Suara Nr. 1/2007 (Osttimor)

Der scheinbar ethnische Konflikt

von Tia Mboeik, Jakarta


2006 war ein schweres Jahr für Osttimor: Das junge Land mit einer Million Bevölkerung wurde von gewalttätigen Unruhen erschüttert. Obwohl diese auf die Hauptstadt Dili konzentriert waren, hatten sie tiefgreifende Auswirkungen auf die Sicherheits- und Innenpolitik des gesamten Landes. Anfangs protestierten Militärangehörige gegen diskriminierende Praktiken in der Armee. Darauf folgten unehrenhafte Entlassungen. Eine unkluge Politik, die, angeheizt mit ungeschickten Äußerungen führender Politiker, die friedlichen Proteste in bewaffnete Kämpfe umschlagen ließen. Zu guter Letzt erschossen Militärangehörige entwaffnete Polizisten, die sich in Begleitung von UN-Polizisten befanden, die den Waffenstillstand verhandelt hatten. Neben Militär- und Polizeiangehörigen waren Kampfsportbanden und Milizen unmittelbar an der Eskalationen beteiligt. Bei den Unruhen im April (28./29.4.2006) und Mai (23. – 25.5.2006) kamen mindestens 33 Menschen ums Leben, bis zu 155.000 Menschen sind aus Angst aus der Stadt geflohen oder haben in kirchlichen Einrichtungen Zuflucht gesucht. Bei den Unruhen vom 22. – 30.Oktober 2006 gab es 50 Schwerverletzte und mindestens 8 Menschen kamen ums Leben. Jedes Mal konnte nur ein Großeinsatz der internationalen Truppen die Lage beruhigen.

Im Juni 2006 setzte der damalige UN Generalsekretär Kofi Annan eine unabhängige Untersuchungskommission ein, um die Hintergründe und den Verlauf der Unruhen zu untersuchen. Das Ergebnis wurde mit leichter Verspätung am 17. Oktober dem Parlament vorgelegt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Regierungsmitglieder und Angehörige des Sicherheitsapparates werden für die Unruhen im Mai und Juni Verantwortlich gemacht und sollen, so die Empfehlung der Experten, strafrechtlich verfolgt werden.

Hinterfragbar aber ist die Tendenz, bei der Suche nach Erklärungen für den Konflikt den Fokus hauptsächlich auf ethnische und geographische Kriterien zu legen. Die durch solche Erklärungsmuster verbreitete Annahme, dass Menschen aus dem Osten von Osttimor (Lorosae) im Militärwesen bevorzugte Behandlung vor denen aus dem Westen (Loromonu) genießen, verdichtet sich in eine künstliche Konfliktlinie Ost-West, der alle Seiten bei den Unruhen folgten. Sogar die zivile Bevölkerung sieht sich gezwungen, sich um der eigenen Sicherheit willen jeweils einer der beiden neu etablierten Konfliktgruppen zuzuordnen.

In diesem kurzen Artikel möchte ich einige Eindrücke während eines kurzen Aufenthalts in Dili vom Tag der Veröffentlichung des UN-Untersuchungsberichts bis zum 20. Oktober 2006 wiedergeben, und einige wesentliche Konfliktpotentiale in dem Land aufzeigen.

Dili am Tag der Veröffentlichung des UN-Untersuchungsberichts

Eine bedrückende Atmosphäre erwartete mich am Nachmittag des 17. Oktober 2006 am Flughafen in Dili. Die Kontrolle bei der Immigration war besonders streng. Bewaffnete Polizisten liefen auf und ab. Das Cafe vor dem Flughafen war leer. Nur einige Flüchtlingskinder liefen uns entgegen, boten uns ihre Hilfe beim Koffertragen an oder bettelten nur. Das Flüchtlingslager liegt höchstens 50 Meter entfernt vom Flughafengebäude. Die Gegend heißt Komoro und gilt derzeit als eine der unsichersten in der Stadt. Flüchtlingslager werden in Dili meist mit Sicherheitsproblemen identifiziert.

Aus Angst, die Veröffentlichung des UN-Berichtes könnte zu neuerlichen Gewaltausbrüchen führen, waren viele aus der Stadt geflohen. Das Trauma vor unberechenbarer Gewalt, Angriffen auf offener Straße, abgebrannten Häusern und Drohungen sitzt tief im Gedächtnis der Menschen, v.a. derjenigen, die aus dem Osten des Landes stammen. Nur vereinzelt sah man Privatautos und Taxen auf den Straßen. Im Stadtinneren, rund um das Parlamentsgebäude bis zum Hotel Timor, das nobelste Hotel in Dili herrschten strikte Sicherheitsvorkehrungen. Bei den Mai-Unruhen diente das Hotel als Zufluchtsort für Ausländer, die von dort unter Aufsicht der internationalen Polizei außer Landes gebracht wurden.

Internationale Polizisten, die im Rahmen der neuen UN Mission für Osttimor (UNMIT) aufgestellt wurden, bewachten in schwerer Ausrüstung die Gegend um das Parlament in der Innenstadt und führten Kontrollen in den Stadtrandgebieten durch. Nur einige wenige Straßenverkäufer standen mit ängstlichen Blicken am Straßenrand und verkauften ihre Ware. Eine halbe Stunde vor der angekündigten Pressekonferenz fuhren UN Jeeps in Richtung Parlamentsgebäude. Danach herrschte ungewöhnliche Stille in der Stadt. Selbst am Strand Areia Branca, ein beliebter Treffpunkt, waren keine Aktivitäten mehr zu beobachten.

Vier Tage vor dem erneuten Gewaltausbruch

Die Atmosphäre während meines kurzen Aufenthalts in Dili war eigentlich nichts anders als die so genannte Ruhe vor dem Sturm. Diese Ruhe gab mir immerhin Gelegenheit mit Mitarbeitern und Sympathisanten nationaler wie auch internationaler NGOs über die aktuellen Themen in dem jungen Staat zu sprechen. Alle Gesprächspartner waren sich einig, dass die Veröffentlichung des Berichts erneute Unruhen hervorrufen wird. Die Regierung steht vor enormen Druck, das Vertrauen des Volkes und der internationalen Welt wiederzugewinnen.

Wirtschaftliche Lage

Wirtschaftliche Perspektivlosigkeit ist eine günstige Vorbedingung für Konflikte. Die wirtschaftliche Lage in Osttimor mit einem Pro-Kopf-Einkommen von nur 378 USD (2005) sieht geringversprechend aus. Das Einkommen von etwa 40% der Bevölkerung liegt unter der absoluten Armutsgrenze von 1 USD pro Tag. Die Arbeitslosenrate liegt laut offiziellen Angaben bei 43%, wobei die reale Ziffer weitaus höher – bis zu 90% – eingeschätzt wird.

Von verschiedenen Institutionen, wie zum Beispiel der Europäischen Union, wurden bisher mehrere Millionen Euro für den Wiederaufbau der Landwirtschaft zur Verfügung gestellt. Doch in Hinblick auf die stagnierende Wirtschaft in Osttimor und auf die andererseits hohen Lebensstandards der ausländischen Helfer, stellt sich mir die Frage, ob die Hilfsgelder tatsächlich da gelandet sind, wo sie hin gehören. Es wird jedenfalls deutlich, dass die praktizierte Geberökonomie nicht ausreicht, Osttimor zu einer eigenständigen und nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung zu verhelfen. Vielmehr besteht momentan die Gefahr, dass sich das Land immer tiefer in die wirtschaftliche Abhängigkeit von internationalen Hilfsgeldern stürzt. Noch immer leben bis zu 146.000 Menschen (ca. 15% der gesamten Einwohner Osttimors) in Flüchtlingslagern.

Ein Ernst zu nehmendes Problem stellt die hohe Arbeitslosigkeit der Einheimischen dar. Ausländische Unternehmer begründen ihre Vorliebe für Gastarbeiter aus asiatischen Nachbarländern mit der niedrigen Qualifikation der einheimischen Arbeiter. Außerdem werden einheimische Arbeiter konfrontiert mit schlechten Arbeitsbedingungen und Unterbezahlung. Die einzige Gewerkschaftskonföderation heißt TLTUC (Timor Lorosae Trade Union Confederation), worin die wenigen Gewerkschaften der Krankenschwestern, Bau- und Handwerker, Seefahrer und Arbeiter im Dienstleistungsbereich vereint sind.

Die Unruhen und die angespannte Sicherheitslage wirken sich sehr negativ auf das Investitionsklima des Landes aus. Schon zuvor war das Interesse ausländischer Investoren gering. Rigide protektionistische Maßnahmen, die der ehemalige Ministerpräsident Mari Alkatiri initiierte, um kleine und mittlere Unternehmer zu schützen, sind einer der Hauptgründe für das geringe Interesse ausländischer Investoren.

Armut und das Öl von morgen

Osttimor ist bekanntermaßen reich an Ölvorkommen. Berichten zufolge, hat sich Osttimor zu Beginn 2006 entschlossen, die Ölerträge in der amerikanischen Zentralbank als einen Fond anzulegen. Nur die Zinsen aus diesem Fond sollen in den nächsten Jahren verwendet werden, der Rest wird angespart. Diese Geldquelle ist für die Zeit gedacht, wenn sich die Ölreserven erschöpft haben werden, womit ungefähr im Jahre 2050 gerechnet wird. Betrachtet man jedoch die momentane wirtschaftliche Situation, so wäre eine volle Nutzung der Ölgelder von Nöten. Damit könnte unabhängig von den internationalen Hilfsgeldern das Überleben vieler Osttimoresen gesichert und die Wirtschaft angekurbelt werden. Welchen Sinn hat es, für das Jahr 2050 zu sparen, wenn die Bevölkerung nicht einmal dem tagtäglichen Überlebenskampf standhalten kann? Mindestens ordentliche Behausung, sanitäre Anlagen und Nahrungssicherheit könnten mit diesen Geldern finanziert werden.

Wut und Gewalt – Alltag?

Den Anblick eines leeren, betonierten Platzes, wo einst ein lebhafter Markt war, der zu Beginn der Unruhen im Mai in Brand gesetzt wurde, kommentierte eine noch junge Frau: „Es ist die Dummheit, die die Menschen dazu getrieben hat.“ Nun gibt es keinen Markt mehr, Verkäufer machen Verlust und Käufer bekommen keine Ware mehr. „Am schlimmsten aber,“ fügt sie hinzu, „ist das wachsende Misstrauen zwischen den Menschen.“ Das Prinzip gesunder Marktkonkurrenz lässt sich kaum einführen, da jedes kleinste Fehlverhalten als persönliche Provokation gedeutet wird. „Wann hört diese Dummheit nur auf? Was bleibt ist doch nur die Angst,“ meint die Frau zum Schluss.

Angst herrscht auch unter den Taxifahrern. Wohlwissend, dass die Unruhen noch nicht ganz vorbei sind, ließ ein indonesisch-portugiesischstämmiger Taxifahrer das kaputte Rückfenster nicht ersetzen. Einmal geriet er vor dem Flüchtlingslager in Comoro in einen Angriff, bei dem Steine flogen. Seitdem versucht er um Flüchtlingslager einen Bogen zu machen, vor allem nach der Abenddämmerung. .

Ost–West Konflikt

Die Unruhen haben die erfundene politische Spaltung zwischen Loromonu und Lorosae dramatisch verschärft. Patrick Walsh, Berater der nationalen Wahrheits- und Versöhnungskommission (CAVR) betont, dass die Spaltung nicht historisch begründet sei. Im Abschlussbericht der Kommission, der die Konfliktgeschichte von 1974 bis 1999 durchleuchtet, findet sich kein Hinweis auf eine Unterscheidung zwischen Ost und West. Bereits in der letzten Ausgabe der Indonesien-Information wurde darauf verwiesen, dass die gesellschaftspolitische Konsequenz nicht zu unterschätzen sei: „sie (die Regierung unter Alkatiri) ließ es zu, dass der von den Soldaten als Problem identifizierte Gegensatz zwischen dem Osten und Westen Osttimors auf die Gesellschaft übergriff“ (s. Indonesien-Information Nr.1/06). Es ist zu bedauern, dass die unabhängige Untersuchungskommission der UN in ihrem Bericht vom 17. Oktober geradezu den Eindruck verstärkt, dass die Unruhen auf einen Konflikt zwischen Lorosae (Osten) und Loromonu (Westen) zurückzuführen sind.

Ich kann der simplifizierten Begründung eines ethnischen Konfliktes auch aus dem Grunde nicht zustimmen, da in Osttimor fast sämtliche Voraussetzungen, die politische Instabilität begünstigen, aufeinander treffen: wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, schwache Führung der Regierung unter starker Einmischung internationaler Interessen wegen des Ölreichtums sowie ein niedriger Entwicklungsstand. Sozialer Neid zwischen Gesellschaftsgruppen entsteht nicht an einem Tag.

Gerechtigkeit und Justizwesen

Was passiert nun mit dem Bericht der UN-Untersuchungskommission? Wird er dasselbe Schicksal erleiden wie der Abschlussbericht mit den Empfehlungen der nationalen Wahrheitskommission CAVR? Sie hatte im Jahr 2002 die Arbeit zur Untersuchung der Menschenrechtsverbrechen, die von April 1974 bis Oktober 1999 begangen wurden, aufgenommen. Im Herbst 2005 hat sie ihren Bericht dem Präsidenten, der Regierung und dem Parlament vorgelegt. Doch bisher hat sich das Parlament nicht mit dem Bericht und seinen Empfehlungen zur ausnahmslosen Untersuchung der Menschenrechtsverbrechen beschäftigt. Und die Regierungen von Osttimor und Indonesien bevorzugen die von ihnen eingerichtete alternative Wahrheits- und Freundschaftskommission, die nur eines zum Ziel hat: Amnestie für die Täter.

Demokratische Konsolidierung

Seit Oktober kam es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen verfeindeten Jugendbanden. Australische Soldaten erschossen im Februar 2007 zwei Osttimoresen, die mit Stahlpfeilen auf sie gezielt hatten. Noch in Zusammenhang mit der Spaltung des Militärs, konnte der Anführer der protestierenden Militärdeserteure, Major Alfredo Reinado, mit seinen Getreuen aus dem Gefängnis entfliehen. Ende Februar verließen diese ihr Versteck und überfielen zwei Posten der Grenzpolizei, um Waffen zu erbeuten. Präsident Gusmão ermächtigte die internationale Friedenstruppe, Reinado zu suchen und zu verhaften; auch Indonesien bat er um Hilfe. Die starke Präsenz der Australischen Truppe stieß auf erheblichen Widerstand unter der einheimischen Bevölkerung. Es kam zu Kämpfen zwischen den Rebellen und australischen Truppen und infolgedessen zu breiten anti-australischen Protesten und Ausschreitungen in Dili. Diese neueren Entwicklungen verdeutlichen, dass es bis zu einer Konsolidierung der Demokratie in Osttimor noch ein weiter Weg ist. Inwiefern die für April angesetzten Präsidentschaftswahlen frei und vor allem friedlich durchgeführt werden können, bleibt eine andere Frage. Im schlimmsten Fall fürchte ich, dass das Ergebnis der Wahlen, die unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen durchgeführt wurden, neue Probleme für den Prozess des nation building und die Demokratisierung in den Weg stellen. <>
 

Für Gespräche und Meinungen bedanke ich mich bei: Maria Tschanz (FOKUPERS), Amado Hei (Yayasan Hak), APHEDA, José Caetano (STP-CAVR) und Henriette Sachse (Watch Indonesia!). Nicht zuletzt einen großen Dank an Lisa Hirn (Praktikantin bei FES Indonesien) für ihre Mühe bei der Korrektur.
 
 

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