Am 7. Dezember 2006 verkündete das Verfassungsgericht einmal
mehr ein unerwartetes und höchst umstrittenes Urteil: Es erklärte
das Gesetz über die Wahrheits- und Versöhnungskommission (WVK,
indonesisch: KKR) für verfassungswidrig und damit für nichtig.
Geklagt hatten eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen und Opferverbänden,
darunter Kontras, Elsam und Imparsial. Während diese nur beantragt
hatten, das Gericht möge drei Artikel für verfassungswidrig erklären,
kippten die Richter das gesamte Gesetz. Aufgrund der Tatsache, dass das
Gericht somit über Dinge entschieden hatte, die nicht von den Klägern
beantragt waren, setzten sich die Richter erneut dem Vorwurf aus, ihre
Kompetenzen zu überschreiten. Denn das Prozessrecht sieht für
die Verfassungsrichter nicht vor, über mehr als das Beantragte (ultra
petita) zu entscheiden, und der Urteilsspruch enthält unter anderem
eine lange Rechtfertigung für diesen so massiv kritisierten Schritt.
Das Gericht gab den Klägern nur in einem der beantragten Punkte Recht,
nämlich hinsichtlich der folgenden Bestimmung: „Wiedergutmachung und
Rehabilitierung … können gewährt werden, wenn dem Amnestiegesuch
stattgegeben wird.“ Diese Verknüpfung von Wiedergutmachung für
die Opfer und Amnestie für die Täter sahen auch die Richter als
verfassungswidrig an. Amnestie zu gewähren, ist laut Verfassung das
Vorrecht des Präsidenten, der nach Konsultation mit dem Parlament
darüber entscheidet. Hingegen sei es die rechtliche Verpflichtung
des Staates, den Opfern von schweren Menschenrechtsverletzungen Wiedergutmachung
und Rehabilitierung zukommen zu lassen – ohne irgendeine Bedingung. Mit
der im Gesetz enthaltenen Bestimmung von Amnestie als Bedingung würde
der verfassungsmäßig garantierte Schutz von Recht und Gerechtigkeit
ignoriert. Als einen Grund dafür, dass sie nicht nur den genannten
Artikel, sondern mit ihm gleich das gesamte Gesetz für nichtig erklärten,
führten die Richter an, dass der genannte Amnestieparagraph und die
mit ihm zusammenhängenden Artikel ganz wesentlich das Funktionieren
des gesamten Gesetzes bestimmten.
Als weiteren Grund für ihre umstrittene Entscheidung, das Gesetz in toto zu kippen, nannten die Richter fehlende Rechtssicherheit, sowohl in der Formulierung der Normen des Gesetzes als auch, was dessen Durchführung angeht. Die vom Gesetzgeber festgeschriebenen Prinzipien und Ziele der Wahrheits- und Versöhnungskommission könnten nicht realisiert werden, weil das Gesetz zu Rechtsunsicherheit führe. Zur Begründung dieser Feststellung führen die Richter eine Reihe von Ungereimtheiten und Widersprüchen im Gesetzestext an. Und sie erläutern, weshalb sie das Ziel, Versöhnung zu erreichen, mit dem bestehenden WVK-Gesetz für nicht realisierbar halten.
Bevor wir darauf eingehen, muss zunächst kurz erwähnt werden, wie die Richter mit dem von den Klägern beanstandeten „Schlussstrichparagraphen“ umgegangen sind. Anders als die Kläger halten die Richter diesen keineswegs für verfassungswidrig: „Schwere Menschenrechtsverletzungen, die bereits durch die Kommission aufgedeckt und zu einer Lösung gebracht worden sind, können nicht noch einmal als Fälle vor ein ad hoc Menschenrechtsgericht gebracht werden.“ Die Richter sehen in der Wahrheits- und Versöhnungskommission einen Mechanismus der alternativen Streitbeilegung (Alternative Dispute Resolution). Ein solcher ziele auf gütliche Regelung ab und schließe bei einem erfolgreichen Abschluss eines Falles dann den weiteren Rechtsweg aus. Der genannte „Schlussstrichparagraph“ ist für das Gericht ein logisches Resultat eines Mechanismus der alternativen Streitbeilegung und könne nicht als Bestätigung von Straflosigkeit angesehen werden.
Die Struktur des Aufarbeitungsprozesses von schweren Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit, wie sie das WVK-Gesetz festschreibt, ist nach Einschätzung der Richter nicht geeignet, Täter dazu zu bringen, vor der Kommission auszusagen, denn für sie sei nach dem Gesetz keine Rechtssicherheit gegeben. Für einen Täter stellt sich der Prozess kurz gefasst etwa so dar: Entschließt er sich dazu, diesen Weg der freiwilligen Vergangenheitsaufarbeitung zu gehen, muss er mit Blick auf eine mögliche Amnestie die Fakten über seine Verbrechen aufdecken, seine Fehler zugeben, seine Taten bereuen, die Opfer um Verzeihung bitten und mit ihnen Frieden schließen. Ob ihm dann aber Amnestie gewährt wird, bleibt ungewiss. Wenn ihm die Opfer nicht vergeben, entscheidet die Versöhnungskommission, ob sie dem Präsidenten eine Amnestie empfiehlt oder nicht. Und selbst wenn die Opfer dem Täter verzeihen, mit ihm Frieden schließen und die Kommission eine Amnestieempfehlung gibt, bleibt die letztendliche Entscheidung ein verfassungsmäßiges Vorrecht des Präsidenten, der sie, in Konsultation mit dem Parlament, gewähren kann oder auch nicht. Gewährt er sie nicht, bestimmt das Gesetz im Kleingedruckten (nämlich in der allgemeinen Erläuterung), dass der Täter vor ein Ad-hoc-Menschenrechtsgericht gebracht werden kann. Zu dessen Zustandekommen gleich mehr. Die Richter weisen auf die Möglichkeit hin, dass Opfer, die nicht bereit sind zu vergeben, den Täter auf der Basis der Beweise, die dieser in der Hoffnung auf Amnestie mit seiner Aussage vorgelegt hat, den Strafverfolgungsbehörden melden könnten. Das heißt, Täter sehen sich mit der Gefahr konfrontiert, dass ihre Aussagen einmal gegen sie verwendet werden könnten. Unter diesen Bedingungen, so die Richter, sei es schwierig, auf Versöhnung zu hoffen, wie es ja das Ziel der Kommission sei. Des Weiteren stellt sich dem Gericht die Frage, in wessen Zuständigkeit es fallen wird zu bestimmen, ob im Falle einer Verwehrung von Amnestie für einen Täter dann ein Ad-hoc-Gericht eingesetzt wird. Im Gesetz über Menschenrechtsgerichtshöfe aus dem Jahr 2000 ist bestimmt, dass das Parlament in Fällen vor Inkrafttreten des Gesetzes, also um Fälle, wie sie die Kommission behandeln sollte, darüber entscheidet, ob es sich um einen Fall von schweren Menschenrechtsverletzungen handelt. Laut WVK-Gesetz hat nun aber die Kommission, deren Entscheidungen, wie das Gericht unterstreicht, endgültig und bindend sind, einen Fall bereits als schwere Menschenrechtsverletzung klassifiziert und behandelt. Gilt nun die bindende Entscheidung der Kommission als alleinige Voraussetzung für die Einrichtung eines Ad-hoc-Gerichts oder die Entscheidung des Parlaments? Das Gericht sieht Kompetenzstreitigkeiten vorprogrammiert, in denen es dann womöglich als zuständige Instanz wiederum zu entscheiden hätte.
Die Richter führen noch eine Reihe weiterer Beispiele für Ungereimtheiten und Widersprüche im Gesetz an, um ihr Argument, das WVK-Gesetz schaffe Rechtsunsicherheit, zu untermauern. Abschließend stellen sie fest, die Entscheidung, das gesamte Gesetz zu kippen, bedeute nicht, dass das Gericht Mittel und Wege verschließe, schwere Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit durch Versöhnung zu einem Abschluss zu bringen. Es gebe viele Möglichkeiten dazu, unter anderem die Realisierung von Versöhnung durch rechtliche Maßnahmen, sprich: Gesetze, welche im Einklang mit der Verfassung und internationalen Menschenrechtsinstrumenten stehen, oder durch politische Schritte im Rahmen von allgemeiner Rehabilitierung und Amnestie.
Regierung und Parlament bleiben in der Pflicht
Was den Fortgang von Aufarbeitung der Vergangenheit in Indonesien angeht, so bleiben Regierung und Parlament nach dem umstrittenen Urteil in der Pflicht, eine gesetzliche Grundlage für eine Wahrheits- und Versöhnungskommission zu schaffen – und dies nicht nur moralisch. Ein Dekret der Beratenden Volksversammlung (MPR) aus dem Jahr 2000, welches als eine höherrangige Rechtsquelle noch immer die Einrichtung einer solchen Kommission bestimmt, ist nach wie vor in Kraft. Außerdem sind Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in den Sondergesetzen für Papua und Aceh vorgesehen. Da diese als Teile der nationalen Kommission konzipiert sind, braucht es dringend eine neue Rechtsgrundlage, die im Einklang mit der Verfassung und internationalen Standards steht – und dies so bald als möglich.
Das Urteil hat starke Kritik hervorgerufen. Von verschiedensten Seiten wurde dem Gericht einmal mehr vorgeworfen, seine Kompetenzen überschritten zu haben. Kläger und Betroffene beklagen, dass Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen nun weiter auf Vergangenheitsaufarbeitung warten müssen. „Auf der einen Seite müssen wir die Entscheidung des Gerichts respektieren,“ so die Menschenrechtsorganisation Elsam, die mitgeklagt hatte, in einer detaillierten Stellungnahme zum Urteil, „aber auf der anderen Seite müssen wir bei einem Urteil, welches das Rechtsprinzip verletzt und vom Geist des Entstehungsprozesses des WVK-Gesetzes abweicht, dessen ‚Gültigkeit’ in Frage stellen. Dies umso mehr, wenn wir die Implikationen betrachten, die die Außerkraftsetzung des Gesetzes für die Opfer hat, besonders für die Opfer in Papua und Aceh, die auch die Einrichtung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen auf der Agenda haben.“
Elsams Hauptkritik an der inhaltlichen Argumentation des Gerichts ist, dass die Idee der Wahrheits- und Versöhnungskommission nicht in ihrer Gesamtheit verstanden wurde. In der Urteilsbegründung wird Versöhnung zum zentralen Charakteristikum der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Die Gleichsetzung der Wahrheits- und Versöhnungskommission mit einem im Zivilrecht angewandten Mechanismus der alternativen Streitbeilegung ist in Elsams Augen eine gefährliche Interpretation. Elsam stellt als wesentliche Funktionen der Wahrheits- und Versöhnungskommission folgende heraus: die Wahrheit aufzudecken, den Opfern die Anerkennung der Opfer zuzusprechen, Wiedergutmachung für die Opfer bereit zu stellen und Reformen der Institutionen durchzuführen, die für die schweren Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden, dies ohne Bestrafung der Täter.
Massiv wendet sich Elsam auch gegen die Kompetenzüberschreitungen des Gerichts. Neben dem Verstoß gegen das prozessrechtliche Prinzip, in einer Entscheidung nicht über das Beantragte hinauszugehen, kritisiert Elsam auch die oben erwähnten abschließenden Empfehlungen des Gerichts: “Die Überlegungen des Gerichts dringen in den Bereich der Politik vor, welcher die Domäne von Regierung und Parlament als Gesetzgeber ist. Darüber hinaus können die Überlegungen des Gerichts zu einer ‚blanket amnesty’ führen. Weil Amnestie ganz allgemein allen gewährt wird, die für Täter schwerer Menschenrechtsverbrechen gehalten werden, ohne die strikten Bedingungen zu beachten, die der Referenzrahmen sein müssen, wenn Amnestie gewährt wird, nämlich: 1. vor der Gewährung von Amnestie muss die Enthüllung der Wahrheit stehen; 2. Amnestie darf nicht für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord gewährt werden; 3. das Gewähren von Amnestie muss dem Wunsch des Volkes entsprechen.“
Eine sehr klare Position zum Thema Amnestie für schwere Menschenrechtsverbrechen
hatte erst kürzlich die sog. Expertenkommission abgegeben, die vom
früheren UN-Generalsekretär Kofi Annan eingesetzt worden war,
um die juristischen Aufarbeitungsprozesse der Gewalt in Osttimor 1999 zu
evaluieren: „Mit Verweis auf relevante internationale Standards, wie sie
sich im Laufe der Zeit herauskristallisiert haben, sollte die Versöhnungspraxis
der [osttimoresisch-indonesischen] Freundschafts- und Versöhnungskommission
den Zugang zu Amnestieverfahren für Fälle von Völkermord,
Verbrechen gegen die Menschlichkeit … Folter, Verschwindenlassen, extralegale
Hinrichtung … ausschließen.“ <>
Urteil:
http://www.mahkamahkonstitusi.go.id/download/putusan_sidang_Putusan006PUUIV2006ttgKKRtgl07122006.pdf
Stellungnahme von Elsam:
http://www.elsam.or.id/pdf/position%20paper%20Elsam%20thd%20Putusan%20MK%20membatalkan%20UU%20KKR.pdf
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