Nach den Unruhen des
Jahres 2006 verstärken die Jesuiten in Osttimor ihr Engagement für
verbindende kulturelle Werte. Die Casa de Produção Audiovisual
produziert Fernseh-sendungen mit Sagen aus dem Volksgut und wird in ihrem
neuen Zentrum auch Lehrer und Entwicklungsarbeiter ausbilden.
Osttimor ist seit 2002 ein unabhängiger Staat. Bis heute zweifeln auch wohlgesinnte Beobachter an der Machbarkeit dieses Experiments. Wird dieses kleine Land mit nur einem guten Drittel der Fläche der Schweiz und mit nur einer Million Einwohner zwischen den mächtigen Nachbarn Indonesien und Australien bestehen können? Osttimor gilt als eines der rückständigsten Länder Asiens. Etwa die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben. Es gibt praktisch keine Industrie. Bereits 1963 beschlossen England, Australien und Neuseeland in einem geheimen Abkommen mit den Vereinigten Staaten, dass die damalige portugiesische Kolonie im indonesischen Staat integriert werden soll. Zwölf Jahre später wurde die gewaltsame Annektierung im Sinne einer Realpolitik von der Weltöffentlichkeit stillschweigend toleriert.
Trotzdem kam es zur Unabhängigkeit, und seit fünf Jahren ist Osttimor ein Mitglied der Vereinten Nationen. Allein dieses Faktum zeugt von einem starken Willen zur Eigenständigkeit. Osttimor unterwirft sich nicht dem Diktat einer pragmatischen Weltpolitik. Allerdings gibt die Unabhängigkeit bisher wenig Anlass zum Feiern. Die anfängliche Euphorie hat einer großen Enttäuschung Platz gemacht. Ehemalige Kollaborateure der indonesischen Besatzungsmacht fühlen sich diskriminiert. Aber auch Freiheitskämpfer sind enttäuscht, denn viele von ihnen hofften, im neuen Staat zu Rang und Namen zu kommen, etwas was nur sehr wenigen gelungen ist. Neid und Missgunst aber auch Arroganz in den eigenen Reihen haben dazu geführt, dass die Regierung abdanken musste. Die neuen Machthaber scharen viele frustrierte Opportunisten aus allen Lagern um sich und haben Mühe, das ursprüngliche Ethos der Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten. Das Ergebnis ist ein Chaos.
„Geschichte für die Zukunft“
Aber Osttimor hat eine große Geschichte hinter sich. Wer diese Geschichte kennt, wird sehen, dass es sich bei den gegenwärtigen Unruhen nur um eine vorübergehende Episode handeln kann. Seit es in Osttimor ein regelmäßiges eigenes Fernsehen gibt, das heißt seit Anfang 2004 gibt es das wöchentlich zweimal gesendete Programm „Geschichte für die Zukunft“ (Istoria Ba Futuru). Mehr als tausend Zuschauerbriefe beweisen, dass dieses Programm nicht nur sehr beliebt ist, sondern auch große Hoffnungen weckt. In einer Zeit der Unsicherheit trägt dieses Programm dazu bei, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu deuten. Einheimische Sagen bilden einen wichtigen Bestandteil der Fernsehprogramme „Geschichte für die Zukunft“. Die geschichtlichen Fakten sollen ja nicht nur mitgeteilt, sondern auch aufgrund der eigenen Tradition gedeutet werden. Außerdem spielt die Musik eine große Rolle, sowohl die ursprünglich timoresische wie auch die portugiesische oder kreolische Musik.
Drei Gruppen von je sieben Mitarbeitern produzieren zusammen mit einem Jesuiten Zeichentrickfilme, Dialoge, Musik- und Tanzeinlagen sowie Texte für die Ansagerin, sodass jede Woche ein neues Programm bereitgestellt werden kann. Dieses wird dann von der staatlichen Fernsehstation gesendet. Da es nur eine Fernsehstation gibt, die in der Sprache von Osttimor sendet, erreicht das Programm ein großes Segment der Bevölkerung. Die Sendezeit unmittelbar vor den Abendnachrichten ist dazu äußerst günstig.
Ein neues Produktionshaus bauen wir nun siebzehn Kilometer außerhalb von Dili auf einem Hügel beim Dorf Kasait. Hinzu kommt ein Timordorf mit vierzehn traditionellen Häusern als Bildungszentrum für Lehrer, Entwicklungsarbeiter, Katecheten und Journalisten. Auf diesem Hügel mit phantastischer Aussicht auf das Meer und die Berge soll der Geist der Unabhängigkeit basierend auf timoresischer Tradition in einer freien Atmosphäre gepflegt werden. Die ersten Timorhäuser sind von den Handwerkern des Dorfes schon fertig gestellt und bilden nun die Kulisse für unsere Fernsehprogramme.
Als wir Anfang 2006 unseren Hügel am Meer erwarben, dachten wir nicht, dass wenige Monate später Dili von einer schreckliche Krise heimgesucht würde. Eine unsichtbare Hand schaffte zuerst Uneinigkeit in Polizei und Armee, und dann stachelte sie wilde Banden arbeitsloser Jugendlicher dazu auf, die Bevölkerung mit Waffen zu bedrohen. Nachdem weit über 100.000 Menschen aus ihren Wohnvierteln geflohen waren, raubten diese Banden, was immer sie fanden und zündeten die Häuser an. Nun ist es bereits fast ein Jahr her, dass all dies begann, aber die Situation ist noch nicht sicher. Zehntausende leben weiterhin in Flüchtlingslagern. Die Zukunft ist ungewiss. Zwar sorgen jetzt etwa tausend australische Militärs und über tausend internationale Polizisten der UN für Sicherheit. Dennoch lebt die Bevölkerung immer noch in Angst und Verzweiflung, denn jeden Tag gibt es neue Zwischenfälle, wo Häuser angezündet werden, wo Menschen mit Waffengewalt bedroht und sporadisch auch getötet werden.
Von den traditionellen Geschichtenerzählern wissen wir, dass es auch in der alten Geschichte von Timor immer wieder zu Stammesfehden kam. Von den jungen Männern wurde erwartet, dass sie ihr Dorf gegen feindliche Angriffe verteidigen. Krieger zu sein, galt als eine Ehre. Und wenn die jungen Männer als Trophäen Köpfe von getöteten Feinden nach Hause bringen konnten, wurden sie besonders gefeiert. Allerdings dauerten diese Kriege nie lange. Sehr bald kam es zu einem Friedensschluss, und das normale Leben kehrte zurück. Die Harmonie war wieder hergestellt. Dies änderte sich erst mit der Ankunft der Weißen. Die Geschichtenerzähler erklären dies so:
Ein timoresischer Mythos und seine aktuelle Interpretation
Gott hatte zwei Söhne: Ki Sa und Loer Sa. Den älteren Sohn ließ er in schmutzigem Wasser baden. Er wurde schwarz. Dann machte er ihn zum Herrn über die „schweigende Welt“, über Berge und Wälder. Der jüngere Sohn badete in sauberem Wasser und wurde weiß. Er erhielt die Macht über die „lärmende Welt“, das heißt über die Menschen. Als Zeichen ihrer Macht erhielten sie verschiedene Gegenstände, die sie gemeinsam in einem sakralen Haus aufbewahrten. Solange Loer Sa seinem älteren Bruder gehorchte, ging alles gut. Das Volk lebte in Frieden. Aber eines Tages stahl der jüngere Bruder alle Gegenstände aus dem sakralen Haus und floh damit über das Meer bis nach Portugal. Damit war die Harmonie gestört. Die Befehle von Ki Sa hatten kein Gewicht mehr, und seine Verbote waren machtlos. Die soziale Ordnung brach zusammen. Es herrschte Krieg. Ki Sa war verzweifelt. Schließlich unternahm er die lange Reise nach Portugal und bat seinen jüngeren Bruder, die heiligen Gegenstände wieder zurück zu geben. Er fand Loer Sa schlafend. So musste er ihn zuerst wecken. Loer Sa gab bereitwillig alle Gegenstände zurück, aber er fügte noch einen neuen Gegenstand dazu, eine Fahnenstange mit der Auflage, dass sein älter Bruder diese Fahnenstange aufstellen soll. Dann werde ihm das Volk gehorchen. Die Fahne selbst wollte Loer Sa einstweilen behalten. Er werde sie später bringen. Als die Gegenstände wieder im sakralen Haus waren, und die Fahnenstange aufgestellt war, hatte Ki Sa seine Autorität zurückgewonnen. Seine Befehle hatten Gewicht, und seine Verbote waren wirksam. Der Friede kehrte zurück. Viel später kamen die Nachkommen des jüngeren Bruders mit der Fahne aus Portugal. Sie wurden von den Nachkommen des Ki Sa als Brüder erkannt und freundlich aufgenommen. Aber als sie sich nicht, wie es hätte sein sollen, als jüngere Brüder ehrfurchtsvoll benahmen, sondern mit ihrer Fahne die Macht ergriffen, kam es zum Krieg.
Fast jeden Tag kommen im Fernsehen Bilder aus den Flüchtlingslagern. Die Leute dort sind sehr aufgebracht. Aber im allgemeinen beschuldigen sie nicht die Jugendlichen, die sie mit Waffen bedrohen, die alles gestohlen und die Häuser verbrannt haben. Fast immer beschuldigen sie nur die Regierung, die es nicht versteht, Frieden zu stiften.
Alle Menschen sind Brüder. Aber wenn die Verwalter der Berge und der Wälder nicht mehr geehrt werden, bricht die Ordnung zusammen. Das ist genau, was wir heute wieder erleben. Die Regierung hat keine Macht mehr, ihre Autorität wird nicht anerkannt. So gehen die Gewalttätigkeiten weiter, obwohl die Usurpatoren australische Truppen und UN-Polizisten hinter sich haben. Keine fremde Macht kann Frieden stiften, denn der Ausländer ist immer nur der jüngere Bruder. Es kann also nicht darum gehen, dem Volk etwas aufzuzwingen. Die einzige Lösung wird sein, der Regierung die Autorität zurückzugeben. Der Zwist zwischen der früheren Regierungspartei Fretilin und der gegenwärtigen Koalitionsregierung unter Xanana Gusmaõ, welcher die Krise von 2006 verursacht hat, geht auf Differenzen aus der Zeit der Resistenz gegen Indonesien und ihre Vorgeschichte zurück. Die ehemaligen Freiheitskämpfer müssen sich unbedingt miteinander versöhnen. Anzeichen dazu sind da, und das gibt Hoffnung. Sobald Regierung und Opposition am selben Strick ziehen, wird das Volk die Autorität anerkennen, und der Rebellenführer Die Anhängerschaft von Alfredo Reinado wird sich verlieren. Dies setzt allerdings voraus, dass sowohl Australien wie auch die Kirche sich neutral verhalten und nicht einseitig die ihnen genehme Seite unterstützen.
Bildgeschichten im Fernsehen
Der Mythos von Ki Sa und Loer Sa ist eine von über fünfzig Sagen aus dem timoresischen Kulturgut, die wir bisher in unseren wöchentlichen Fernsehprogrammen verwendet haben. Mit gezielten Fragen versuchen wir den Fernsehzuschauern zu helfen, ihre Situation auf der Basis von Symbolen aus ihrer eigenen Kultur zu verstehen. Hunderte von Zuschauerbriefen bestätigen, dass diese Art des Vorgehens sehr gut ankommt. Wir bekommen auch Briefe aus den Flüchtlingslagern, denn Hilfswerke haben dort Fernsehapparate aufgestellt. Eine Frau schreibt: „Ich weinte, als ich euer Programm sah, denn wir leben nun schon beinahe ein Jahr im Flüchtlingslager und warten auf Gerechtigkeit für die Verbrecher, die uns diese Misere beschert haben. Aber diese Gerechtigkeit wird wohl nie kommen. Es gibt in unserem geliebten Timor vernünftige Leute, aber leider auch unvernünftige. Die Unvernünftigen lassen sich wie Marionetten manipulieren.“ Wir bitten die Briefschreiber, jeweils zur Identifikation ihre Wohnadresse anzugeben. Mehrere schrieben mit Galgenhumor: „Wohnort: Hölle.“ In dieser „Hölle“ wird unser Fernsehprogramm als erfrischende Nahrung geschätzt. Ein Mann schreibt uns: „Ihr seid für uns ein wirklicher Segen, denn ihr teilt mit uns eure Einsichten, eure Wertschätzung für unsere Kultur, unsere Geschichte und unsere Religion. Ich bitte euch, macht so weiter, denn euer Programm lehrt uns, nicht den Lügen zu glauben, und nicht zum Opfer fremder Interessen zu werden. Eure Programme erlauben es uns, die Situation mit kritischen Augen zu betrachten.“
* Pater Ruedi Hofmann
ist Leiter der Casa de Produção Audiovisual, eines Fernsehproduktionshauses,
das dem Jesuitenorden gehört. Ermöglicht wurde dieses Unternehmen
vor allem durch die großzügige Unterstützung von MISEREOR.
Ebenfalls mit Unterstützung von MISEREOR entsteht jetzt auf einem
Hügel am Meer 17 km westlich von Dili ein Bildungszentrum. Eine Fachkraft
der AGEH im Rahmen des zivilen Friedensdienstes ist für die ersten
zwei Jahre mit dessen Aufbau beauftragt. Als Grundlage für die geplanten
Kurse dient unter anderem das für die Fernsehprogramme erarbeitete
Material. Später soll auch das Produktionshaus dorthin kommen.
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