Wie kann das erste „neue“ Land des Millenniums, Osttimor, nach Jahrhunderte langer portugiesischer Kolonialherrschaft und jahrzehntelanger indonesischer Okkupation, der fast ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fiel, zu Frieden, Demokratie und nachhaltiger Entwicklung finden? Das Land erhielt am 20.Mai 2002 nach zweieinhalbjähriger Verwaltung durch die Vereinten Nationen (UN) seine Unabhängigkeit. Deren Preis war hoch: Kaum ein Bewohner der Terra de Sol Nascente ist ohne Trauma, ohne Opfer in der eigenen Familie. Allein nach dem Unabhängigkeitsvotum töteten im Black September 1999 indonesische Militärs und ihre osttimoresischen Milizen mehr als tausend Menschen und vernichteten 80% der Infrastruktur. Das ärmste Land Asiens versucht auf verschiedene Weise dieses erdrückende Erbe zu bewältigen.
Auf drei voneinander unabhängigen Pfeilern beruht die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen: auf Ad-hoc-Prozessen in Indonesien, Special Panels for Serious Crimes und der ersten asiatischen Wahrheitskommission, der Comissão de Alcolhimento, Verdade e Reconciliação (CAVR)in Osttimor. Die strafrechtliche Aufarbeitung beschränkt sich bei beiden Tribunalen auf das Jahr 1999. Lediglich die CAVR besitzt ein Mandat für den gesamten Zeitraum des politischen Konflikts – vom Tag der portugiesischen Nelkenrevolution (25.April 1974) bis zum Abzug der indonesischen Truppen (Ende Oktober 1999).
Obwohl weltweit Menschenrechtsorganisationen und NGOs ein internationales Ad-hoc-Tribunal (wie für Jugoslawien und Ruanda) forderten und wiederholt fordern, überantwortete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der indonesischen Justiz die strafrechtliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen im Jahre 1999.Das Ergebnis: Unter den 18 Angeklagten fehlten die von indonesischen und internationalen Menschenrechtskommissionen identifizierten Drahtzieher. Lediglich sechs Angeklagte, darunter der ehemalige osttimoresische Gouverneur Abilio Soares, der ehemalige Milizenführer Eurico Guterres und einer der damaligen indonesischen Militärkommandeure, Adam Damiri, wurden zu milden Haftstrafen zwischen drei und zehn Jahren verurteilt. Bis zum Beginn ihres Berufungsverfahrens befinden sich alle drei weiterhin auf freiem Fuß.1 Wie viele Bewohner lehnt die Kommissarin der CAVR, Olandina Caeiro, die Prozesse ab. Durch die Urteile wird „mit der Würde der Menschen in Osttimor gespielt. Für mich hat das Ad-hoc-Tribunal in Jakarta nichts bewirkt und es hat keine Bedeutung für Osttimor.“ Ein unabhängiges Tribunal an einem neutralen Ort sei unabdingbar: „Denn nur wenn es ein gerechtes Tribunal gibt, nur wenn diejenigen verurteilt und bestraft werden, die die Verbrechen in Osttimor begangen haben, kann jene Wunde heilen, jener Schmerz, den die Opfer in Osttimor bis heute fühlen.“2 Kritik an den indonesischen Urteilen äußerten auch die Vereinten Nationen, mehrere Regierungen und die Europäische Union.
Angesichts der mangelhaften
indonesischen Verfahren installierte die UN-Verwaltung Osttimors (UNTAET)
im Jahre 2000 ein hybrid tribunal – eine neue Form der internationalen
Strafgerichtsbarkeit, die ein gemeinsames Ausüben der juristischen
Verantwortung seitens der Vereinten Nationen und des jeweiligen Landes
beabsichtigt. Dieses dem Sicherheitsrat verantwortliche Tribunal mit zwei
internationalen und einem osttimoresischen Richter, einer international
besetzten Staatsanwaltschaft (Serious Crimes Unit, SCU)sowie lokalen Anwälten
und Berufungsgerichten versucht eine strafrechtliche Aufarbeitung der Gewalt
nach internationalen Standards. Bis August 2003 verurteilte es 35 Angeklagte,
darunter ehemalige indonesische Militärs, osttimoresische Milizionäre,
aber auch Widerstandskämpfer. In einem spektakulären Schritt
erhob die Staatsanwaltschaft Anfang 2003 Anklage in 65 Fällen gegen
301 Hauptverantwortliche und Drahtzieher aus Indonesien und Osttimor, von
denen sich allerdings mehr als zwei Drittel in Indonesien aufhalten. Darunter
befindet sich der indonesische Präsidentschaftskandidat, Ex-Verteidigungsminister
General Wiranto. Auf mehr als 15.000 Zeugenaussagen stützt sich die
400 Seiten starke Anklageschrift. Die indonesische Regierung wies alle
Anklagevorwürfe zurück und zeigt sich keinesfalls gewillt, Auslieferungsanträgen
stattzugeben. Bereits im April 2004 jedoch läuft das Mandat der jetzigen
Mission der Vereinten Nationen (UNMISET) aus, ohne dass bis dahin die Prozesse
zu Ende geführt sein werden oder ein verlängertes Mandat in Aussicht
steht.
Dualistischer Aufarbeitungsprozess
Gekennzeichnet wird der Aufarbeitungsprozess von einem Dualismus zwischen der staatlichen Position für Versöhnung und Amnestie im Namen der nationalen und internationalen Stabilität sowie der zivilgesellschaftlichen Position für Aufarbeitung und Strafverfolgung im Namen genuiner Demokratisierung, die von der Wahrheitskommission und dem Friedensnobelpreisträger Ximenes Belo mitgetragen wird.3 So weist die Staatsführung unter Präsident Xanana Gusmão, Premierminister Mari Alkatiri und Außenminister José Ramos-Horta immer wieder öffentlich darauf hin, dass ein internationales Tribunal für die Regierung keine Priorität habe und man stattdessen auf Versöhnung und gute nachbarschaftliche Beziehungen mit Indonesien setze: „Ich habe wiederholt erklärt, dass angesichts der vielen Problemen, die dieses Land im Prozess des Wiederaufbaus hat, ein internationales Tribunal keine Priorität genießt, am allerwenigsten in Osttimor.“ 4 Die Verantwortung liege allein bei der internationalen Staatengemeinschaft und den Vereinten Nationen, in der Wahrheitskommission sieht die Regierung das primäre Instrument der Vergangenheitsaufarbei-tung. Für die CAVR-Kommissarin Olandina Caeiro jedoch hebt die juristische Strafverfolgung die Notwendig-keit eines internationalen Tribunals nicht auf: „Das Volk will, dass diejenigen, die alle diese Verbrechen geplant haben, verurteilt werden. Bis jetzt hat es die Serious Crimes Unit noch nicht geschafft, einen Kommandanten zu belangen. Es sind die Kleinen, die verurteilt werden.“ 5
Diese Wahrheitskommission6 unterscheidet sich signifikant von ihren lateinamerikanischen und afrikanischen Vorläufern, denn sie gewährt keine politische Amnestie, sondern versucht über rituelle, kommunale Aufarbeitungszeremonien die Täter in ihren Gemeinden zu reintegrieren. Seit Mitte 2002 ist sie landesweit mit mehr als 240 Mitarbeitern, sieben nationalen Kommissaren, 28 regionalen Kommissaren und 13 lokalen Bezirksteams tätig.7
Bis Ende Juli 2003 erhob sie bereits 4.609 Aussagen von Opfern und Zeugen. Zu den Themen „Politische Gefangene“, „Frauen“, „Hunger und Deportation“ und „Bürgerkrieg“ führte die Kommission bereits nationale öffentliche Anhörungen durch, bis April 2004 sind noch Anhörungen zu „Massakern“, „Internationalen Akteuren“ sowie „Kindern“ geplant. Dabei kommen ausgewählte Opfer und Zeugen sowie geladene nationale und internationale Experten aus Regierung, Verwaltung und Zivilgesellschaft zu Wort, um die Wahrheitsfindung in besonders zentralen Bereichen zu vertiefen und die abschließende Berichterstattung zu unterstützen. Zudem werden alle drei Monate community hearings in den Bezirken durchgeführt, in denen die lokalen Teams gerade tätig sind. Die Arbeit der Wahrheitskommission stößt auf breite Zustimmung und Anerkennung in der Bevölkerung: „Das Bedürfnis zu sprechen ist so groß, dass die Kommission die schwierige Aufgabe hat, einige wenige auszusuchen, die das breite Spektrum der Verbrechen in diesen Anhörungen repräsentieren.“ 8 Landesweit live von Radio und Fernsehen übertragen, fanden die bisherigen Anhörungen in völlig überfüllten Räumlichkeiten statt und stießen auf große Resonanz. Neben ihrer Aussage wollen die meisten Zeugen und Opfer eine Nachricht an die Regierenden senden, um etwas zu unternehmen, damit sich die Situation der Opfer und Hinterbliebenen verbessert. Die Anhörung zum Thema „Frauen und Konflikt“ ermöglichte es Osttimoresinnen erstmals, von ihren traumatischen Erlebnissen öffentlich zu sprechen. Die Verurteilung von sexueller Gewalt als Mittel politischer Verfolgung aller involvierten Parteien sandte ein wichtiges Signal in eine traditionell geprägte Gesellschaft, in der seit 1999 die Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt in die Höhe schnellen und viele Opfer sexueller Gewalt auf Ablehnung in ihren Gemeinschaften stoßen.
Die Kommission beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Wahrheitsfindung. Parallel existieren community reconciliation processes (CRPs). Diese Form der freiwilligen kommunalen Vergangenheitsaufarbeitung verschränkt traditionelle Gemeinschaftsriten (lulik), formale Justiz und Anhörungen der Wahrheitskommission. Dabei arbeiten Kommission und Staatsanwaltschaft zusammen, die bis Ende Juli 860 Anträge registrierte. Als weltweites Novum dienen die CRPs dazu, Mitläufer und Mittäter in einem öffentlichen, partizipatorischen und symbolischen Gemeinschaftsprozess in ihre Heimatdörfer zu reintegrieren. Lokale Teams mit traditionellen spirituellen Führern (lia nain), Vertreter der Dorfgemeinschaft und der Opfer führen diese durch; Voraussetzung ist ein vollständiges Schuldeingeständnis der Täter und die Zustimmung der Opfer bzw. ihrer Vertreter. Über Bestrafung oder Wiedergutmachung entscheidet die betroffene Gemeinschaft. Kapitalverbrechen wie Mord und Vergewaltigung sind dabei grundsätzlich ausgenommen. Bisher war der überwiegende Teil der mehreren hundert CRPs erfolgreich. Die Wiedergutmachung und Reintegration erfolgte in einigen Fällen in Form von traditionellen Gaben oder, in den meisten Fällen, durch eine öffentliche Entschuldigung mit oder ohne Gemeindearbeit wie Wiederaufbau von niedergebrannten Häusern oder Kauf von getötetem Vieh.
Angesichts der fehlgeschlagenen
indonesischen Prozesse, des fehlenden internationalen Tribunals und der
unwahrscheinlichen Auslieferung von Hauptverantwortlichen an die SCU- Prozesse
bleibt die Wahrheitskommission die einzige Institution, die einen genuinen,
partizipatorischen, umfassenden Aufarbeitungsprozess unter den bestehenden
nationalen und internationalen Gegebenheiten leisten kann. Auch wenn die
Regierung auf Versöhnung und Vergebung drängt, die Aufarbeitung
der Vergangenheit hat gerade erst begonnen. Forderungen nach strafrechtlicher
Verantwortung werden immer wieder gestellt. Wie eine Studie des International
Center for Transitional Justice ergab, ist für einen Großteil
der Bevölkerung Versöhnung und Vergebung nicht ohne Strafverfolgung,
Reue, Wahrheitsfindung und Anerkennung der Opfer möglich. Doch ihr
Kernanliegen – der Wunsch und das Bedürfnis nach Gerechtigkeit – kann
die Wahrheitskommission nur bedingt erfüllen. Denn lediglich die kleinen
Fische können zur Verantwortung gezogen werden. Doch auf dem Weg zu
Frieden, Demokratie und Entwicklung liegt ein wichtiges Verdienst in der
Arbeit der CAVR, die die Menschen über die Ereignisse informiert und
den Opfern die öffentliche Anerkennung ihres Leidens ermöglicht.
Nachdruck des Artikels
aus „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 11/2003
http://www.blaetter.de
1 Vgl. zur
Kritik an den indonesischen Prozessen: Andrea Fleschenberg, Alex Flor und
Monika Schlicher, Aussöhnung ohne Gerechtigkeit, in: „Indonesien-Information“,
1/2003, S.29-33.
2 Interview
mit der Autorin am 31.7.2003 in Arrábida/Portugal.
3 Vgl. Piers
Pigou,Crying without tears. In pursuit of justice and reconciliation in
Timor-Leste: Community Perspectives and expectation, http://www.ictj.org/downloads/Crying_Without_Tears.pdf
4 Vgl. http://www.jsmp.minihub.org/Indonesia/JakNews/13-06_03.htm
5 Interview
mit der Autorin am 31.7.2003 in Arrábida/Portugal.
6 Vgl. zur
Arbeit der CAVR ihre zweimonatigen Berichte,
www.jsmp.minihub.org
sowie http://www.easttimor-reconciliation.org
7 Offiziell
begann die CAVR ihre Tätigkeit Ende Januar 2002 für zwei Jahre
bis April 2004. Einer sechsmonatigen Mandatsverlängerung bis Oktober
2004 stimmten bereits Präsident Gusmão und die Regierung zu.
8 Olandina
Caeiro, A mulher na paz e a construção da paz, Paper zum
gleichnamigen Seminar der Fundação Oriente und Universidade
de Coimbra, 29.-31.7.03, Arrábida/Portugal.
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