Indonesien-Information Nr. 1/2003 (Terrorismus)

 

 
 
 

Korruption, Rechtlosigkeit: Die Wurzel aller Probleme

Interview mit Franz Magnis-Suseno *


Die indonesische Gesellschaft ist psychisch krank, weil sie ihren Sinn für Menschlichkeit verloren hat. Gut veranschaulicht  wurde dies letzte Woche, als Journalisten im ganzen Land ausschwärmten, zusammen mit dem mutmaßlichen Attentäter der Bali-Anschläge, Amrozi, und dem Polizeichef General D’ai Bachtiar, welche Hände schüttelnd und lachend vor den Fotografen posierten. Franz Magnis-Suseno, Professor an der Driyarkara School of  Philosophy in Jakarta, sprach darüber und über andere Dinge mit Muhammad Nafik und Sri Wahyuni von der Jakarta Post.

Frage: Was sagen Sie zu den Bildern eines lächelnden Polizei-Generals, der Hände schüttelnd mit dem mutmaßlichen Terroristen Amrozi vor den Kameras posiert?

Antwort: Ich war sehr überrascht über die Bilder (von D’ai und Amrozi, die sich gegenseitig zulächeln). Es zeigt, dass wir alle kollektiv unverschämt sind. Wir wissen nicht, was angemessen ist und was nicht. Das ist eine typische Situation für unsere Gesellschaft. Die Ursache dafür liegt in unserem abgestumpften Sinn für Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Es ist schwierig, so etwas zu verstehen. Irgend etwas in uns scheint abgestumpft zu sein, und das ist sehr alarmierend.

Unser abgestumpfter Sinn für Menschlichkeit rührt wahrscheinlich daher, dass wir zu viel Blut vergossen und zu viele Gewalttaten verübt haben. Die Menschen finden es leicht, andere nicht als ihresgleichen zu betrachten, sondern als Tiere, die man erwürgen oder zerquetschen kann wie Kakerlaken.
Ich bin besorgt darüber, dass Jahrzehnte der Rücksichtslosigkeit und Demütigung gegenüber Menschen sowie die Tradition, Teile der Nation von anderen zu isolieren, Narben hinterlassen haben. Narben insofern, als dass die Menschen unberührt bleiben und es ihnen an Sensibilität mangelt. Spontane Entrüstung über Gewalt und Ungerechtigkeit sind nicht länger erkennbar, es sei denn, es hat etwas mit uns persönlich zu tun. Dies ist ein Zeichen für die Schwäche unser Moralkultur.

F: Könnten Sie das weiter erläutern?

A: Ich versuche, dies in Zusammenhang damit zu bringen, mit welcher Leichtigkeit unser Volk, vor allem aber Mitglieder des Sicherheitsapparats, andere umbringen. Die Kommunisten haben viele Menschen umgebracht, Geistliche und Militärangehörige, während die TNI (das indonesische Militär) viele Kommunisten ermordet hat, vor allem in der Folge des 1965er Coups. Millionen von Menschen haben ihre Würde verloren, und Versuche, sie zu rehabilitieren, stießen auf Proteste der Gesellschaft.

Wir sehen, wie sich dieselben Dinge anderswo ... wiederholen. Zum Beispiel in Osttimor, wo ein Viertel der Bevölkerung während der indonesischen Besatzung starb. Andere Beispiele sind Tanjung Priok und Lampung. Keiner (der Drahtzieher) ist jemals vor Gericht gestellt worden.

Ebenso sehen wir einen Mangel an Schuldgefühlen bezüglich Aceh. Wir sehen, dass die ungeheure Gewalt, die dort ausgeübt wird, in keinem Verhältnis steht zu dem Ziel der, sagen wir, Zerschlagung der GAM. Man mag darin übereinstimmen, dass die separatistische Bewegung eliminiert werden muss, aber warum mit so viel Mord und Folter, so vielen Vergewaltigungen und tödlichen Schießereien ohne jegliches Schuldgefühl?
Auch wir waren schockiert über die Bombenanschläge auf Bali. Die Reaktion der Regierung auf diese Tragödie war nicht schlecht, aber warum hätte der Vorfall nicht als eine nationale Tragödie bezeichnet werden sollen? Äußerungen von tiefem Bedauern gab es nicht.

F: Aber war die Nation nicht geschlossen in ihrer Verurteilung der Bombenanschläge?

A: Ja, sicherlich, aber es gab keine Reaktionen der Überraschung oder der Trauer, zum Beispiel, indem man vorgeschlagen hätte, die Nationalflagge auf Halbmast zu hissen. Ich glaube nicht, dass den Menschen so etwas überhaupt in den Sinn kam. Dies hat wiederum mit dem abgestumpften Sinn für Menschlichkeit zu tun.

Zum Teil kann man unser miserables Rechtssystem für dieses Problem verantwortlich machen. Ebenso wie unsere kulturellen Werte. Wir sorgen uns nicht mehr um einander. Zwischenmenschliche Beziehungen habe sich verschlechtert. Unser Sinn für Gemeinschaft hat sich in Kommunalismus verwandelt, wo sich Menschen nur noch innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, in einem bestimmten Dorf, einer bestimmten ethnischen Gruppe oder Religion, vollkommen verstehen können. Menschen mit anderen Hintergründen zählen nicht dazu, im Gegenteil, sie werden als Feinde oder Rivalen angesehen.

F: Wollen Sie damit sagen, dass unsere Gesellschaft psychisch krank ist?
 A: Ja. Die Gesellschaft ist verwirrt, und es mangelt ihr an einer Vision, nachdem sie so lange Zeit unterdrückt worden ist. Gleichzeitig gibt es keine Persönlichkeit, die helfen könnte, das Problem zu überwinden. Es gibt keine Persönlichkeit wie Sukarno (Indonesiens erster Präsident), dem es gelang, den Leuten zu vermitteln, dass man stolz darauf sein konnte, Indonesier zu sein. Wir sind zwar arm und können viele Dinge nicht tun, aber wir sind dennoch stolz darauf, Indonesier zu sein. Ich glaube jedoch, dass einer der Hauptgründe (für den Verlust an Menschlichkeit) darin liegt, dass das Leben der Menschen seit über 50 Jahren vom Militär dominiert worden ist.

Waffen und Unterdrückung waren die Mittel des Militärs, keiner konnte mit ihnen konkurrieren. Das Militär löste alle Probleme durch Schießereien, durch Folter usw. Und im Zusammenhang mit nationhood hat sich das Militär noch nicht wirklich reformiert.

F: Aber es gibt doch auch Gruppierungen unterschiedlicher Religion und ethnischer Herkunft, welche sich für Frieden, Harmonie und Pluralismus einsetzen?

A: Das ist richtig. Darum sollten wir nicht daraus schließen, wir seien völlig hoffnungslos. Selbst bei den Sicherheitskräften gibt es (positive) Werte, welche auf einen Anreiz warten, wiederbelebt zu werden. Auch die Sicherheitskräfte sind in der Lage, hohe Werte zu entwickeln. Aber momentan ist unser Leben miserabel, dem Gesetz wird bezüglich Korruption nur mangelhaft Geltung verschafft, und so kann nichts vernünftig funktionieren.

Korruption ist ein entscheidender Punkt, nicht nur in der Wirtschaft     oder weil sie unsere Justiz lahm legt, sondern auch, weil Korruption uns daran hindert, einen Sinn für Solidarität zu entwickeln. Korruption hat die Menschen egozentrisch gemacht. Unter solchen Umständen ist es für Indonesien schwierig, sich weiterzuentwickeln. Wir können nur vereint sein, wenn wir näher zusammenkommen.

F: Wie sollten wir Ihrer Meinung nach mit diesem Problem umgehen?

A: Wir müssen das Problem von oben nach unten [top-down] lösen. Von oben, das heißt, wir müssen rechtliche Schritte einleiten gegen diejenigen, die gewalttätig sind oder Straftaten begehen. Wir müssen Korruption auslöschen und korrupte Beamte und Mörder vor Gericht bringen. Es ist beispielsweise ein Jahr her, dass Theys Eluay (Unabhängigkeitsführer der Papua) ermordet wurde, aber bisher hat sich keiner dafür vor Gericht verantworten müssen. Wir brauchen nicht viel über Moral zu reden. Was zählt, sind Gesetz und Ordnung. Also lasst uns zunächst das Gesetz aufrecht erhalten. Wir müssen bekräftigen, dass wir zivilisierte Menschen sein wollen, und daher müssen harte Maßnahmen gegen alle unzivilisierten Taten ergriffen werden.

Auch Religion kann eine positive Rolle spielen. Doch wenn Religion exklusiv und engstirnig wird, dann wird sie Desintegration fördern. Religiöse Führer sind Vorbilder. Wenn sie ihre Anhänger zu Geduld, Toleranz, Fairness und zu Solidarität mit anderen ethnischen Gruppen und Religionen auffordern, dann kann sich Religion positiv auswirken.
Ich bin noch immer zuversichtlich, dass, wenn die Situation nicht mehr so chaotisch ist, der Sinn für Menschlichkeit, der schon abgestorben war, erneuert werden kann. Eine nationale Versöhnung ist wahrscheinlich nötig, aber sie sollte alle involvieren. Halbherzige Versuche werden gar nichts bringen. <>
 

* Das Interview erschien in der Jakarta Post vom 18. November 2002. Übersetzt aus dem Englischen von Jasmin Freischlad und Petra Stockmann
 
 

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