansprüchen hervorgetan, sondern auch mit kritischer Haltung gegenüber der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der letzten Jahre.
"Wie die Menschen jetzt in Timor unter ständiger Angst leben, Hunger, die Wahl zwischen Flucht ins Ausland oder Widerstand, die Frauen mit den Kindern allein, weil die Männer in den Bergen sind. So was kennen wir doch auch noch zu gut aus den Zeiten vor 1974. Schrecklich war das," erinnert sich der Taxifahrer Sr. António. "Aber dann hatten wir das Glück, dass unser Militär Schluss mit der Diktatur gemacht hat, dass wir jetzt in einer Demokratie leben. Und uns geht es immer besser, kein Vergleich zu damals! Was da jetzt in Timor los ist, das hätte uns genauso passieren können." So fühlen viele und entsprechend freudig wurde Anfang des Jahres die überraschende Nachricht aufgenommen, dass der indonesische Präsident Habibie endlich der Klärung der Frage der Unabhängigkeit Ost-Timors durch ein Referendum unter UN-Aufsicht zustimmte. Zweifel mischten sich in die Hoffnung auf ein baldiges friedliches Ende der Auseinandersetzungen mit Indonesien als sich die Vorbereitungen für die Volksbefragung hinauszögerten und immer mehr Verwirrung durch die Behauptung gestiftet wurde, es handele sich in Ost-Timor bereits um einen Bürgerkrieg wie in den ehemaligen afrikanischen Kolonien nach der Unabhängigkeit. Mit Bewunderung verfolgte man in den ausführlichen Nachrichtensendungen im Fernsehen und in Presseberichten unter welchen Mühen und mit welcher Entschiedenheit und Disziplin sich die ca. 400.000 verbliebenen Wahlberechtigten in die Wählerlisten einschrieben - trotz aller Repressalien, Anschläge und Morddrohungen von Seiten der pro-indonesischen Milizen, deren Ausbildung, Bewaffnung und Zusammenarbeit mit der offiziellen indonesischen Armee ständig geleugnet wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Volk der Maubere 200.000 Opfer indonesischer Besatzungspolitik zu beklagen. Das eindeutige Ergebnis des Referendums: bei ca. 98 % Wahlbeteiligung hatten sich fast 80 % für ein unabhängiges Timor Lorosae ausgesprochen.
Die Bilder der ungeheuren Racheakte, die dem Referendum folgten, waren rund um den Globus auf den Bildschirmen zu sehen. Dili wurde in Schutt und Asche gelegt. Überall verzweifelte Menschen auf der Flucht, um ihr nacktes Leben zu retten, ohne ihre toten Angehörigen noch bestatten zu können. Insbesondere Einrichtungen der katholischen Kirche waren im ganzen Land Zielscheiben der Zerstörungswut. "Die Hoffnung auf ein freies Timor wird vor den Augen der Welt zerstört. Ganz Portugal kocht vor Wut und Verzweiflung. Alle haben Ideen, machen Vorschläge, solidarisieren sich. Ministerien, öffentliche Einrichtungen und Betriebe, Gewerkschaften, Vereinigungen, Sportvereine, Stadtteilgruppen, Gemeindeverwaltungen, Hausgemeinschaften ... . Ganz plötzlich - nur vergleichbar mit der Stimmung während des 25. April - herrschte allerorts Brüderlichkeit, nationaler Konsens und Zusammenhalt, weder gespalten durch Parteien, noch durch Fußballclubs oder die Religion. Eine Woche lang haben die Portugiesen auf der nördlichen Halbkugel die Schreie des Terrors ertönen lassen, die man auf der anderen Seite, in Timor, hört," beginnt ein Artikel in der Sonderausgabe der Zeitschrift VISÃO, deren Auflage von 250.000 Exemplaren in 2 Tagen vergriffen war und deren Erlös aus Anzeigen und Verkauf allein 500.000 DM für die Diözese in Baucau einbrachte. Ganz Portugal verfolgte beeindruckt am Fernseher den überwältigenden Empfang, den die Lissabonner Bevölkerung dem timoresischen Friedensnobelpreisträger von 1996, Bischof Ximenes Belo, bereitete, als über 100.000 in Weiß gekleidete Menschen seinen Weg vom Flughafen in die Innenstadt säumten und hörten verwundert seine Predigt, die von der Notwendigkeit der Vergebung handelte. Mit diesem Gedankengut setzten sich in der Folge Predigten im ganzen Land auseinander, immer mehr Kirchengemeinden und kirchliche Einrichtungen solidarisierten sich, beteten und sammelten für ihre bedrohten Glaubensbrüder.
Die vielen spontanen und organisierten Menschenketten in den Städten fanden ihre Fortsetzung in einem weltweiten Kettenbrief - mit 750.000 Gratisbriefen von der Post initiiert - auf Englisch, Französisch und DEUTSCH, der die Regierungen anderer Länder dazu aufforderte, so schnell wie möglich zunächst Schutztruppen nach Ost-Timor zu schicken. Es gab in ganz Portugal wohl keinen größeren und kleineren Ort, in dem nicht einzelne oder viele Fenster mit weißen Laken oder auch nur einem weißen, kopierten oder beschrifteten Blatt Papier Anteilnahme signalisierten, durch den nicht Autos mit weißen Stoffbändern fuhren - die offensichtlich nicht Reste einer kürzlich stattgefundenen Hochzeitsfeier waren. Auf Reklameflächen und in bis zu ganzseitigen Zeitungsannoncen solidarisierten sich Versicherungen und andere Unternehmen. In größeren Betrieben erwarteten Angestellte und Arbeiter, dass die Firmenleitungen Vorschläge dazu unterbreiteten, wann die ‚Stunde für Timor' gearbeitet werden sollten. Geschah dies nicht, so brachten die Gewerkschafter, oder einzelne ihre Vorstellungen dazu ein. Vor Rathäusern, Gemeindeverwaltungen und Museen im Alentejo hingen weiße oder schwarze Transparente mit der Aufschrift: Solidarität mit Timor Lorosae. In Lissabon waren fast alle Denkmäler nationaler Helden oder Krieger vor Scham schwarz verhüllt, in Sines blickte Vasco da Gama miteiner weißen Schärpe verziert aufs Meer hinaus. Zum Schulanfang regte das Erziehungsministerium die Lehrer dazu an, mit ihren Klassen Patenschaftsprojekte zur Unterstützung des Wiederaufbaus von Schulen in Timor zu initiieren - sofern dies nicht sowieso schon geplant oder von Schülern vorgeschlagen war.
Bei all den nur unvollständig zu berichtenden großen und kleinen Initiativen ist die positive Rolle vieler Massenmedien nicht zu vergessen, die in engagierter Form ihrer Informations-, Aufklärungs- und Kommunikationsaufgabe gerecht wurden. Ausnahmslos alle Zeitungen berichteten täglich. Der Público widmete dem Thema Timor jeden Tag 10 bis 20 (!) Seiten, veröffentlichte Treffpunkte, Termine und Adressen von Initiativen und Demonstrationen. Die Fernsehnachrichten verlängerten sich oft von 30 Minuten auf fast eine Stunde und waren durch das offen gezeigte persönliche Engagement der Berichterstatter und Redakteure fesselnder als so manch eine der üblichen Telenovelas. Auch im Radio wurden neue Entwicklungen ständig dazwischen geblendet, einige Sender hatten ihr ganzes Programm rund um die Uhr Timor gewidmet, die RDP plante dem timoresischen Widerstand so schnell wie möglich einen kompletten Sender zur Verfügung zu stellen. Weniger sichtbar, aber um so vielfältiger und sehr effektiv wurden die neuen Medien wie Internet und E-Mail eingesetzt. Sie schafften Menschen, die nicht in den städtischen Ballungszentren wohnen, Möglichkeiten, weit über ihren örtlichen Radius hinaus aktiv zu werden.
"Das ist nach den Juden der kaltblütigste geplante Völkermord des Jahrhunderts! Da muss die Welt doch aufschreien und nicht nur wir Portugiesen!" rief eine Alte empört in die Runde in der Altentagesstätte. "Und jetzt machen sie auch noch Konzentrationslager aus den sogenannten Flüchtlingslagern im Westteil von Timor, die haben sie doch alle dahin verschleppt und nun sind diese unschuldigen und wehrlosen Menschen auch noch Gefangene! Das kann ich nicht mehr mit ansehen! Und die großen Politiker reden und reden. Diese armen Menschen leiden und sterben und keiner will so recht was gegen die Indonesier tun!" Niemand widersprach, alle waren sie in den letzten Wochen zu geschockt und entsetzt über die grausamen Bilder vom brennenden Dili, von Familien mit Alten und Kindern auf der Flucht in die Berge, die dort unter Hunger und Durst litten und von dem unendlichen menschlichen Leid an anderen Zufluchtsorten, die wiederum zu Angriffspunkten der Milizen wurden. So grausam und so opferreich hatte sich niemand diesen demokratischen Schritt Ost-Timors in die Unabhängigkeit vorstellen können.
Auch wenn portugiesische Politiker in jenen Wochen - bevor sie in den
Alltag des Parlamentswahlkampfes zurückkehrten, für den ausdrücklich
das Thema nicht instrumentalisiert werden soll - sich unermüdlich
und ohne Rücksichtnahme auf den Wirtschaftspartner Indonesien für
die Sache des timoresischen Volkes eingesetzt haben, war es für Portugals
Volk und Intellektuelle nur schwer zu ertragen, wie vergleichsweise langsam
die Prozesse in der internationalen Diplomatie und für den Einsatz
einer UN-Schutztruppe liefen. Besonders desillusionierend war es dann mit
ansehen zu müssen, wie unter Achtung der Hoheit Indonesiens über
Ost-Timor die mit Jubel begrüßten Soldaten weiteren Verbrechen
machtlos gegenüberstanden und wie schwierig es ist Lebensmittelhilfen
gezielt und unversehrt zu landen, um dem sinnlosen Sterben ein Ende zu
setzen. Weitere Beweise für die Worte Xanana Gusmãos vom 12.
September: Não há tempo a perder! Es gilt keine Zeit zu verlieren!
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