Indonesien-Information Nr. 1/2006 (Menschenrechte)

Vergangenheitsaufarbeitung in Indonesien:

Optionen für die Zivilgesellschaft 1

von Garda Sembiring 2


Überblick

Schwere Menschenrechtsverletzungen in Indonesien, wie etwa in Osttimor, Papua, Poso, Maluku, Aceh, oder auch die vom Mai 1998 und viele andere wurden und werden seit Jahrzehnten verübt. Versuche, nationale Mechanismen des Menschenrechtsschutzes anzuwenden, haben weitestgehend versagt. Dieser Artikel beschäftigt sich mit Problemen, die bei Versuchen, den Staat für vergangene Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen, auftreten, insbesondere bei den Verbrechen, die nach dem Oktober 1965 verübt wurden. Der Tragödie von1965 wird besondere Bedeutung zugesprochen, da dieser Fall als Ausgangspunkt für nachfolgende schwere Menschenrechtsverletzungen in Indonesien gesehen wird.

Die Tragödie von1965 folgte einem fehlgeschlagenen Putschversuch und brachte für Millionen von Opfern und ihren Familien lebenslanges Leid. Sofort nach dem Putsch und der Ermordung einiger Generäle, wurde die Verantwortung dafür der Kommunistischen Partei Indonesiens (Partai Komunis Indonesia – PKI) zugeschrieben. Von November 1965 bis 1967 wurden im ganzen Land Männer, Frauen und Kinder, die als Mitglieder der PKI, einer ihrer Unterorganisationen oder als Sympathisanten beschuldigt wurden, in Gefangenenlager gebracht, und dort – oft über Jahrezehnte hinweg – festgehalten, gefoltert, ermordet, und vergewaltigt 3.

Viele der Gefangenen wurden zu Beginn der 1980er Jahre entlassen. Doch die Erinnerungen an die Misshandlungen während der Gefangenschaft, an das Verschwinden von Mitgefangenen, an extralegale Hinrichtungen und Zwangsarbeit lasten bis heute auf den Überlebenden. Traurigerweise blieben auch die Familien und Nachfahren der Überlebenden nicht verschont, da sie durch viele Gesetze und Regulierungen diskriminiert werden. Diese rechtliche, sowie die soziale Stigmatisierung des Kommunismus als etwas sündhaftes, gefährliches und staatsfeindliches rechtfertigt bis heute die Gefangennahme und Ermordung angeblicher Kommunisten nach den Ereignisse im Oktober 1965.

Selbst 40 nach dieser Tragödie ist es notwendig, ihre Folgen zu untersuchen und ihnen entgegen zu treten, da bisher weder eine staatliche Untersuchung, noch eine offizielle Anerkennung der schweren Menschenrechtsverletzungen nach 1965 stattgefunden hat.

Wie hat die Zivilgesellschaft bisher auf diese Situation reagiert?

Seit dem Fall des autoritären Suharto-Regimes im Jahr 1998 gab es verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen, die Vergangenheit Indonesiens aufzuarbeiten. Der Begriff Aufarbeitung (Transitional Justice) bezieht sich dabei nicht nur auf Versuche, die Verantwortlichen für vergangenes Unrecht zur Rechenschaft zu ziehen, die während einer demokratischen Transitions-phase unternommen werden, sondern umschließt auch Unternehmungen während einer Zeit, in der das Land dazu tendiert, in autoritäre Herrschaftsformen zurück zu fallen.

Die Gründung von Menschenrechtsorganisationen vor und vor allem nach dem Fall der „Neuen Ordnung“ Suhartos, gefolgt von der Gründung von Opferverbänden, zeigen einen erstarkten zivilgesellschaftlichen Einsatz für die Menschenrechte. Bisher haben diese Organisationen regelmäßig Treffen veranstaltet, Zeitzeugenberichte und historische Artefakte gesammelt, zwei Massengräber auf Java exhumiert und das passive Wahlrecht der Opfer der Tragödie von 1965 durchgesetzt. Doch die Versuche, in der indonesischen Gesellschaft breitere Unterstützung für diese Unternehmungen zu finden, werden weiterhin von massiver Regierungspropaganda über die von der PKI ausgehende Gefahr, welche von 1965 bis zum Fall Suhartos kontinuierlich und intensiv reproduziert wurde, unterminiert. Eine Folge ist, dass viele Mitglieder der jüngeren Generation die Geschichte der 1965-Tragödie und der folgenden Massenmorde nicht kennen. Alles was sie wissen ist, dass die PKI etwas böses ist und zerstört werden muss.

Um dem entgegen zu wirken, veröffentlichen einige Organisationen Bücher, Artikel, Dokumentarfilme und andere Materialien über die Auswirkungen der Massenmorde. Diese Organisationen haben zwei Ziele: das Schweigen zu brechen und den Opfern Gehör zu verschaffen, sowie der Öffentlichkeit eine alternative Geschichtsschreibung zu präsentieren. Zusätzlich gibt es in Ost-Java eine Organisation, die Versöhnungsprozesse zwischen den Familien oder Nachfahren von Opfern und direkten Tätern auf der Kommunalebene durchführt4. Doch bisher scheint keine dieser Anstrengungen auszureichen, um den Staat zur Verantwortung zu ziehen.

Dilemmata

Die Herausforderungen an diese Organisationen sind sowohl interner als auch externer Natur. Interne logistische und materielle Probleme sind allgegenwärtig, und oft gibt es Konflikte über die kurzfristige Zielsetzung zwischen den verschiedenen Organisationen. Auf der externen Ebene sehen sich diese Organisationen gesellschaftlicher und staatlicher Stigmatisierung ausgesetzt. Versuche, Aufklärungsarbeit über die vergangenen Menschenrechtsverletzungen zu leisten, werden oft als Versuche, den Kommunismus in das Land zurück zu bringen, betrachtet. Weitere Herausforderungen für die Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Kompensation sind das Versagen der bisher durchgeführten Menschenrechtsprozesse und das neue Gesetz über die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC) nach südafrikanischem Vorbild. Die Menschenrechtstribunale zu Osttimor, Tanjung Priok und Abepura haben sich als ineffektiv herausgestellt und waren nicht in der Lage, Täter zu verurteilen. Sie sind freigesprochen worden.

Im Oktober 2004 erließ die indonesische Regierung unter Präsidentin Megawati ein Gesetz über die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (Gesetz Nr. 27/2004, im folgenden TRC-Gesetz). Damit wird die Regierung beauftragt, innerhalb von sechs Monaten, bis zum April 2005, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einzurichten. Bis heute ist die Regierung dieser Verpflichtung nicht nachgekommen.

Was bedeutet dies? Aus dem Kabinett verlautete des Öfteren, dass die Prioritäten der Regierung woanders liegen, als bei der Vergangenheitsaufarbeitung Das zeigt eigentlich nur, dass es der Regierung schlichtweg am politischem Willen hierzu fehlt. Es gibt mit anderen Worten eine klare Tendenz, Straflosigkeit für vergangenes Unrecht zu akzeptieren, was sich an folgenden Punkten festmachen lässt. Erstens hatte die Öffentlichkeit nur sehr begrenzte Möglichkeiten, an der Entwicklung und Ausarbeitung des TRC-Gesetzes mitzuwirken. Zweitens fehlt in dem Gesetz eine klare Definition des Begriffs „Täter“. Das kann dazu führen, dass nur jemand, der direkt Menschenrechtsverletzungen begangen hat, als Täter eingestuft wird, nicht jedoch die Verantwortlichen auf höheren Kommandoebenen, die die Befehle gegeben haben. Drittens werden die Opfer einem enormen psychischen Druck ausgesetzt, da sie, um Kompensation zu erlangen, ihren Tätern vergeben müssen, was einer Amnestie gleichkommt. Viertens sieht das Mandat der TRC nur Untersuchungen zu Einzelfällen vor, wodurch ihr wenig Möglichkeiten zur Aufdeckung der systematischen und politischen Dimension vergangener Menschenrechtsverletzungen bleiben. Dies wird die wahre Natur der Verbrechen verbergen und das indonesische Volk seines Rechtes auf vollständiges Wissen über die belastete Vergangenheit seines Landes berauben. Letztlich gibt es kein Mandat, dass die Regierung dazu verpflichtet, Mechanismen zur Vorbeugung systematischer Menschenrechtsverletzungen zu entwickeln.

Nun, das legt den Schluss nahe, dass sowohl die TRC als auch die bisher durchgeführten Menschenrechtstribunale Mechanismen sind, die eine starke Tendenz zu Straflosigkeit beinhalten. Es steht weiter zu befürchten, dass vergangenes Unrecht ausschließlich von der Wahrheitskommission bearbeitet wird. Dies hängt damit zusammen, dass schwere Menschenrechtsverletzungen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über den Menschenrechtsgerichtshof begangen wurden, nur dann juristisch geahndet werden können, wenn das Parlament die Einrichtung eines ad hoc-Menschenrechtstribunals beschließt. Die Existenz einer TRC könnte als Rechtfertigung gegen einen solchen Beschluss benutzt werden.

Obwohl das TRC-Gesetz die Opfer schwer benachteiligt, spaltet es die NGOs und Opferverbände in Indonesien. Eine pro-TRC-Fraktion möchte die Kommission als Arena nutzen, um ihrer Version der Geschichte offizielle Gültigkeit zu verleihen und hofft, dort Rehabilitation zu erlangen. Diese Fraktion ist stark von dem Erfolg der südafrikanischen TRC inspiriert. Eine kontra-TRC-Fraktion strebt ein Menschenrechtstribunal an, da die Wahrheitskommission die Stellung der Opfer zu sehr schwäche.

Strategische Optionen zur Milderung der erwarteten Schwächen der Wahrheitskommission

Diese Probleme stellen indonesische Menschrechtsaktivisten und Opferverbände vor schwere strategische Fragen. Im Falle der Verbrechen, die den Ereignissen im Oktober 1965 folgten, werden diese kompliziert durch das langsame aber stetige Wegsterben der Opfer. Insbesondere sollten wir uns fragen, ob es Alternativen zur Wahrheitskommission gibt, um den Staat darauf zu drängen, seiner Verantwortung für die Aufarbeitung vergangenen Unrechts nachzukommen.

Es gibt mindestens drei Möglichkeiten, auf die TRC zu reagieren. Diese im folgenden vorgestellten Optionen sollten diskutiert werden, um die gegenwärtige Stagnation in der Zivilgesellschaft zu überwinden. Sie schließen sich dabei nicht aus, sondern könnten komplementär betrachtet werden, um eine starke zivilgesellschaftliche Position zur Wahrheitskommission zu entwickeln.

I. Volle Teilnahme an und Unterstützung für die staatliche TRC. Folgende Strategien werden vorgeschlagen:

a) Der Druck auf den indonesischen Präsidenten, die TRC zu bilden, indem er 21 Kommissare ernennt, muss fortgesetzt werden (zur Zeit befindet sich die Regierung ein Jahr im Verzug).
b) Die Forderung nach einer Quotenregelung, die die Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteuren an der TRC – als Kommissar oder einfacher Mitarbeiter – sichert, muss aufrecht erhalten werden. Dies würde, wie im Fall Chile, die Glaubwürdigkeit der TRC erhöhen.
c) Um dies zu begründen, muss deutlich gemacht werden, dass NGO-Vertreter einen besseren Zugang zu den Opfern haben, mehr Vertrauen von Seiten der Opfer genießen und besser in der Lage sind, verlässliche Daten zu erhalten.
d) Gute Beziehungen zu anderen Kommissaren sollten unterhalten werden, obwohl hier die Frage nach der Unabhängigkeit der zivilgesellschaftlichen Organisation, welche Kommissare stellt, aufkommen wird.
e) Gute Beziehungen zu Kollegen von NGOs und Opferverbänden sollten unterhalten und Informationen über die Arbeitsweise der Kommission an diese weitergegeben werden.
f) „Exit Strategie“: Falls es der Kommission nicht gelingt, die minimalen Erwartungen der Gesellschaft zu erfüllen, sollte sie von Kommissaren mit zivilgesellschaftlichem Hintergrund boykottiert werden. Dieser Aktion sollte jedoch eine öffentliche Anprangerung der Ineffektivität der TRC in den Medien vorhergehen, um der Gesellschaft zu verdeutlichen, dass der Austritt nicht aus persönlichen Gründen vollzogen wurde, sondern als zivilgesellschaftliches Misstrauensvotum zu verstehen ist.
II. Kritische Teilnahme an der TRC durch die Entwicklung und Durchführung einer „alternativen Wahrheitskommission“
a) Ein stärkeres Netzwerk zwischen Organisationen, welche die selben Befürchtungen über die TRC als Instrument zur Straflosigkeit teilen, muss gebildet werden
b) Folgende Segmente sollten in die Entwicklung einer alternativen Wahrheitskommission einbezogen werden: (i) wichtige Massenorganisationen wie Jugendorganisationen, NGOs mit guten Beziehungen zu religiösen Organisationen wie Nadlathul Ulama, Muhammadiyah, der protestantischen und katholischen Kirche etc., (ii) zu Forschungsinstituten und Universitäten, (iii) zu den Medien.
c) Ein Untersuchungsmandat der alternativen Wahrheitskommission sollte formuliert werden. Die Sammlung von Daten über die Ereignisse von 1965 und die nachfolgenden schweren Menschenrechtsverletzungen sollten als wichtiger Startpunkt verstanden werden, da dieser Fall allen nachfolgenden Menschenrechtsverletzungen in seinem Muster, den verübten Straftaten und der Systematik ähnelt (Massenmorde, Folter, Zwangsarbeit, illegale Gefangenschaft, Verschwindenlassen, etc.)
d) Ein Zeitrahmen für die alternative Wahrheitskommission sollte vereinbart werden. Im Idealfall sollte diese Kommission ihre Arbeit zwischen August und November 2006 aufnehmen und vor den nächsten Wahlen 2009 beenden, da dieser Zeitpunkt günstig ist, um Druck auf die kandidierenden Parteien und die Regierung auszuüben. Probleme, die bei der Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Organisationen zu sensiblen Themen entstehen, werden die alternative Wahrheitskommission vor große Herausforderungen stellen. Dennoch sollte sie ihre Arbeit vor der offiziellen TRC beenden. Die Ergebnisse der alternativen Wahrheitskommission sollten als Druckmittel auf die staatliche TRC und als verlässliche Informationsquelle über vergangenes Unrecht und den gegenwärtigen staatlichen Umgang mit diesem dienen, welche eine nationale und internationale Öffentlichkeit nutzen kann.
Hier ist anzumerken, dass einige NGOs eine Klage gegen das TRC-Gesetz vor dem indonesischen Verfassungsgericht eingeleitet haben. Dies ist als guter Anfang einer zivilgesellschaftlichen Antwort auf die Schwächen des Gesetzes zu sehen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die TRC trotz einer erfolgreichen Verfassungsklage als Instrument der Straflosigkeit missbraucht wird.

III. Die staatliche TRC ignorieren

Die Gruppen, welche die TRC ignorieren, haben unabhängige Initiativen zur Vergangenheitsaufarbeitung eingeleitet. Die Fortsetzung dieser Aktivitäten ist wichtig, doch eine Zusammenarbeit mit Gruppen, welche eine der beiden oben genannten Strategien verfolgen, sollte angestrebt werden. Im Folgenden sind einige Beispiele der Aktivitäten aus dieser dritten Gruppe aufgeführt.

a) Versöhnungsprozesse auf Kommunalebene zwischen den Kindern und Enkeln von Opfern und Tätern, oft initiiert von jungen Menschen aus Opferfamilien oder Familien, die vor 1965 zur politischen Elite gehörten
b) Juristische Aufarbeitung, zum Beispiel die Sammelklage gegen alle indonesischen Präsidenten seit Suharto. Die Klage beschäftigte sich mit der gesetzlichen Diskriminierung ehemaliger politischer Gefangener und deren Familien.
c) Opfergruppen stellten wiederholt Forderungen nach Kompensation, angeblich ein Recht auf Grundlage der indonesischen Verfassung.
Schlussbetrachtung

Die staatlich geförderte Straflosigkeit und Stagnation der Vergangenheitsaufarbeitung muss beendet werden. Nach den obigen Ausführungen ist klar, dass eine alternative Wahrheitskommission von Nöten ist. Sie wird nicht nur die Illusionen, die sich Opfergruppen und NGOs über die TRC gemacht haben, beenden, sondern auch als Druckmittel auf die Regierung und als Schutzmechanismus für die Opfer dienen. Sie sollte als Projekt aller Gruppen, welche eine Aufarbeitung vergangenen Unrechts mit den oben beschriebenen unterschiedlichen Strategien anstreben, durchgeführt werden. <>
 

1 Arbeitspapier präsentiert auf der internationalen Konferenz „Erinnern als Chance – vom Umgang mit belasteter Vergangenheit“, 21. bis 22. April 2006 in Berlin. Dank an Aan Rusdianto, Asmin Fransiska, Bonnie Triyana und Nancy Sunarno für die lebhaften Diskussionen und Referenzen.
2 Vorsitzender von PEC (People´s Empowerment Consortium), einer NGO in Jakarta, welche sich für die Rechte der Opfer und Überlebenden vergangenen Unrechts, insbesondere der Tragödie von 1965, einsetzt.
3 In weniger als einem Jahr wurden zwischen 500.000 und 1 Mio. Menschen, meist angebliche PKI-Mitglieder, ermordet. Siehe Robinson, Geoffrey: The Dark Side of Paradise: Political Violence in Bali. Ithaca: Cornell U.P., 1995. Siehe auch Cribb, Robert (Hrsg.): The Indonesian Killings of 1965-1966: Studies from Java and Bali. Clayton, Victoria: Monash, 1990. 4 Während der Massenmorde, die den Ereignissen vom Oktober 1965 folgten, wurden oft Mitglieder religiöser Gruppen ermutigt oder gezwungen, die Morde an angeblichen Kommunisten auszuführen.
 
 
 
 

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