Zur Person
Lily Zakiyah Munir arbeitet wissenschaftlich und zivilgesellschaftlich zu den Themen Islam, Gender und Politik. Sie gründete und leitet das Center for Pesantren and Democracy Studies, CEPDES. Die muslimische Feministin ist im Vorstand von Muslimat Nahdlatul Ulama, dem Frauenzweig der mitgliederstärksten Bewegung moderater, traditioneller Muslime, NU. Bei ihrem Aufenthalt in Aceh widmete sie sich der Frage nach dem Kemaslahatan (der Entsprechung zur Maslahah) der Scharia-Praxis in Aceh. Anschließend reiste Lily Munir nach Atlanta, wo sie an der School of Law der Emory-Universität für islamische Internatsschulen (Pesantren) Lerneinheiten zu den Themen Islam und Menschenrechte entwickelt. Sie war 2004, nach der Bonner Konferenz zu Afghanistan, Mitglied des Joint Electoral Management Body in Afghanistan |
Watch Indonesia!: Ibu Lily Munir, Sie sind nach Aceh gekommen, um sich ein Bild von der Praxis der Scharia zu machen. Was ist Ihr Eindruck?
Lily Munir: Die Einführung und die Implementierung der Scharia in Aceh geschieht einseitig und überstürzt. Die Methodologie, wie die Scharia hier Gesetzeskraft erlangt, ist nicht nachvollziehbar, nicht accountable. Bei der Formulierung der Qawanon (Quanon, pl. Quawanon: in Anlehnung an religiöse Vorschriften formuliertes staatliches Recht, red.) – das machen die Politiker hier, die Abgeordneten des Provinzparlaments, die von der Scharia nicht viel wissen – beachtet man nicht, auf welche Referenzen man sich bezieht und wer die Qawanon formuliert. Die Parlamentarier haben keine Fachkompetenz. Plötzlich ist ein Qanon da. Wichtig wäre, dass der Prozess nachvollziehbar bleibt. Es bleibt aber im Dunkeln, welche Quellen benutzt werden und wer sie interpretiert.
Watch Indonesia! Viele unserer NGO-Partner sagen: „Die Zivilgesellschaft hat niemals die Scharia, sondern nur drei Dinge gefordert: Rückzug des Militärs, Bestrafung der Täter von Gewaltakten und Gerechtigkeit für die Opfer.“
Lily Munir: Erinnern wir uns: als 2000 der Vorschlag eines Referendums unterbreitet wurde, standen nur zur Wahl: für oder gegen Indonesien. Um eine von Indonesien unerwünschte Entscheidung zu verhindern, hat Aceh die Scharia bekommen. Dahinter steckten politische Absichten. Tatsächlich muss ich die Schlussfolgerung ziehen: die Einführung der Scharia war auf allen Ebenen politisch motiviert. Mit der Einführung der Qawanon ist es ganz ähnlich.
Watch Indonesia! Teile der Scharia sind in Aceh bereits implementiert. So sind vier Qawanon zu islamischer Bekleidung, zu alkoholischen Getränken, zu Glücksspiel sowie zu Prostitution und den Beziehungen Unverheirateter erlassen worden.
Lily Munir: Was passierte anfangs, nach Einführung der Scharia? Nur Symbole wurden angebracht, zum Beispiel tauchten überall arabische Schriftzeichen auf und die Frauen mussten jilbab (Kopftuch) tragen. Es gab Druck auf die Frauen. Sonst nichts. Hauptsache, es geschah schnell. Dann erst wurden die vier Qawanon erlassen. Sie ersetzen die bis dahin in Aceh gültigen Regelungen zur religiösen Praxis, gegen Glücksspiel, zu den Beziehungen zwischen Frauen und Männern und gegen Alkohol. Ich denke, es gibt genug indonesische Gesetze, die diese Angelegenheiten regeln. Warum werden diese nicht verbessert? Warum benutzt man Scharia nur für kleine Dinge, warum werden schwere Verbrechen nicht diskutiert? Warum gibt es keinen Qanon gegen Korruption oder für Gerechtigkeit?
Watch Indonesia! Könnte die islamische Rechtssprechung Ihrer Meinung nach ein Weg für mehr Gerechtigkeit sein?
Lily Munir: Darauf kommt es doch an, dass in Aceh Gerechtigkeit herrscht. Doch mit der Art der hier praktizierten Scharia wird das nicht gelingen. Man sollte andere Wege und Reformen finden, durch die Gerechtigkeit erreicht wird. Wenn wir über Scharia sprechen, dürfen wir nie das eigentliche Ziel vergessen: Maslahah, das Gutsein! Doch es ist noch eine offene Frage, wie Gerechtigkeit zu finden ist und wie die Idee der Gerechtigkeit in die Scharia eingeführt wird.
Watch Indonesia!: Überwacht wird die Einhaltung der Qawanon von der Scharia-Polizei. Diese kontrolliert regelmäßig Friseursalons und Bekleidungsgeschäfte, wobei sie Dutzende, manchmal sogar Hunderte von Frauen an einem einzigen Tag festnimmt. Unverheiratete Paare werden zur Heirat gezwungen. Prostituierte werden ausgewiesen. Über Ehebrecherinnen wird die Prügelstrafe verhängt – und öffentlich vollzogen, zum ersten Mal am 18. Juni 2005. Solche Vorfälle, bei denen die Scharia-Polizei einschreitet und Strafen verhängt werden, erscheinen häufig in den Schlagzeilen der Tageszeitungen.
Lily Munir: Opfer werden heute nur die Schwachen, zum Beispiel die Becakfahrer, die ihr Glück im Spiel versuchen, oder die Frauen. Sie werden hart bestraft. In der Exekutive, der Scharia-Polizei und der Regierung, wird die Höhe der schweren Strafen überhaupt nicht diskutiert. Der Prozess, wie ein Qanon formuliert und implementiert wird, bleibt völlig intransparent und nicht nachvollziehbar. Entsprechend ist es mit dem Strafmaß. Die Probleme sind strukturell, doch bestraft werden nur diejenigen, die außerhalb der Strukturen stehen.
Watch Indonesia! Nach unserem Verständnis handelt es sich in vielen Fällen um eine Verletzung der Menschenrechte der Bestraften.
Lily Munir: Ich sehe die Einführung der Scharia in Aceh im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsabkommen. Meiner Meinung nach bestehen in einer konventionell verstandenen Scharia viele Widersprüche zu den Menschenrechten.
Watch Indonesia! Was ist Ihrer Interpretation nach die Ursache für das konventionelle Verständnis?
Lily Munir: Ursache dafür ist, dass die Scharia viel zu eng interpretiert wird. Die Scharia müsste neu interpretiert werden, bevor sie Gesetzeskraft erhalten soll. Scharia ist mehr als nur islamisches Recht (Fiqh). Unter Scharia verstehe ich ein göttlich gegebenes Werte- und Rechtssystem. Die ethischen Aspekte der Scharia werden aber völlig vernachlässigt. Nur der juristische Apekt der Scharia, die Praxis der Gesetze, bzw. der kodifizierte Gesetzeskode Fiqh, wird berücksichtigt. Die theologischen Aspekte, Tawhid, die im Kontext zu den Menschenrechten stehen, werden vernachlässigt, und ebenso die ethischen und spirituellen Aspekte, Tasawwuf. Diese Einseitigkeit widerspricht dem Geist des Islam. Ich verstehe den Islam als Quelle der Ethik und nicht als Dogma. Ebenso verstehe ich die Scharia im Sinne ihrer Essenz, Maslahah. Ich denke daher, in vielen Staaten ist die Anwendung der Scharia völlig einseitig. Auch für Aceh sehe ich, dass in dieser Situation der übereilten Einführung der Scharia und der fehlenden Fachkompetenz der wahre Sinn der Scharia verloren geht. You loose the substance, the essence of Scharia.
Watch Indonesia! Was heißt Maslahah?
Lily Munir: Maslahah ist die Essenz der Scharia. Maslahah bedeutet allgemeine Wohlfahrt, Gutsein. Maslahah ist das ursprüngliche Ziel von Scharia. Doch ich habe den Eindruck, das hiesige Abgeordnetenhaus, das die Scharia umsetzt, versteht das Konzept von Maslahah leider nicht. Was heißt Maslahah? Das wichtigste, das Primäre, sind die fünf Grundprinzipien, sozusagen die Basic Rights: Religionsfreiheit, Schutz des Lebens, Abstammung und Reproduktionsrechte, Besitz und gleiche materielle Rechte für Mann und Frau. Gedanken und Meinungen. Das alles sind absolute Grundlagen für jede soziale Struktur. Sekundär sind die Prinzipien, die die Religion und die Ausübung der Religion er-leichtern. Tertiär sind die Prinzipien der Schönheit, der Ästhetik. Alles das ist in der Scharia enthalten. Scharia ist der Rahmen für das Denken von Gerechtigkeit. Es ist kein bloßer Gesetzeskode. Und der Koran ist kein Gesetzbuch. Man muss ihn erst verstehen, dann interpretieren.
Watch Indonesia! Welche Kräfte entscheiden, wie die Scharia interpretiert wird?
Lily Munir: Zu viele politische Richtungen sind jetzt an der Scharia beteiligt, zu viele Interpretationen haben Einfluss gewonnen, zu viele verschiedene kulturelle Einflüsse, so dass die Essenz verdeckt ist. Einmal sind dies die Wahhabiten. Sie sind sehr textual und rigid. Offensichtlich wollen sie erreichen, dass Aceh in diese wahhabitische Richtung geht. Eigentlich gibt es im Islam keine Priesterschaft, aber was hier passiert, ist, dass Hierarchien aufgebaut werden und eine Elite entsteht. Das bedeutet aber: die intellektuelle Richtung wird verschlossen. Und die progressiven Kräfte in Aceh sind in der Minderheit. Auch sie befürworten die Scharia, doch sehen sie den Kontext. Die islamische intellektuelle Elite Acehs bemüht sich zur Zeit, an den Entwürfen zu UUPA (Undang-Undang Pemerintahan Aceh; das Umsetzungsgesetz des Helsinki Abkommens über die Autonomie Acehs, red.) mitzuarbeiten und ihren input zu geben, zum Beispiel im Parlament, insbesondere zu den Fragen der Implementierung und zum Monitoring.
Watch Indonesia! Wie wird die Scharia den Friedensprozess beeinflussen und umgekehrt? Die Unterzeichnung des Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der indonesischen Armee (TNI) und der Unabhängigkeitsbewegung (GAM) am 15. August 2005 in Helsinki bedeutet keine Veränderung der Scharia-Praxis. Im Gegenteil, viele Politiker drängen auf die Verabschiedung weiterer Qawanon. Deren Einhaltung wird sogar strenger überwacht. Wie im ersten Halbjahr des Jahres 2005 gibt es weiterhin sweepings der Scharia-Polizei. Ab 1.1.2006 werden die Bürgerinnen und Bürger Acehs sogar an jeder Ecke an ihre Pflicht zur Beachtung der islamischen Kleidervorschriften erinnert.
Lily Munir: Es gibt hier eine Menge Fragen und Widersprüche, die auftauchen: Im MoU wird die Scharia nicht mit einem Wort erwähnt. Dagegen wird sie zur Grundlage der neuen Verfassung für Aceh (UUPA). Damit wird die neue Verfassung für Aceh im Widerspruch zum indonesischen Grundgesetz stehen. Das Provinzparlament (DPRD) von Aceh beschäftigt sich intensiv mit der Scharia, will sie umsetzen und sagt ganz offen: „Go to hell with the MoU.“ Wie der Friedensprozess bei diesen Widersprüchen gestaltet werden soll, ist eine offene Frage.
Das Interview führte
Marianne Klute am 28. Dezember 2005 in Lamjampok im Distrikt Aceh
Besar
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