Indonesien-Information Nr. 1/2003 (Osttimor)

Friedenssicherung durch Recht:

Die Verfolgung schwerer Straftaten in Osttimor

 

von Marco Kalbusch *


1. Hintergrund

Am 27. September 2002 wurde Osttimor, der derzeit jüngste Staat der Welt, als 191. Mitgliedstaat von der 57. Vollversammlung in die Vereinten Nationen aufgenommen. Nur wenige Monate zuvor, am 20. Mai, erlangte Osttimor seine Unabhängigkeit, nach zweieinhalb Jahren Übergangsverwaltung durch die Vereinten Nationen, 24 Jahren indonesischer Besatzung und Guerillakrieg und über fünf Jahrhunderten portugiesischer Kolonialverwaltung 1. Diese Unabhängigkeit ist jedoch nicht das Ergebnis eines erfolgreichen bewaffneten Widerstandes. Herbeigeführt wurde sie letztendlich durch eine von den Vereinten Nationen durchgeführte Volksabstimmung, bei der 78,5 Prozent der Stimmberechtigten sich für die Unabhängigkeit von Indonesien entschieden.

Für diese Entscheidung sollte die Bevölkerung einen hohen Preis bezahlen. Nach dem Referendum vom 30. August 1999 wurden bis zur Ankunft der von Australien mit einem Mandat des Sicherheitsrates geführten internationalen Eingreiftruppe INTERFET 2 im Oktober 1999 über 200.000 Menschen von pro-indonesischen Milizen und Angehörigen von Polizei und Streitkräften aus ihren Dörfern und Städten vertrieben und gegen ihren Willen zusammen mit 80.000 Flüchtlingen nach Westtimor und in andere Teile Indonesiens gebracht 3. Hunderte wurden Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen, wie Mord, Folter und Vergewaltigung; mehrere Hunderttausend flüchteten in die Berge und die undurchdringlichen Wälder des Territoriums. Die gesamte Infrastruktur wurde in den Wochen nach dem 30. August zerstört. Diese Gewalt war jedoch nur der Höhepunkt eines blutigen Jahres 1999, in dem bewaffnete pro-indonesische Milizen, nach der Ankündigung einer Volksabstimmung über Osttimor durch Präsident Habibie im Januar, Unabhängigkeitsbefürworter und ihre Familienangehörigen töteten, entführten, folterten, vergewaltigten und ihr Eigentum zerstörten. 4

Gemäß dem indonesisch-portugiesischen Abkommen vom 5. Mai 1999 waren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung indonesische Sicherheitskräfte verantwortlich. Die Vereinten Nationen sollten die Abstimmung durchführen. UNAMET, die hierzu geschaffene VN-Mission, hatte weder das Mandat noch die Möglichkeit, sich selbst oder die Bevölkerung vor gewaltsamen Übergriffen zu schützen 5. Die indonesischen Behörden waren jedoch nicht in der Lage 6 oder willens 7, die Gewalt einzudämmen. UNAMET und ausländische Beobachter wurden evakuiert. Während indonesische Truppen und Milizen Osttimor verließen und bei ihrem Abzug weithin die Infrastruktur zerstörten 8, übernahm INTERFET am 20. September die Kontrolle über das Territorium.
 

2. Die Übergansverwaltung der Vereinten Nationen

Nach Monaten der Gewalt und der Zerstörung war Osttimor ein faktisch rechtsfreier Raum. Die Vereinten Nationen übernahmen am 25. Oktober 1999 die Ausübung der Staatsgewalt in dem Territorium, einschließlich der legislativen, exekutiven und judikativen Gewalten. Mit der Durchführung des Mandats wurde die Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Osttimor, UNTAET, vom Sicherheitsrat beauftragt 9. In der Welle der Gewalt nach dem Referendum waren auch Gerichtsgebäude und Archive zerstört worden, es fehlte an Verwaltungsbeamten und Juristen. Verwaltung und Justiz hatten alle ihre Funktionen eingestellt 10. Es galt, diese wieder aufzubauen, bevor UNTAET ihr eigentliches Mandat – den Übergang Osttimors in die Unabhängigkeit –  ausüben konnte.

Zudem richtete die Bevölkerung an UNTAET große Erwartungen. Die Bevölkerung war durch die politisch motivierte Gewalt stark traumatisiert und hatte dadurch ein großes Interesse an einer raschen Aufklärung der Gewaltexzesse. Sie forderte die Bestrafung der Täter und Gerechtigkeit für die Opfer.

In Absatz 16 der Resolution 1272 verlangte der Sicherheitsrat, dass die für die Gewalt Verantwortlichen vor Gericht gebracht werden. Obwohl die internationale Untersuchungskommission zu Osttimor 11 empfahl, dass eine unabhängige internationale Einrichtung für die Ermittlung der zwischen dem 1. Januar und dem 25. Oktober 1999 im Territorium begangenen Straftaten zuständig sein sollte, bevorzugte der Sicherheitsrat nationale Ermittlungen und Strafverfolgungen, sowohl in Indonesien wie auch in Osttimor. In Osttimor sollte diese Aufgabe von UNTAET wahrgenommen werden 12. Nach ersten Versuchen, die UNTAET-Zivilpolizei (CIVPOL) und das Menschenrechtsreferat (Human Rights Unit) mit dieser Aufgabe zu betrauen 13, wurde diese dann der neu gegründeten „Serious Crimes Investigations Unit“ (SCIU) übertragen. Eine für diese Straftaten zuständige Anklagebehörde wurde erst später als eigenständiger, international besetzter Teil der Übergangsstaatsanwaltschaft gegründet, dem die SCIU als Ermittlungsbehörde eingegliedert wurde 14. Dieser eigenständige Teil der Anklagebehörde wurde von einem Stellvertretenden Generalstaatsanwalt geleitet, in dessen Zuständigkeit die sogenannten schweren Straftaten („Serious Crimes“) fielen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Folter, sowie Sexualstraftaten und Mord, sofern die Tat zwischen dem 1. Januar 1999 und dem 25. Oktober 1999 begangen worden war 15. Das für die Strafverfahren zuständige Gericht war die gemischt besetzte Kammer für schwere Straftaten beim Bezirksgericht in Dili 16. Die Verteidigung wurde mangels selbständiger Rechtsanwälte von öffentlichen Verteidigern wahrgenommen, die kostenfreien Rechtsbeistand leisteten 17. Gericht, Anklage und Verteidigung waren ein integraler Bestandteil der von UNTAET eingerichteten Übergangsjustiz 18.

Ziel war es, die 1999 begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Den Opfern sollte Gerechtigkeit widerfahren, und Familien sollten ihre Toten begraben können. Es sollte aber auch dem im Aufbau begriffenen Staat eine Grundlage zur Versöhnung gegeben werden.
 

3. Das anwendbare Recht

Die von UNTAET auf der Grundlage der Resolution 1272 erlassene Verordnung Nr. 1999/1 bestimmte, dass in Osttimor das Recht anwendbar bleiben würde, welches vor dem 15. Oktober 1999 anwendbar war, sofern es nicht im Widerspruch zu international anerkannten Menschenrechtsstandards, wie sie in internationalen Konventionen, Pakten und Verträgen festgehalten sind, der Erfüllung des UNTAET-Mandats und späteren UNTAET-Verordnungen (lex posterior Klausel) steht 19. Sinn dieser Regelung war, ein Rechtsvakuum zu vermeiden und der Bevölkerung die erforderliche Rechtssicherheit zu geben 20. Einige Gesetze und Normen, die im Widerspruch zu internationalen Menschenrechten standen, wurden durch diese Verordnung abgeschafft. Dies waren die Gesetze zu Subversion, nationaler Sicherheit und Verteidigung, Mobilisierung und Demobilisierung und nationalem Schutz. Die Todesstrafe wurde ebenfalls abgeschafft.
 

3.1 Materielles Straftrecht

Das im Territorium anwendbare materielle Strafrecht hatte somit zwei Rechtsquellen: die Verordnung 2000/15 über die Errichtung von Strafkammern zur Verfolgung der schweren Menschenrechtsverletzungen, welche auch materielle Bestimmungen beinhaltete, und das Strafgesetzbuch der Republik Indonesien als subsidiäres Recht. Verordnung 2000/15 übernahm mehrere materiellrechtliche Bestimmungen des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs 21, wie zum Beispiel dessen Artikel 6, 7 und 8 über Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord 22, sowie die allgemeinen Bestimmungen zu Strafklageverbrauch 23, gesetzlicher Bestimmung der Straftat vor ihrer Begehung, subjektivem Tatbestand, Rechtfertigung, Schuld, Befehlshaber-Verantwortung und Ausschluss der Immunität von Inhabern öffentlicher Ämter. Die Verordnung übernahm auch, mit geringer Abweichung, den Wortlaut der Definition der Folter nach Artikel 1 der VN-Folterkonvention 24. Damit fanden verdienstvollerweise die neuesten Entwicklungen des Völkergewohnheits- und -vertragsrechts Eingang in nationales (Übergangs-)Recht 25, wobei jedoch die Klärung sich hieraus ergebender Widersprüche der Rechtsprechung überlassen blieb 26.
 

3.2 Strafprozessrecht

Das Strafprozessrecht wurde ausschließlich in Verordnung 2000/30 geregelt, welche ihre Hauptbestimmungen den Statuten der beiden internationalen Gerichtshöfe entnahm. Es entspricht eher dem kontinentaleuropäischen Recht, und der Richter hat eine zentrale Stellung im Strafverfahren. Den Opfern kommt eine besondere Rolle zu. Sie haben ein Anhörungsrecht auf allen Ebenen des Strafverfahrens und können von der Anklagebehörde bestimmte Ermittlungen verlangen, die das Opfer zudem über den Fortgang der Ermittlungen und des Verfahrens so weit wie möglich informieren muss 27. Opfer von Sexualstraftaten genießen besonderen Schutz: Ihre Aussage muss nicht durch weiteres Beweismaterial unterstützt werden. Konsens kann bei Zusammentreffen mit Freiheitsberaubung, Gewaltandrohung, Zwang und physischem Druck nicht als Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und Strafmilderungsgrund berücksichtigt werden; und das vorhergehende Sexualverhalten des Opfers ist kein zulässiger Beweis 28 im Verfahren.
 

3.3 Strafkompetenz

Für internationale Straftaten (Sect. 4, 5, 6 und 9 der UNTAET-Verordnung 2000/15) hatte die Übergangsjustiz die universelle Strafkompetenz. Für andere Straftaten, einschließlich der 1999 begangenen schweren Straftaten, Mord und Sexualstraftaten, richtete sich die Kompetenz nach dem weiterhin anwendbaren indonesischen Strafrecht. Dieses war zu osttimoresischem Übergangsrecht geworden und konnte somit UNTAETs Justiz auch extra-territoriale Zuständigkeit zuweisen, sofern dadurch nicht die Souveränität anderer Staaten beeinträchtigt wurde. Mangels Staatsqualität des Territoriums konnte bei der Anwendung des aktiven und passiven Personalitätsprinzips 29  nicht an die Staatsbürgerschaft von Opfer oder Täter angeknüpft werden; vielmehr musste nach einem der Staatsbürgerschaft ähnlichen Band, einem genuine link, gesucht werden, nämlich, ob die Betroffenen zum Zeitpunkt der Tat eine Verbindung mit dem Territorium hatten, aus der sie sich auf den Schutz von UNTAET berufen konnten 30. Dabei kam der gewöhnliche Aufenthalt im Territorium, aber auch das Verwandtschaftsverhältnis (eine Art ius sanguinis) mit Einwohnern des Territoriums als genuine link in Betracht, ohne Präzedenzfälle für ein späteres osttimoresisches Staatsbürgerschaftsrecht zu schaffen.
 

4. Ermittlungsstrategie

Ähnlich wie bei den beiden Ad-hoc-Tribunalen der Vereinten Nationen für Ruanda und Jugoslawien musste die Ermittlung von Null an begonnen werden, basierend auf den Prinzipien der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität mit dem Ziel, die Täter vor Gericht zu bringen. Die Beweise für die Verfahren, die vor der multinational zusammengesetzten Kammer für schwere Straftaten des von UNTAET errichteten Bezirksgerichts in Dili 31 geführt wurden, sollten auch vor einem internationalen Tribunal oder einem indonesischen Gericht standhalten können, um eventuellen Vorwürfen einer „Siegerjustiz“ den Boden zu entziehen.
 

4.1 Prioritäten

Wenn auch das Mandat der Behörde universell und, außer bei Mord und Sexualstraftaten, zeitlich unbeschränkt war, so mussten aufgrund der beschränkten Mittel Prioritäten bei den Ermittlungen gesetzt werden. Somit entschied man, sich zunächst auf die 1999 begangenen Straftaten zu konzentrieren. Allein für das Jahr 1999 waren der SCIU bei Beginn ihrer Arbeit von CIVPOL und dem Menschenrechtsreferat achthundert Einzelfälle übergeben worden, die zum Teil noch von INTERFET erstellt worden waren. Diese galt es zunächst zu registrieren und auszuwerten. Bald stellte sich heraus, dass die zusammengetragenen Beweise oftmals nicht zur Anklageerhebung nach international anerkannten Standards ausreichten.32

Aufgrund der beschränkten personellen Kapazitäten 33  konzentrierten sich die Ermittlungen zunächst auf 10 Vorfälle des Zeitraums vom 1. Januar bis 25. Oktober 1999, welche auch von der Bevölkerung als herausragend wahrgenommen wurden. Dies waren die Ermordung von Priestern und Nonnen in Los Palos 34, die Massaker in der Kirche von Suai, im Pfarrhaus von Liquica und in den Polizeistationen von Maliana und Kailako, die Angriffe auf das Haus von Manuel Carrascalao und die Residenz von Bischof Belo, die Massaker in der Exklave Oecussi, die Tötung von 10 UNAMET-Ortskräften, in dem fraglichen Zeitraum begangene Sexualstraftaten 35 und die vom TNI-Bataillon 745 begangenen Straftaten, einschließlich der Ermordung des niederländischen Journalisten Sander Thoenes 36.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschrechte und der Garantie eines fairen Verfahrens bei den Ermittlungen berücksichtigt werden musste, war die Existenz von 74 Untersuchungshäftlingen, die von INTERFET festgenommen worden waren und zum Zeitpunkt des Beginns der Ermittlungen bereits bis zu 8 Monate in Untersuchungshaft 37 saßen. 40 Verdächtige konnten, nachdem die meisten Beweise gesichert waren, unter Auflagen freigelassen werden. Fluchtgefahr bestand bei der in sich sehr vernetzten Gesellschaft Osttimors kaum. Zudem war die Grenze zu Indonesien aufgrund der starken Blauhelmpräsenz kaum durchlässig. Die Dorfältesten verhinderten Kraft ihrer Autorität, die mehr wog als die von CIVPOL, die Flucht, die geographischen Gegebenheiten taten ein Übriges. Die anderen wurden entweder wegen einzelner Straftaten angeklagt und nach verhältnismäßig kurzen Verfahren verurteilt oder konnten mit den 10 genannten Hauptfällen in Verbindung gebracht werden.
 

4.2 Die Straftaten

Bereits früh wurden bei den Geschehnissen von 1999 Ermittlungen zum Völkermord mangels stichhaltiger Hinweise eingestellt 38. Ein Völkermord hätte nur vorgelegen, wenn die Bevölkerung aus ethnischen, nationalen, rassischen oder religiösen Gründen Ziel der Angriffe gewesen wäre oder sie mit dem Ziel der Vernichtung angegriffen worden wäre 39. Während die in Verbindung mit der indonesischen Besatzung begangenen Straftaten noch nicht ausreichend ermittelt wurden, konnte die Anklagebehörde nach dem Stand der Ermittlungen bei den 1999 in Verbindung mit der Volksabstimmung begangenen Straftaten keine Tatbestandsmerkmale des Völkermordes erkennen. Die Angriffe waren politisch motiviert: Die Volksabstimmung sollte verhindert oder die Bevölkerung so eingeschüchtert werden, dass sie sich für Autonomie und gegen Unabhängigkeit des Territoriums aussprechen würde 40. Die Vertreibungen wiederum sollten bei der Weltöffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Flüchtlingslager Indonesiens einem unabhängigen Osttimor vorzog, so dass der Volksabstimmung die Legitimität abgesprochen werden konnte.

Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden weitergeführt und intensiviert. Ein objektiver Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit war das Vorhandensein eines breiten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung. Es galt, für das Jahr 1999 einen solchen Angriff nachzuweisen. Im Gegensatz zu den Statuten des ICTR (Internationales Straftribunal für Ruanda) und ICTY (Internationales Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien) war der Nachweis des Vorhandenseins eines bewaffneten Konflikts auf dem Territorium nicht erforderlich. Dieser Nachweis musste jedoch bei einer Anklage wegen Kriegsverbrechen erbracht werden und war aufgrund verschiedener zu klärender völkerrechtlicher Fragen, wie z.B. der Frage nach dem Kombattantenstatus der Milizen und der Widerstandskämpfer von FALINTIL und jener, ob 1999 noch bewaffnete Kampfhandlungen stattgefunden haben, zunächst schwerer zu liefern. 41 Somit konzentrierte man sich auf die Frage des Vorhandenseins eines breiten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung.
 

4.3 Der Kontext

Die Ermittlungen konzentrierten sich erst auf den Hintergrund des Geschehenen. Lokale und internationale politische Zusammenhänge wurden rekonstruiert. Die Strukturen des indonesischen Sicherheitsapparates und der Milizen sowie deren organisatorische, finanzielle und hierarchische Verknüpfung wurden herausgearbeitet. Das gesamte Territorium Osttimors wurde als ein einziger Tatort angesehen, wodurch die Hunderte einzelner Menschenrechtsverletzungen – Tötungsdelikte, Vergewaltigungen, Zerstörungen und Vertreibungen – in ihrer Gesamtheit betrachtet werden konnten. Somit konnte der Nachweis eines weitreichenden und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erbracht werden, dessen Teil die einzelnen Menschrechtsverletzungen waren, mit denen die Täter Druck auf die Bevölkerung ausüben wollten, damit diese aus Angst beim Referendum zugunsten einer Autonomie innerhalb des indonesischen Staatsverbandes stimmen würde. 42

Obwohl Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen erst später aufgenommen wurden, kam das Bezirksgericht von Dili bereits im Dezember 2001 zu dem Ergebnis, dass in Osttimor seit der Besatzung durch Indonesien im Jahr 1975 bis zum INTERFET-Einsatz  im  Oktober 1999 ein bewaffneter Konflikt zwischen offen, auch militärisch, von Indonesien unterstützten paramilitärischen Gruppen und ebenfalls paramilitärischen Unabhängigkeitsbefürwortern stattgefunden hatte, welcher in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre mit der Zunahme internationaler Aufmerksamkeit intensiver wurde 43. Das Gericht sprach sich im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Vorhandensein eines bewaffneten Konfliktes aus, und nicht im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Kriegsverbrechen, womit fälschlicherweise der Eindruck erweckt wurde, es handele sich hierbei um eine Tatbestandsvoraussetzung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach Artikel 5 der UNTAET-Verordnung 2000/15.
 

4.4 Die Täter

Neben den Tätern, welche die Taten physisch begangen hatten, waren auch die Identitäten der Verdächtigen auf mittlerer und höherer Ebene bekannt. Da sie die Taten jedoch nicht unmittelbar begangen hatten und eine Verfolgung aufgrund mittelbarer Täterschaft nicht angebracht war, ergab sich ihre strafrechtlich Verantwortung aus ihrer Stellung als Befehlshaber 44. Hierfür war es jedoch erforderlich, den Verdächtigen eine befehlshabende Position in Militär, Polizei, Milizen und Zivilverwaltung nachzuweisen 45.

Die Ermittlungen wurden hierzu von unten aufgerollt. Zunächst wurde gegen die Täter ermittelt, die die Taten ausgeführt hatten, ohne jedoch die Hauptverantwortlichen in Militär und Verwaltung aus den Augen zu verlieren. Dabei konnte man sich an der sehr hierarchischen Struktur der indonesischen Verwaltung orientieren, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens in Dorf-, Bezirks- und Provinzebene aufgeteilt hatte, wobei Osttimor als eine Provinz im indonesischen Staatsverband betrachtet worden war. Die Ermittler, die „ins Feld“ zu den Zeugen fuhren, bzw. mangels befahrbarer Wege oftmals fliegen mussten, konzentrierten sich nicht auf einzelne Vorfälle, sondern sammelten auch Informationen zur nächst höheren Ebene. Zuerst wurden Beweise gegen die Personen zusammengetragen, die bereits in Untersuchungshaft waren, um deren Menschenrecht auf ein schnelles und faires Verfahren zu respektieren. Im übrigen konzentrierten sich die Ermittlungen auf Mitglieder der unteren oder mittleren Ebene der Gruppierungen, die für die schwersten Straftaten verantwortlich waren. Dies waren unter anderem Bezirksverwalter (Bupati), Bezirkskommandeure von Polizei (Kapolda) und Militär (Dandim) sowie Kommandeure der verschiedenen Milizen und deren Stellvertreter, die auf Bezirks- und Dorfebene operiert hatten. Beweise, die gegen diese Personen und deren Untergebene zusammengetragen wurden, gaben ein Bild der Gesamtstruktur des Sicherheitsapparates und dessen Verflechtung mit den Milizen in Osttimor. Eine Gruppe ermittelte ausschließlich gegen die Personen, die für die Planung, Organisation und Aufsicht der Durchführung der Verbrechen auf Provinz- und Nationalebene verantwortlich waren.
 

5. Beweise und zu Beweisen führende Informationen

Ein Hauptproblem der Ermittlungen unter den Gegebenheiten Osttimors war es, glaubwürdige und fundierte Informationen zu erhalten. Mit den öffentlichen Gebäuden waren auch die meisten Dokumente verbrannt worden, die zum Beweis einer systematischen Organisation der Verbrechen hätten herangezogen werden können. Um die Taten an sich, aber auch hierarchische Strukturen, Befehlsgewalt und einen gewissen Grad der Organisation der Verbrechen nachzuweisen, mussten Ermittlungen und Beweisführung auf Zeugenaussagen beruhen.
 

5.1 Zeugen

Bei der Zeugenvernehmung während der Ermittlungen und während des Gerichtsverfahrens spielten kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle. In der timoresischen Gesellschaft und in der Sprache wird nicht notwendigerweise zwischen eigener und fremder Erfahrung, Gesehenem und Gehörtem unterschieden, Zeitwahrnehmung ist von untergeordneter Bedeutung. Gewisse Themen, wie zum Beispiel Sexualstraftaten, sind in der Gesellschaft tabu. Opfer und Zeugen hatten Ende 1999 die Geschehnisse verschiedenen Untersuchungskommissionen, Nichtregierungsorganisationen und Journalisten geschildert, in dem Glauben, dies könnte für die Aufklärung der Straftaten durch eine spätere Justiz verwertet werden. Dadurch wurde bei Opfern, deren Familien und dörflichen Gemeinschaften die Erwartung auf baldige Strafverfahren geweckt. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit wich bald der Enttäuschung und Frustration. Mit den Flüchtlingen und Vertriebenen kehrten auch die Straftäter in ihre Dörfer und zu ihren Familien zurück, und der Ruf nach Versöhnung wurde lauter. Eine Strafverfolgung wurde nicht mehr von allen Teilen der Gesellschaft als wünschenswert angesehen 46. Das Vertrauen in die Justiz musste aufgebaut werden und es galt, Zeugen und Opfer davon zu überzeugen, das Erlebte und Gesehene nochmals den Ermittlern der SCIU zu schildern und vor Gericht auszusagen und somit nochmals zu erleben. Zuvor gemachte Aussagen und Gesprächsprotokolle konnten aus strafprozessualen Gründen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt eines fairen Verfahrens, im Strafverfahren nicht verwertet werden 47. Dies war besonders wichtig bei Opfern von Sexualstraftaten: Sie waren Opfer und einzige Zeugen zugleich. Aufgrund der bereits erwähnten Tabuisierung der Taten und der dörflichen und familiären Gemeinschaft mit den Tätern waren sie nur sehr widerwillig bereit, vor den Ermittlern und später vor Gericht auszusagen. SCIU hatte für Sexualstraftaten ein besonderes Team erfahrener Ermittler aufgebaut. Dank einer intensiven Zusammenarbeit mit örtlichen und internationalen Frauenrechtsorganisationen konnte zwischen Ermittlern und Staatsanwälten einerseits und Opfern andererseits ein Vertrauensverhältnis entstehen, welches die weitere Arbeit erleichterte und zur Anklage mehrerer Sexualstraftaten im Lolotoe Fall führte.
 

5.2 Besondere Zeugen: Klerus und ehemalige indonesische Beamte

Die osttimoresische Gesellschaft selbst ist auf traditionellen Strukturen aufgebaut. Diese sind nicht unbedingt in geschriebenen Gesetzen, Akten und Dokumenten festgehalten, begründen jedoch Autorität bis hin zur Befehlsgewalt und übertragen somit auch Verantwortung. Um zu diesen kulturellen Besonderheiten Informationen zu gewinnen, musste zu traditionellen Dorfältesten, ehemaligen höheren Verwaltungsbeamten und zur Kirche eine besondere Arbeitsbeziehung hergestellt werden.

Die von Priestern und Ordensleuten erhaltenen Informationen waren sehr wertvoll, insbesondere hinsichtlich der Zerstörungen und Vertreibungen außerhalb von Dili. In der timoresischen Gesellschaft hatten sie eine besondere Vertrauensstellung, sowohl bei Unabhängigkeits- als auch bei Autonomiebefürwortern, und sie verfügten über ein weites Netzwerk von Pfarreien und Klöstern bis ins kleinste Dorf. Ermittler und Staatsanwälte mussten deutlich machen, dass das Beichtgeheimnis respektiert wurde, und alles vermeiden, was auch nur den Anschein erwecken konnte, dass Kleriker ihre besondere Vertrauensstellung zur Zusammenarbeit mit der Anklage missbrauchen würden. Nach intensiven Gesprächen mit beiden Bischöfen und den Ordensoberen konnte eine Vertrauens- und Zusammenarbeitsbasis geschaffen werden. Ähnlich verhielt es sich mit Beamten der Zivilverwaltung, die einen Einblick in die Organisation und Finanzierung der Milizen und zum Teil auch einen partiellen Überblick über die Kommandostrukturen hatten, ohne sich jedoch strafbar gemacht zu haben. Hier mussten Ermittler und Ankläger zunächst sicherstellen, dass es sich bei den Zeugen nicht um mögliche Verdächtige handelte, die eine Aussage vor Gericht hätten verweigern können. Als nächstes mussten diese dann davon überzeugt werden, dass nicht heimlich gegen sie ermittelt wurde und sie auch nicht mit Repressalien seitens UNTAET, der zukünftigen osttimoresischen Verwaltung oder der Bevölkerung zu rechnen hatten. Da viele dieser Beamten als stellvertretende Bupatis, Ortsvorsteher oder Finanzbeamte relativ hochgestellt waren, waren sie nach dem 30. August über die Grenze geflohen oder vertrieben worden. Hier war der UNHCR bei der Vermittlung der Kontakte durch sogenannte „Komm und Sieh- Besuche“ sehr hilfreich. Dabei musste sichergestellt werden, dass die Rechtsstellung der Flüchtlinge durch die Arbeit der SCIU nicht beeinträchtigt wurde. Das UNHCR ermöglichte es auch, Zugang zu ehemaligen Milizenführern zu erhalten, die bereit waren, sich der Justiz zu stellen und bei der Aufklärung zusammenzuarbeiten.
 

5.3 Institutionelle Informanten

Bald stellte sich heraus, dass neben den Informationen aus der Bevölkerung, die ja in ihrer Gesamtheit aufgrund der weitreichenden Zerstörung der Infrastruktur und der Vertreibungen auch Opfer war, Informationen von dritter Seite relevant sein würden. Dazu gehörten Lageberichte von UNAMET, dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR 48, Nichtregierungsorganisationen und der Kirche, sowie Presseberichte, Ton- und Filmaufnahmen. Mit Ausnahme der Filmaufnahmen, die als Beweismaterial in die Prozesse eingebracht werden konnten, waren solche Quellen für die weitere Organisation der Ermittlungsarbeiten sehr dienlich, hatten jedoch den Nachteil, dass sie nicht die ursprünglichen Informationsquellen waren und strafprozessual die Zeugenaussagen der Autoren der Berichte bei Gericht vorgebracht werden mussten. Die Zeugen waren jedoch oftmals weggezogen und nicht mehr auffindbar, oder aufgrund ihres Status als Bedienstete der Vereinten Nationen oder als Inhaber religiöser Ämter von der Verpflichtung zur Zeugenaussage vor Gericht ausgenommen 49.
 

5.4 Informationsverlust

Viele Informationen gingen auch bei der Ankunft von INTERFET und in der Aufbauphase von UNTAET und Übergangsjustiz, aufgrund chaotischer äußerer Umstände und fehlender oder schwer beschädigter Infrastruktur, verloren. Erst im Oktober 2000 konnten alle vorhandenen Beweise katalogisiert und im Dezember des selben Jahres in eine aus Drittmitteln finanzierte Datenbank übertragen werden 50. Dokumente, die Soldaten, Journalisten, NGO-Aktivisten und die Bevölkerung in Polizeistationen und Kasernen gesammelt hatten, wurden ohne weitere Quellen- und Herkunftsangabe von INTERFET in vier Seecontainer verbracht, die später der SCIU übergeben wurden. Mangels Personal und finanzieller Mittel konnten die Dokumente – Steuerlisten, Jahrbücher, Kassenbücher, Verwaltungsakte – nicht ausgewertet werden. Erste Stichproben im April 2001 ergaben, dass mit den vorhandenen Mitteln eine sinnvolle Verwertung über Jahre nicht möglich sein würde, wobei die Container und deren Inhalt den Übergangsarchiven übergeben wurden. Andere Beweismittel, wie z.B. Tonbänder, waren oftmals mangels genauer Herkunftsangabe bei den beschränkten Mitteln für die Ermittlung nur eingeschränkt verwertbar.
 

5.5 Militär und Nachrichtendienste

Eine besondere Rolle hätte militärischen und nachrichtendienstlichen Informationen zukommen können. Satellitenfotos, militärische Lageberichte, Tonbänder von Funkmitschnitten und dergleichen können Auskunft   über faktische Befehlsgewalt, Taktik, Truppenbewegungen und Zerstörungen geben. Regierungen weigerten sich jedoch, Informationen und Quellen preiszugeben, und waren mangels einer entsprechenden Sicherheitsratsresolution 51 auch rechtlich nicht zur Zusammenarbeit verpflichtet. Für eine eventuelle Verwendung geheimdienstlicher Informationen stellte sich die Frage, inwieweit sie unter Rücksichtnahme auf ein faires Verfahren überhaupt in der Strafverfolgung verwendet werden konnten. Als „Insider-Tipps“, die den Ermittlern nur einen Hinweis gaben, wo sie weiterhin nach Informationen suchen konnten, wären solche Erkenntnisse wertvoll gewesen. Militärische Informationen über die Sicherheitslage im Territorium nach der Evakuierung aller Ausländer, insbesondere über das Ausmaß der Zerstörungen und Vertreibungen, wären für die Arbeit ebenfalls von großem Nutzen gewesen. Eine ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit mit der Anklage in der Sicherheitsratsresolution 1272 (1999), mit eingeschränkten Ausnahmen aus Gründen der nationalen Sicherheit des Staates, der über die Informationen verfügt, wäre hier sicherlich hilfreich gewesen 52. So erhielten die Ermittler erst Zugang zu diesen Informationen, nachdem sie offiziell oder durch Zuspielung an die Presse oder NGOs der Öffentlichkeit zugänglich wurden.
 

6. Der forensische Beweis

Das forensische Programm ist einer der Pfeiler der Ermittlungen und einer ihrer größten Erfolge. Bereits im Februar 2000 wurden pathologische Einrichtungen errichtet, die später SCIU übertragen wurden. Ziel des Programms war es einerseits, mittels forensischer Pathologie und Anthropologie einen breit angelegten und systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung, einem der Tatbestände der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nachzuweisen. Das Programm diente aber auch der Identifizierung der Opfer und der Überführung ihrer Leichen an die Familien oder die Dorfgemeinschaft. Die Toten wurden aus Massengräbern, Brunnen und Schächten, aber auch aus anonymen Einzelgräbern in meist stark verwestem Zustand exhumiert oder geborgen. Die Hauptarbeit der Identifikation und der Bestimmung der Verletzungen kam daher den Anthropologen zu, während die nur für kurzfristige Einsätze anwesenden Pathologen zur Bestimmung der Todesursache und zur Ausstellung der Sterbeurkunden herangezogen wurden. Die SCIU konnte dabei auf die Erfahrungen eines argentinischen Anthropologenteams und kanadischer Pathologen zurückgreifen. Insgesamt wurden 315 Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen des Jahres 1999 exhumiert und untersucht, von denen jedoch nur 127 identifiziert werden konnten.
 

7. Zweigleisige Ermittlungen

Wie bereits erwähnt, hatte die Strafverfolgung der schweren Verbrechen in Osttimor nationalen Charakter, auch wenn sie im Rahmen einer Friedensmission durchgeführt wurde. Indonesien hatte mangels einer zuständigen internationalen Gerichtsbarkeit das Recht und die Pflicht, seine eigenen Staatsbürger wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen 53, wozu sich das Land auch ausdrücklich verpflichtet 54 und zu diesem Zweck einen Menschenrechtsgerichtshof errichtet 55 hatte. UNTAET und Indonesien hatten somit komplementäre und konkurrierende Zuständigkeiten bei der Strafverfolgung. Damit beide Seiten ihren Verpflichtungen nachkommen konnten, hatte man sich in der Form eines „Memorandum of Understanding“ (MoU) auf eine justizielle    Zusammenarbeit geeinigt 56. Während seitens UNTAET das MoU als verbindlich angesehen wurde und Ermittler und Staatsanwälte aus Indonesien Zugang zu Tatorten, Zeugen, forensischem und anderem Beweismaterial erhielten, verweigerten indonesische Behörden, unter Berufung auf das indonesische Strafprozessrecht, der SCIU Zugang zu Zeugen und zu belastendem Beweismaterial. Ebenso wurden verschiedene Auslieferungsgesuche seitens UNTAET abgelehnt. Der völkerrechtlich-verpflichtende Charakter des MoU wurde von indonesischen Militärjuristen nach dem Regierungswechsel in Jakarta 2001 in Frage gestellt 57. Ebenso wenig wie andere Staaten war auch Indonesien aufgrund der Sicherheitsratsresolution im Bereich der Strafverfolgung zur Zusammenarbeit mit UNTAET verpflichtet 58.

Die Urteile des indonesischen Menschenrechtsgerichtshofes haben bisher nicht zu einer vollständigen Aufklärung der Geschehnisse von 1999 und der Bestrafung der Verantwortlichen beigetragen. Ob diese vor dem Distriktgericht in Dili aufgrund des ne bis in idem-Grundsatzes 59 überhaupt noch zur Rechenschaft gezogen werden können, bleibt vorerst eine rein theoretische Frage. Eine Verurteilung in absentia ist nach geltendem Strafprozessrecht in Osttimor in Ausnahmefällen nur dann möglich, wenn der Angeklagte wenigstens zu Beginn des Verfahrens dem Gericht vorgeführt wurde. Im Hinblick auf Indonesiens Strafverfolgungskompetenz und im Lichte des Prinzips der nationalen Strafverfolgung wurden der Übergangsjustiz bewusst nicht die gleichen Möglichkeiten zu einem Verfahren in absentia zuerkannt, wie sie die beiden vom Sicherheitsrat errichteten internationalen Tribunale haben. 60
 

8. Die Strafverfolgung nach der Unabhängigkeit

Mit der Unabhängigkeit des Landes am 20. Mai 2002 endete auch die Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen und das Mandat von UNTAET. Die Aufgabe der Verfolgung der schweren Straftaten  blieb jedoch, wenn auch in abgeänderter und kooperativer Form, in den Händen der Nachfolgemission UNMISET 61, die über eine „Serious Crimes Unit“ verfügt, welche sowohl Ermittlungs- als auch staatsanwaltliche Aufgaben in den oben genannten schweren Straftaten wahrnimmt. Teil des neuen Mandates ist es aber auch, osttimoresische Ermittler und Juristen im internationalen Strafrecht und in der Verfolgung internationaler Straftaten auszubilden.
 

9. Schlussgedanken und Ausblick

Auch wenn zum Ende der Mission am 19. Mai 2002 101 Personen angeklagt worden waren, 15 Strafverfahren zum Abschluss gebracht und sowohl Milizenführer als auch Teile der Sicherheitskräfte angeklagt und verurteilt werden konnten, befinden sich die Hauptverantwortlichen weiterhin außerhalb Osttimors. In weniger als zwei Jahren wurden mehr Verantwortliche angeklagt, als dies bei den beiden internationalen Tribunalen für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien im gleichen Zeitraum zu Beginn ihrer Arbeit der Fall war, nicht zuletzt, weil Ermittler und Juristen bei UNTAET aus den Erfahrungen und Fehlern der beiden Tribunale gelernt haben. Es ist Ermittlern und Staatsanwälten auch gelungen, dem jungen Staat und seinem Volk einen Teil seiner Geschichte zu geben, die Gewalttaten von 1999 aufzuklären und vielen Familien ihre Verstorbenen, Opfern wenigstens teilweise ihre Würde wieder zu geben. Das Hauptziel, die Verantwortlichen der Gewalttaten zur Rechenschaft zu ziehen, ist jedoch nur teilweise erreicht worden.

Mit dem Inkrafttreten des Römischen Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof am 1. Juli 2002 sollten in Zukunft Straftaten, wie sie in Osttimor begangen wurden, adäquat verfolgt werden können. Dennoch dürfte es auch in zukünftigen Friedensmissionen der Vereinten Nationen notwendig sein, Beweismaterial unter schwierigen, unübersichtlichen und oftmals gefährlichen Bedingungen zu sammeln, erfahrene und spezialisierte Ermittler und Juristen zur Aufklärung schwerer Menschenrechtsverletzungen einzusetzen, ganz gleich, ob die weitere Verfolgung der Straftaten vor einem nationalen oder einem internationalen Gericht stattfindet.  <>
 

1   Zur Kolonialgeschichte des Landes, s. Schlicher, M., Portugal in Osttimor, eine kritische Auseinandersetzung, Hamburg 1996.
2  Sicherheitsrats-Resolution 1264 (1999) vom 15. September 1999.
3   Report of the International Commission of Inquiry on East Timor to the Secretary-General, UN Doc. A/54/726, Abs. 93-97, 131-133.
4   Report of the International Commission of Inquiry on East Timor to the Secretary-General, UN Doc. A/54/726, Abs. 129-130.
5   S. Haubold, E., 24 Jahre des Mordens sind genug – letzte Signale aus Osttimor, in: FAZ vom 4. September 1999.
6   So die Schlussfolgerung des indonesischen Menschenrechtsgerichtshofes im Verfahren gegen Timbul Silaen, Urteil vom 15. August 2002, No. 02/Pid. HAM/Ad Hoc/2002/Pengadilan Negeri Jakarta Pusat.
7   Martin, I., Self Determination in East Timor: The United Nations, the Ballot and International Intervention, New York 2001. Martin war der Besondere Vertreter des Generalsekretärs der Vereinten Nationen in Osttimor und Chef von UNAMET.
8   Schlicher, M., Chronologie Osttimor: der Weg in die Unabhängigkeit, in: Jahrbuch Menschenrechte 2001, S. 367-376; s.a. Schlicher, M. und Flor, A., Osttimor – Der bittere Sieg, Jahrbuch Menschenrechte 2001.
9   Sicherheitsrats-Resolution 1272 (1999) vom 25. Oktober 1999, UN Doc. S/RES/1272 (1999); s.a. Chopra, J. The UN’s Kingdom in East Timor, Survival, Bd. 24, Nr. 3, August 2000, S. 29; Suhrke, A., Peacekeeping as Nation-building, Dilemmas of the UN in East Timor, International Peacekeeping, Bd. 8, Nr.4, S. 1.
10  Question of East Timor, Progress Report of the Secretary-General, Abs. 42, UN Doc. A/54/654.
11  Resolution der VN Menschrechtskommission 1999/S-4/1 vom 27. September 1999, UN Doc. E/CN.4/1999/167/Add.1, E/1999/23/Add. 1.
12   Othman, M., Peacekeeping Operations in Asia: Justice and UNTAET, in: International Law Forum, Bd. 3, 2001, S. 119. Othman war der erste Generalstaatsanwalt von UNTAET.
13   S. hierzu: Olsen, O., The Investigation of Serious Crimes in East Timor, in: Ambos/Othman (eds.), New approaches in international criminal justice. Kosovo, East Timor, Sierra Leone & Cambodia, Freiburg i. Br. (Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law) 2003, noch nicht veröffentlicht. Olsen war der erste Chef der SCIU.
14   UNTAET Regulation 2000/16, On the Organization of the Public Prosecution Service in East Timor. Alle UNTAET-Verordnungen sind auf http://www.un.org/peace/etimor/UntaetN.htm einzusehen.
15   Section 10 UNTAET Regulation 2000/11, welche die Kammern beim Bezirksgericht in Dili bezeichnet, die die ausschließliche Gerichtsbarkeit über diese Straftaten ausüben. Aus dieser Zuständigkeit ergibt sich die organisatorische Kompetenz der Anklagebehörde.
16   UNTAET Regulation 2000/11. Die Kammer war mit einer osttimoresischen Richterin und zwei internationalen Richtern besetzt.
17  S. UNTAET Regulation 2000/24 vom 5. September 2001.
18  S. Strohmeyer, H.-J., Building a New Judiciary in East Timor, Criminal Law Forum Bd. 11, 2000, S. 262, ders., Collapse and Reconstruction of a Judicial System: The United Nations Mission in Kosovo and East Timor, AJIL, Bd. 95, 2000, S. 50.
19   Section 3 UNTAET Regulation 1999/1 vom 27. November 1999.
20   Strohmeyer, H.-J., Building a New Judiciary in East Timor, op. cit., S. 267.
21   UN Doc. A/CONF.189/9 (1998), Ambos, K. und Wirth, S., The current law of Crimes against Humanity, in: Criminal Law Forum 13, 2002, S. 1.
22   Sections 4, 5, 6 UNTAET Regulation 2000/15.
23   Der Strafklageverbrauch verbietet eine neue Strafverfolgung des Täters wegen derselben Tat, für die er bereits rechtskräftig verurteilt wurde (ne bis in idem), s. Creifelds, Rechtswörterbuch, 14. Aufl., München 1997, S. 1201.
24   Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (1987) 1465 UNTS 85.
25   Othman, M., The Framework of Prosecutions and the Court System in East Timor, in: Ambos/Othman (eds.), New approaches in international criminal justice, op. cit.
26   Eine ausführliche Besprechung zum Tatbestand der Folter und zur Verantwortung der Befehlshaber bei Othman, M., ibid.
27   Section 12 UNTAET Regulation 2000/30.
28   Section 34 UNTAET Regulation 2000/30.
29   Vgl. allgemein zum Strafanwendungsrecht: Tröndle, H., Strafgesetzbuch und Nebengesetze, erläutert von H. Tröndle, 48. Auflage, München 1997, vor §3 Rn 4.
30   Diese Ansicht wird von Othman geteilt, s. Othman M.,op.cit. a.A.: Dili District Court in einer Vorentscheidung im Fall The Prosecutor v. Leonardus Kasa, (case No 11/CG/2000), Entscheidung vom 9. Mai 2001, wogegen die Anklage Berufung eingelegt hat; das Urteil kann auf http://www.jsmp.minihub.org/judgmentspdf/kasa%20judg%20ult.pdf gelesen werden. Die meisten Urteile der Kammer für Schwere Straftaten des Bezirksgerichts Dili können auf http://www.jsmp.minihub.org/Trialsnew.htm heruntergeladen werden.
31   UNTAET Regulation 2000/15.
32   Während CIVPOL keine ausreichenden Kapazitäten an Ermittlern mit Erfahrung bei der Untersuchung internationaler Straftaten hatte (die Polizistinnen und Polizisten wurden aufgrund ihrer Erfahrung und Qualifikation hinsichtlich der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und nicht zur Strafermittlung eingestellt), fehlte es dem Menschrechtsreferat an der Qualifikation zur Zusammenstellung von Beweisen, die in einer späteren Anklageschrift verwendet werden könnten.
33   20 Ermittler und 15 Juristen arbeiteten im Jahr 2001, zum Höhepunkt der Ermittlungen, in der Behörde
34   S. Urteil des Bezirksgerichts von Dili vom 11. Dezember 2001 in der Strafsache 09/2000 gegen Joni Marques u.a.
35   Im Fall der Vergewaltigungen von Lolotoe begann die mündliche Verhandlung im Februar 2002, Strafsache 4/2001. Die mündliche Verhandlung wurde am 27. März 2002 unterbrochen und wird seit 15. Oktober weitergeführt.
36   Ermittlungen und Gerichtsverfahren werden derzeit von der Nichtregierungsorganisation JSMP beobachtet. Die homepage der JSMP beinhaltet auch Informationen und Unterlagen zu allen laufenden und abgeschlossenen Verfahren: http://www.jsmp.minihub.org/trials.htm.
37   INTERFET hatte hierzu eine Art Militärjustiz errichtet, die unabhängig arbeitete und Haftbefehle ausgestellt hatte. S. hierzu Australian Defence Force Academy, INTERFET Lessons Learnt, Canberra 2000. Später wurde alle dreißig Tage eine Haftprüfung durchgeführt: Section 20 UNTAET Regulation  2000/30.
38  Ausführlich zu dieser Frage Saul, B., Was the Conflict in East Timor “Genocide” and why does it matter? In: Melbourne Journal of International Law 200, S. 477 ff.
39   Section 4 UNTAET Regulation 2000/15; Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948, 78 UNTS 277. Zum Tatbestand des Völkermordes nach deutschem Recht: Zimmermann, Bestrafung völkerrechtlicher Verbrechen durch deutsche Gerichte nach In-Kraft-Treten des Völkerstrafgesetzbuchs, NJW 2002, S. 3069.
40   Report of the International Commission of Inquiry on East Timor to the Secretary-General, Abs. 124.
41   S. Kress, C., The Threshold of the Law on War Crimes and the 1999 Crisis in East Timor, in: Criminal Law Forum 2002/2, noch nicht veröffentlicht.
42   Urteil des Bezirksgerichts von Dili: The Prosecutor v. Joni Marques & others, case No 09/2000, Abs. 686, Urteil vom 11. Dezember 2001.
43   Urteil des Bezirksgerichts von Dili: The Prosecutor v. Joni Marques & others, case No 09/2000, Abs. 680, Urteil vom 11. Dezember 2001.
44   Section 16 UNTAET Regulation 2000/15.
45   S. Anklage gegen Simao Lopes u.a. (Nr. OE-12-99-SC) http://www.jsmp.minihub.org/indictmentspdf/.
46   S. Rede von Carlos Ximenes Belo, Apostolischer Administrator von Dili, vom 28. August 2001 auf: http://www.jsmp.minihub.org/Reports/Belo.htm.
47   Sections 33 und 34 UNTAET Regulation 2000/30.
48   United Nations High Commissioner for Refugees.
49   UNTAET Reg. und Protokoll über die Befreiungen und Vorrechte der VN.
50   Olsen, O., op. cit.
51   Vgl. Operativer Absatz 2 der Resolution 955 (1994) des Sicherheitsrates zur Errichtung eines internationalen Tribunals für Ruanda, UN Doc. S/RES/955 (1994).
52   S. zum Themenbereich Geheimdienstliche Informationen in VN-Einsätzen: Dorn, W. und Charters, D., Intelligence In Peacekeeping, The Pearson Papers Nr. 4, Toronto 1999.
53  S. Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen, UNGA Res. 3074 (XXVIII) vom 3. Dezember 1972.
54   Identische Briefe des Generalsekretärs an den Präsidenten des Sicherheitsrates, den Präsidenten der Vollversammlung und den Vorsitzenden der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen vom 31. Januar 2000, UN Doc. A/54/726 und S/2000/59.
55   Gesetz Nr. 26/2000.
56   UNTAET, Official Gazette of East Timor, Bd. 1, Nr. 3, S. 93 ff.
57   Othman, M., op.cit.
58   S.o. 5.e. und Fn 50.
59   Vgl. Fn 23.
60   Vgl. Rule 60 der Rules of Procedure and Evidence des ICTR.
61   Operativer Absatz 3 lit. a der Sicherheitsratsresolution 1410 (2002) vom 17. Mai 2002, UN Doc S/RES/1410 (2002).
 

* Marco Kalbusch war Mitarbeiter der SCIU in Osttimor. Nachdruck des Artikels aus der Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 4/2002, mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)
 
 
 

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