Suara Nr. 1/2008 (Religion)

 

„Islam, der für Freiheit steht“

Interview mit Luthfi Assyaukanie, Koordinator des Netzwerks Liberaler Islam *

 

Luthfi Assyaukanie ist Koordinator des Netzwerks Liberaler Islam (Jaringan Islam Liberal, JIL) in Indonesien und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Freedom Institute, Jakarta, das sich als Think Tank für Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit versteht. Luthfi Assyaukanie studierte in Jordanien und Australien islamisches Recht und Philosophie und promovierte an der Universität Melbourne. JIL wurde 2001 als lockere Verbindung und in Reaktion auf den seit 1998 erstarkenden radikalen Islam gegründet. Das Netzwerk will dem radikalen Islam auf intellektueller Ebene gegenübertreten und alternative Interpretationsweisen des Islam anbieten. Junge Leute in Indonesien, die sich als liberale Muslime und Muslima verstehen, sollen miteinander vernetzt werden.

JIL vertritt im Gegensatz zu anderen Strömungen in Indonesien das Konzept eines liberalen Islam. Was ist damit gemeint?

Liberaler Islam meint einen Islam, der für Freiheit steht. Für die Freiheit, unsere religiösen Traditionen zu interpretieren und diese Interpretation nicht dem Monopol einer religiösen Autorität zu überlassen. Der Islam braucht immer wieder Erneuerung und muss sich an heutige Gegebenheiten anpassen. Ansonsten würde der Islam doch aussterben!

Liberaler Islam steht für einen Interpretationsversuch des Islam, die auf dem ethischen Geist des Korans und der Sunna basiert, nicht allein auf dem wort-wörtlichen Verständnis des Textes. Ijtihad, der rationale Zugang zu islamischen Texten, macht den Islam erst überlebensfähig. Außerdem steht liberaler Islam für die Religionsfreiheit, das heißt auch, religiös oder nicht religiös sein zu dürfen. Wir suchen im Koran nach Antworten und der Koran selbst sagt, dass man nicht unbedingt einer Religion angehören muss. Deshalb habe ich als Muslim auch kein Problem mit Atheisten.

Wird diese Religionsfreiheit, keinen Glauben zu haben, in Indonesien überhaupt anerkannt? Die Verfassung schreibt doch den Glauben an einen Gott vor.

Das ist ein Missverständnis, auf das wir häufig stoßen. Die Verfassung spricht vom Glauben an „one divinity“. Also an etwas Göttliches. Alle, die an etwas glauben, sind damit angesprochen. Und selbst Atheisten glauben an irgendetwas.

Liberal ist ein Begriff, der stark vom Westen geprägt wurde. Bedeutet die Bezeichnung „liberal“ nicht einen gewissen Anpassungswillen an die westliche Welt? Wir sind damit konfrontiert, dass manche Muslime den Westen als Feind sehen. Mir macht das nichts. Ich glaube nicht, dass es viele sind, die so denken. Sie werden schon sehen und differenzierter darüber denken, was an der westlichen Zivilisation gut ist und was nicht.

Das Konzept der JIL misst der gesellschaftlichen Elite anscheinend eine große Bedeutung bei. Welche Rolle spielt JIL als Teil der intellektuellen Elite Indonesiens?

Das wird von vielen Menschen in Indonesien kritisch gesehen. Tatsächlich ist Intellektualität eine Aufgabe der Elite. Und die grundsätzliche Fragen wie die, mit denen wir uns beschäftigen, sind intellektuelle Fragen. Wir versuchen jedoch, uns so populär und einfach wie möglich auszudrücken. Als Forum nutzen wir z.B. die Zeitung. Bei der Jawa Pos [eine der großen überregionalen Zeitungen in Indonesien mit einer täglichen Auflage von über 300.000 Exemplaren; SD] schreiben wir regelmäßig Kolumnen, die sehr kontrovers diskutiert werden – übrigens beteiligen sich auch die Konservativen an den Diskussionen. Wir schreiben auch in den regionalen Ausgaben der Jawa Pos, so bleibt unser Bekanntheitsgrad nicht allein auf Java beschränkt. Außerdem organisieren wir mindestens einmal im Monat öffentliche Diskussionen an Universitäten außerhalb Jakartas und treten in Radiotalkshows auf. Auf diese Weise ist JIL im ganzen Land bekannt unter den Menschen.

Im Jahr 2005 bezeichnete der Rat der indonesischen Religionsgelehrten (Majelis Ulama Indonesia, MUI) in einer Fatwa – einem muslimischen Rechtsgutachten – Begriffe wie Pluralismus, Säkularismus und Liberalismus als islamrechtlich verboten („haram“). Was hatte das für eine Bedeutung für die Arbeit von JIL?

Die Fatwa des MUI richtete sich eigentlich gegen JIL. Einige Mitglieder des MUI sprachen sich jedoch dagegen aus, in dieser Fatwa das Netzwerk JIL selbst als „haram“ zu bezeichnen. Damit wäre JIL ja nur bekannter geworden. Stattdessen bezeichnete der Rat in seinem Rechtsgutachten bestimmte Begriffe als „haram“, die mit uns in Verbindung gebracht werden. Die Fatwa war wie eine Negativ-Kampagne gegen uns. Der MUI genießt eine sehr hohe Autorität und die Menschen verbinden heute mit JIL diese Fatwa. Das hat unserem Ruf geschadet. Meine Kollegen und ich bekommen immer wieder Droh-E-Mails, ich fühle mich aber nicht gefährdet.

Wie groß ist die Gruppe der Anhänger eines liberalen Islam in Indonesien?

Da stellt sich erstmal die Frage: Wie kann man liberalen Islam messen?

Um die Frage zu beantworten, stelle ich eine andere: Wer will eigentlich einen islamischen Staat? Anscheinend nicht die Mehrheit, denn in der indonesischen Gesellschaft hat nach und nach eine Säkularisierung stattgefunden. Wahlen sind dafür ein Indikator. Parteien mit islamischen Programmen haben seit 1955 an Wählerschaft verloren. Dass eine islamische Agenda nicht gefragt ist, zeigt sich auch bei der Strategie der islamischen Partei PKS. Bei den Wahlen 1999 propagierte die PKS noch eine islamische Politik. Bei den vergangenen Wahlen fuhr PKS dann eine säkulare Agenda und war erfolgreicher als vorher.

Im Gegenzug dazu wird viel von einer Islamisierung Indonesiens gesprochen. Hauptgrund dafür sei die Suche nach Identität in Zeiten der Globalisierung und der Transformation nach Suharto. Wie stehen sie zu dieser These?

Identität ist ein sehr kniffliges Konzept. Identität ändert sich ständig – das passiert auch in Indonesien. Wir von JIL sehen den Islam nicht als eine statische Sache. Es ist schwierig, kommende Entwicklungen vorauszusehen. Deshalb schlagen wir vor, uns nicht darum zu kümmern und stattdessen Religion im Privaten stattfinden zu lassen. Sie hat eine private Funktion und sollte nicht die Grundlage für die Identitätsbildung sein. Sobald man Religion in den öffentlichen Bereich treibt, hat man ein Problem. Das ist auch das, was jetzt gerade passiert.

Was macht radikale muslimische Organisationen für die Menschen in Indonesien so attraktiv? Worin begründet sich der starke Zulauf?

Es gibt viele Gründe. Aus meiner Sicht sind zwei entscheidend: Die säkulare Regierung hat in vielen Dingen versagt, zum Beispiel hat sie es nicht geschafft, die Armut und die Korruption zu beseitigen. Manche radikal-islamische Gruppen meinen, dazu eine bessere Alternative bieten zu können. Menschen wenden sich dem Islam zu – und nicht einer anderen Ideologie –, weil der Islam verspricht, überlegen zu sein.

Sie sagen, Ihre Besorgnis gilt weniger den extremistischen Gruppen wie etwa Jemaah Islamiya als dem konservativen Islam. Die Einführung der Scharia in zahlreichen Regionen auf Distriktebene ist Ausdruck davon.

Richtig. Das Problematische ist, dass die Konservativen ein wörtliches Verständnis von den Quellen haben, auf denen sie die Scharia-Gesetze begründen. Die Scharia ist aber auch nur von Menschen gemacht und kann deshalb ganz unterschiedlich ausgelegt werden. Die Gesetze müssen vor ihrer Verabschiedung in den Parlamenten diskutiert werden. Wir als liberale Muslime lehnen die Implementierung der Scharia ab, weil sie an manchen Punkten zu ambivalent ist und damit nicht als Rechtsgrundlage geeignet ist.

Der Einführung der Scharia liegt aber auch eine politische Dimension zu Grunde: Säkulare Politiker benutzen sie, um an Wählerstimmen zu kommen und gleichzeitig versuchen muslimische Konservative, Scharia-Gesetze mit Argumenten zu begründen, die nichts mit dem Islam zu tun haben: In Padang zum Beispiel wurde das Tragen des Kopftuchs vorgeschrieben, weil es vor Mosquito-Stichen schützen soll.

Haben Sie eine Vision für die Zukunft Indonesiens?

Ja, meine Vision ist, dass Indonesien eine richtige Demokratie wird und wir Wohlstand haben werden wie in Japan oder Korea. Religion kann dabei eine Rolle für die Ethik der Menschen spielen. Sie sollte jedoch keine Rolle in der staatlichen Politik spielen. <>

* Das Interview führte Samia Dinkelaker
 

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