In Indonesien wird derzeit
eine Islamisierung von Politik und Gesellschaft beobachtet. Doch was heißt
„Islamisierung“ und welche Phänomene umfasst diese Beobachtung? Welche
islamischen Gruppierungen spielen in der indonesischen Politik und Zivilgesellschaft
eine Rolle und mit welchen Konzepten wird der „Islamisierung“ entgegnet?
I. Islamisierung in Indonesien
In Europa werden wir seit dem 11 September mehr denn je mit Wissen über „den Islam“ versorgt. Der Rolle des Islams in der Politik und den Gesellschaften Südostasiens wurde lange Zeit weder in den Medien noch in der Wissenschaft besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist heute anders. Nicht zuletzt seit den Bombenanschlägen auf Bali wird das Verhältnis zwischen Religion und Politik in Indonesien in Wissenschaft, Presse und politischen Think Tanks diskutiert. Indonesische Organisationen wie Jemaah Islamiya oder Hizbut Tahrir werden als Teil eines globalisierten Islamismus wahrgenommen. Mit dem Begriff „Islamisierung“ können ganz unterschiedliche Dinge in Verbindung gebracht werden: Geistliche Autoritäten predigen die Rückkehr zu einem „reinen“ Islam und islamistische Parteien fahren bei den Wahlen Punktsiege ein. Die arabische Begrüßungsformel „Salam Alaikum“ löst das „Guten Tag“ ab, religiöse Symbole werden in Form von Handyklingeltönen und Haji-Packagereisen vermarktet und in der städtischen Mittelklasse erfahren die esoterischen Elemente des Sufismus eine Wiederbelebung.
Meistens impliziert der Begriff der Islamisierung eine theologische und eine politische Ebene. Viele Muslima und Muslime in Indonesien leben einen Islam, der Bräuche und Sitten der lokalen Kulturen integriert. Im Wayang-Schattenspiel unterstehen deshalb hinduistische Götter Allah. Bereits seit dem 19. Jahrhundert propagieren bestimmte muslimische Gruppierungen „reinere“ Formen des Islam. Sie fordern die indonesischen Muslima und Muslime dazu auf, die muslimischen Pflichten wie zum Beispiel das Fasten oder das fünfmalige Gebet am Tag strikter einzuhalten. Den lokalen Besonderheiten des Islam, wie ihn viele Menschen in Indonesien leben, setzen sie eine Prägung des Islam entgegen, wie sie auch in weiten Teilen des Mittleren Ostens praktiziert wird. Heute richten sich viele Gruppierungen nicht nur gegen die lokalen Spezifika des indonesischen Islam, sondern sie setzen der globalisierten und „verwestlichten“ Gesellschaft eine islamische Identität aller Muslime des gesamten Globus entgegen.
Auf der politischen Ebene wird mit dem Phänomen der Islamisierung die Einführung von regionalen, Scharia-inspirierten, Gesetzen verbunden. In Indonesien spielen Religionen bei der Identitätsfindung im Allgemeinen eine größere Rolle. Auch innerhalb christlicher Kreise findet eine Radikalisierung statt. Bei bestimmten christlich-evangelikalen Gruppen ist die Bereitschaft zum Dialog kaum vorhanden. In Indonesien ist eine zunehmende Abgrenzung von Menschen unterschiedlichen Glaubens zu beobachten. Die jeweiligen Ängste vor einer „christlich-zionistischen“ Verschwörung bzw. einer Islamisierung, die tief in die Kreise moderater Muslime reicht, werden sowohl in muslimischen als auch in christlichen Kreisen geschürt.
Manche Erscheinungen der Islamisierung der indonesischen Gesellschaft werden mit Besorgnis betrachtet: BeobachterInnen und VertreterInnen der Zivilgesellschaft in Indonesien fürchten eine Bedrohung der Minderheitenrechte durch die Einführung der Scharia-inspirierten Gesetze. Sie kritisieren die passive Haltung der Regierung gegenüber den Regionalgesetzen, die sich auf die Scharia beziehen. VertreterInnen der Zivilgesellschaft prangern an, dass durch die stärker werdende Rolle der Religion in der Politik die Toleranz gegenüber Andersgläubigen abnimmt, dass Frauen durch Scharia-Gesetze Diskriminierungen erfahren und dass entgegen der Erwartungen, arme Menschen nicht von den Verordnungen profitieren. Die angewandte Rechtsprechung sei patriarchalisch und die Gesetze seien politische Projekte, die sich mehr mit der Moralisierung der Gesellschaft beschäftigten als dass sie soziale Probleme wie Korruption, Armut oder Arbeitslosigkeit lösten.
Die Sorge gilt auch radikalen islamistischen Gruppen und konservativen Positionen in einflussreichen Institutionen, wie dem Rat der Muslimgeistlichen (Majelis Ulama Indonesia, MUI). Diese Organisation sprach eine Fatwa (ein religiös begründetes Urteil) gegen die muslimische Strömung Ahmadiyah aus und verurteilte diese als ketzerische Sekte, wodurch sich Gewaltbereite gegenüber Angehörigen der Ahmadiyah ermutigt fühlten.
„Indonesia's problems are rooted in a moral crisis"
Das Zitat in dieser Zwischenüberschrift stammt von Habib Rizieq Shibab, dem Führer der Front Pembela Islam (Front zur Verteidigung des Islam, FPI). Es steht für den Versuch, durch Scharia-inspirierte Gesetze oder Verordnungen die gebrochene Moral der indonesischen Gesellschaft wiederherzustellen.
Seit ein paar Jahren werden in Indonesien auf regionaler Ebene solche Verordnungen verabschiedet Zwar bestimmt das Schlagwort „Scharia“ die westlichen Debatten über den Islam und wird oftmals mit den koranischen Hudud-Strafen wie öffentliche Auspeitschungen in Verbindung gebracht, jedoch handelt es sich bei dem Begriff der „Scharia“ um ein wenig klares Konzept innerhalb des Islam. Tatsächlich spiegelt sich in dem Streben nach der „Scharia“ eine Idealvorstellung göttlicher Gesetze wider, die alle Lebensbereiche der Muslime und Muslima regeln soll. Die Islamwissenschaftlerin Ursula Spuler-Stegemann erklärt dies so: „Die Scharia ist das Instrument, Hilfestellungen zu geben, zu gewährleisten, dass der verunsicherte Gläubige sich religiös in allen Lebenssituationen richtig verhält, und eröffnet ihm damit den Weg zum ewigen Heil.“ Quellen für die islamischen Gesetze sind der Koran, die Sunna und die Hadithe (Aussagen Mohameds und Berichte über seine Handlungsweisen) sowie die selbstständige Rechtsfindung durch Gelehrte. In der Geschichte der islamischen Rechtsauslegung haben sich vier unterschiedliche Rechtsschulen etabliert. In Indonesien ist die schafiitische Lehre vorherrschend. Diese Rechtsschule gilt als Mittelweg zwischen einem strengen Festhalten an der Tradition und der Sichtweise, dass die Entwicklung neuer Rechtsnormen durch Analogieschlüsse möglich sei.
Bei den neu eingeführten Gesetzen handelt es sich meist um Gesetze, die eine Moralisierung der Gesellschaft zum Ziel haben. Weil sich diese Verordnungen auf den Islam beziehen, erinnern sich viele BeoachterInnen an die Diskussion, ob Indonesien ein islamischer Staat sein sollte. Diese Debatte wurde 1945 im Kampf um die Unabhängigkeit geführt. Bei der Verfassungsgebung sprach sich nur eine Minderheit der Muslime in Indonesien für einen religiös begründeten Staat aus. Diese Minderheit war allerdings eine führende Kraft im Unabhängigkeitskampf gewesen. Bis zum Anfang der 60er Jahre setzten sich einige dieser Pioniere des Unabhängigkeitskampfes unter der Darul Islam Bewegung (Haus des Islam) gewalttätig für einen auf der Scharia beruhenden islamischen Staat ein.
Indonesien – kein islamischer Staat
Der Ausschuss zur Vorbereitung der Unabhängigkeit Indonesiens entschied sich für eine Kompromisslösung bei der Frage nach der Rolle der Religion in der Verfassung. Der Glaube an einen Gott wurde als das erste der fünf Prinzipien der Staatsideologie Pancasila, auf der sich die Verfassung gründet, festgeschrieben. Teil des Kompromisses war außerdem die sogenannte Jakarta Charter – eine Klausel, die die Einführung der Scharia für Muslime und Muslima in Indonesien vorsah. Einige Stunden nach der Ausrufung der Unabhängigkeit entfernte Sukarno diese Klausel allerdings wieder aus der Verfassung. Der Präsident betrachtete diesen Akt als Bedingung für den Erhalt der Einheit Indonesiens, denn die nicht-muslimische Minderheit in Ostindonesien bestand darauf, die Verfassung ohne diesen Zusatz zu verabschieden.
Auf die Diskussion um die Jakarta Charter nehmen auch heute wieder Protagonisten des politischen Islam Bezug. Im Jahr 2000 veranstaltete die Majelis Mujahidin Indonesia (Rat der Mujahidin Indonesien, MMI) um den berüchtigten Islamisten Abu Bakar Ba’ashir einen Kongress, dessen thematischer Fokus auf der Einführung der Scharia und der Ausgestaltung Indonesiens als islamischer Staat lag. Auf der Konferenz wurde die religiöse Begründung von Gesetzen propagiert. Nur die religiöse Gestaltung des gesamten politischen Systems würde dem Ideal „ibadah“, d.h. den Glauben auf allen Ebenen auszuüben, näher kommen. Mitglieder des Majelis Mujahidin lobbyierten in Folge der Konferenz bei muslimischen ParlamentarierInnen für die Einschreibung der Scharia in die Verfassung. In den Jahren 2000 und 2002 lehnten die verfassungsgebende Versammlung (MPR) und das Parlament (DPR) den Antrag auf Wiedereinführung der Jakarta Charter jedoch mit einer großen Mehrheit ab.
Scharia auf der regionalen Ebene
Dezentralisierung und Autonomiezuwachs für die Distrikte durch die Verabschiedung entsprechender Gesetze in den Jahren 1999 und 2000 waren die institutionelle Voraussetzung für die Verabschiedung Scharia-inspirierter Verordnungen auf Distriktebene. Über 100 Sharia Bylaws oder Perda Syariat wurden zwischen 2006 und 2007 in Westsumatra, Südsulawesi und Ost-Java eingeführt. Die Bylaws gelten teilweise ausschließlich für Muslima und Muslime und teilweise für die gesamte Bevölkerung. Sie richten sich in der Regel an Aspekte des alltäglichen Lebens: Sie verbieten Prostitution, Alkohol und Glückspiel und verordnen die Durchsetzung religiöser Praktiken wie die Koranlektüre oder die muslimische Kleiderordnung, das heißt das Tragen von Kopftuch oder Jilbab. Das Verbot von Prostitution, Alkohol und Glücksspiel gilt meist gleichermaßen für Muslime und Nicht-Muslime, während die Kleiderordnung ausschließlich von Muslima und Muslimen einzuhalten ist. Teilweise wird jedoch auch das Tragen muslimischer Kleidung in Schulen oder in der öffentlichen Verwaltung vorgeschrieben und gilt dann auch für Nicht-Muslime. Schließlich betreffen einige Scharia-Gesetze das Verbot jeglicher Aktivitäten, die das Freitagsgebet und das Fasten während des Ramadans missachten. Ein Grundsatz, der ebenfalls auch für Nicht-Muslime gilt.
In Aceh beinhaltete die Zusicherung eines Sonderautonomiestatus durch die indonesische Regierung im Jahr 1999 die Einführung der Scharia. Dort wurden ein spezielles Gerichtssystem und ausführende Institutionen wie die so genannte Scharia-Polizei (Wilayatul Hisbah) errichtet. Aufgrund der Sonderautonomie können die acehnesischen Bürgerinnen und Bürger nicht beim Obersten Gerichtshof gegen die neuen Gesetze klagen.
Die Einführung der Sharia Bylaws hat Gegenreaktionen auf christlicher Seite ausgelöst: im Distrikt Manokwari in Papua gilt mittlerweile eine Perda Injil, die auf dem christlichen Evangelium beruht. Auf nationaler Ebene sorgte der Entwurf des Anti-Pornografie-Gesetzes vom Jahr 2006 für Kontroversen. Es sieht unter anderem die Bestrafung für Küssen in der Öffentlichkeit oder das Tragen leichter Bekleidung in der Öffentlichkeit vor.
II. Spektren religiöser Gruppen – kulturelle Muslime, Traditionalisten, Modernisten, Islamisten und Pluralisten
Üblicherweise ist, wenn über islamische Spektren in Indonesien geschrieben wird, von drei Gruppen die Rede. Diese Vorstellung dreier muslimischer Zugehörigkeiten geht auf den US-amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz und seine Studie „The Religion of Java“ zurück. Geertz unterscheidet zwischen Abangan, Priyayi und Santri. Abangan und Priayi integrieren Elemente der traditionellen Kulturen in ihrem Glauben, die Bezeichnung Priayi gilt dabei der aristokratischen Elite Javas. Die Santris verschreiben sich hingegen einem mehr skripturalistischen, das heißt textgebundenen, Islam. Verschiedene Autoren haben den Versuch unternommen, Geertz’ Beschreibung der Gesellschaft Javas der 50er Jahre eine den aktuellen Verhältnissen angepasstere Kategorisierung entgegenzusetzen. Zum Beispiel können kulturelle Muslime, Traditionalisten, Modernisten, Islamisten und Pluralisten voneinander unterschieden werden. Die Zuordnung solcher Labels birgt zwar die Gefahr in sich, die unterschiedlichen Standpunkte innerhalb dieser Gruppen zu übersehen, sie ermöglicht jedoch auch, ein wenig Licht ins Dickicht der islamischen Gruppierungen zu bringen.
Kulturelle Muslime und Traditionalisten
Kulturelle Muslime Die Praxis der so genannten kulturellen Muslime ist durch vorislamische Traditionen geprägt, meist lehnen sie den politischen Islam ab.
Nahdlatul Ulama Als vorwiegend traditionell-muslimisch geprägte Organisation gilt die Massenorganisation Nahdlatul Ulama (NU), die ihre größte Unterstützung auf dem Land im östlichen Java erfährt. Die NU vertritt die Muslima und Muslime in Indonesien, die einen sogenannten traditionellen Islam leben, der lokale Bräuche in den Glauben der Menschen integriert. Die Organisation lehnt Scharia-Gesetze an sich nicht ab, sie sieht sich aber der Pancasila verpflichtet. Die Organisation gilt als eines der Standbeine der Zivilgesellschaft Indonesiens: NU-Mitglieder sind oftmals in weiteren zivilgesellschaftlichen Gruppierungen wie Gewerkschaften oder Frauengruppen aktiv. Die NU zeigt sich gegenüber anderen religiösen Gruppierungen und Organisationen anderer Glaubensrichtungen offen. Sie arbeitet zum Beispiel mit dem evangelischen Kirchenverbund Indonesiens (PGI) und der indonesischen Bischofskonferenz (KWI) zusammen. Viele Persönlichkeiten, die sich für Toleranz und Pluralismus einsetzen – als prominentestes Beispiel der ehemalige Präsident Abdurrahman Wahid – gingen aus der NU hervor. Während der Diktatur zeigten NU-Mitglieder ein loyales und kooperatives Verhalten Suharto gegenüber und nicht wenige unter ihnen waren Mitglieder der Staatspartei Golkar. Die NU selbst versteht sich apolitisch und definiert sich als eine rein religiöse Gemeinschaft. Jedoch wurden viele politische Gruppierungen von NU-Mitgliedern gegründet.
Modernisten
Muhammadiyah Neben der Nahdlatul Ulama ist die Muhammadiyah mit 30 Millionen Mitgliedern die zweitgrößte Massenorganisation der Muslime und Muslima in Indonesien und weltweit. Die Organisation vertritt einen „reinen“ Islam und beruft sich auf ägyptische Erneuerer wie Rashid Rida oder Muhamed Abduh. Die Muhammadiyah setzt dem traditionellen Islam, einen sogenannten „reinen, modernen Islam“ entgegen und plädiert dafür, die Einhaltung der religiösen Pflichten strikt zu gestalten. Der Begriff „modern“ ist nach westlichem Verständnis ein wenig irreführend, denn er bezieht sich keineswegs auf eine liberalere Auslegung des Islam. Im Gegenteil: Vielfach vertritt die Muhammadiyah eine puristischere Linie als die „moderatere“, aber gleichwohl als „traditionalistisch“ bezeichnete Nahdlatul Ulama. Die Begrifflichkeiten „modern“ bzw. „traditionalistisch“ beziehen sich weniger auf die Religion selbst, als vielmehr auf die jeweilige Gesellschaftszugehörigkeit ihrer Anhänger. „Traditionalisten“ sind demnach eher in ländlichen Gebieten anzutreffen und daher stark der kulturellen Tradition ihrer Ethnie (vor allem den Sitten und Bräuchen Ostjavas) verhaftet. Dem hingegen finden sich die Hochburgen der „Modernisten“ eher in städtischen Regionen und hier wiederum verstärkt in intellektuellen Kreisen. Hier spielte die Muhammadiyah eine wesentliche Rolle in der Verbreitung von Bildung und nimmt innerhalb der Zivilgesellschaft einen wichtigen Stellenwert ein. Innerhalb der Muhammadiyah existieren sehr unterschiedliche Positionen zur Frage der Einführung der Sharia-Bylaws. Gemeinsam mit der NU repräsentiert die Muhammadiyah den Großteil der als moderat bezeichneten Muslima und Muslime in Indonesien. Ähnlich wie die NU wurde die Muhammadiyah durch Suharto und Golkar teilweise kooptiert.
Islamisten: Plädoyer für ein alternatives Gesellschaftsmodell
Islamisten verstehen ihre Religion als ideologischen Auftrag und setzen dem säkularen Gesellschaftsmodell ein alternatives islamisches Modell entgegen. Sie sehen im Islam die Lösung für soziale, politische und wirtschaftliche Not.
Unter dem Suharto-Regime kam ein Teil der Opposition aus islamistischen Kreisen. Suharto verbot jegliche politische Aktivitäten, die nicht unter einer der regierungsnahen Institutionen organisiert waren. Der politische Islam der Masyumi-Partei, die noch unter der japanischen Besetzung gegründet worden war, wurde sowohl unter Sukarno als auch unter Suharto verboten. Aus den radikalen Flügeln der Masyumi-Partei ging die militante Darul Islam Bewegung hervor, die sich gegen die nationalistischen Protagonisten der Unabhängigkeit auflehnte. Verschiedene Aktivisten der Darul Islam Bewegung sollten sich später in den radikalen islamistischen Gruppierungen wieder finden. Unter Suharto sollte das Bekenntnis zur Pancasila das Bekenntnis zu Allah ersetzen. Islamischer Widerstand regte sich im Untergrund, mit einer wichtigen Basis in den Universitäten. Die iranische Revolution, die Übersetzung der Werke von arabischen islamistischen Intellektuellen wie Sayyid Qutb sowie der Kampf der Mujahidin in Afghanistan gaben dem politischen Islam auch in Indonesien Auftrieb. Außerdem trug die Repression gegen muslimische Oppositionelle von Seiten der Regierung, die beim Tanjung Priok-Massaker von 1984 ihren Höhepunkt erreichte, zur Radikalisierung vieler islamistischer Gruppen bei.
Angesichts des wachsenden Widerstandes änderte Suharto in den 90ern seine Strategie: Indem er die Praktizierung der Religion unterstütze, versuchte er, den Islam zu entpolitisieren. So entstand unter ihm die islamische Intellektuellenvereinigung ICMI (Ikatan Cendekiawan Muslim Indonesia). Um nationalistische Gegner auszuschalten, unterstützten Teile des Regimes zunehmend islamische Gruppierungen: innerhalb des Militärs verdrängten (mit Suhartos Hilfe) die auf den Islam orientierten ABRI Hijau (die grünen Streitkräfte) die nationalistischen ABRI Merah Putih (die in Bezugnahme auf die Nationalfarben „rot-weiß“ bezeichneten Teile der Streitkräfte). Das Militär unterstützte im Jahr 2001 die islamistischen Laskar-Jihad-Kämpfer auf den Molukken, um von der Destabilisierung des Landes zu profitieren. Nach dem Sturz Suhartos und der darauf folgenden Demokratisierung sahen viele radikale islamistische Gruppierungen schließlich die Möglichkeit, aus dem Untergrund oder Exil wieder aufzutauchen und sich öffentlich sichtbar zu machen. So kehrte Abu Bakar Ba’ashir, der unter anderem als „Hassprediger“ und „intellektueller Drahtzieher“ für die Bombenanschläge auf Bali verantwortlich gemacht wird, aus dem malaysischen Exil zurück. Nach seiner Rückkehr bildete er die Führungsspitze des Majelis Mujahidin Indonesia (MMI), der die Einführung der Scharia in Indonesien forderte. Abu Bakar Ba’ashir gründete 1973 vor seinem Exil gemeinsam mit Abdullah Sungkar die Religionsschule Pondok Ngruki Pesantren, aus deren Netzwerk Kontakte zu Al-Qaida entstanden sein sollen. Manche der islamistischen Gruppen sollen gute Beziehungen zum Militär, sowie zu Laskar Jihad oder FPI pflegen.
Die islamistischen Organisationen haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob und inwieweit eine Teilnahme am demokratischen System ihren Zielen nützlich sein könnte. Die Partei für Wohlfahrt und Gerechtigkeit (Partei Keadilan Sejahtera, PKS) wählte den Weg der Integration ins politische System. Die mittelständische Partei verstand es, sich ein Image als saubere Partei aufzubauen, indem sie die allgegenwärtige Korruption zu einem ihrer Themen machte. Sehr geschickt gelang es der Partei, die sich selbst lange nicht korrumpieren ließ und Ministerposten ablehnte, damit ein politisches Feld zu besetzen, mit dem auf große Resonanz weit über islamische Kreise hinaus gerechnet werden konnte. Von Journalisten nach ihrer Haltung zur Scharia und ähnlichen Islam-bezogenen Themen befragt, antworteten Sprecher der PKS für gewöhnlich in ausweichender Form: Ohne die Ziele einer Islamisierung der Politik ausdrücklich in Abrede zu stellen, betonte die PKS bislang stets, dass solche Fragen „bislang“ nicht auf der Tagesordnung stünden. Andere islamistische Organisationen wie die Jemaah Islamiyah, die FPI oder die Hizbut Tahrir lehnen das derzeitige politische System strikt ab.
Die sehr unterschiedlichen islamistischen Organisationen haben verschiedene Perspektiven. Sie unterscheiden sich zum Beispiel in ihrer Haltung gegenüber der Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Die Hizbut Tahrir lehnt Gewalt aus religiösen Gründen ab, während sich die Jemaah Islamiyah zu den Anschlägen auf eine Diskothek auf Bali im Oktober 2002 und auf das Mariott Hotel in Jakarta bekennt. Der Jemaah Islamiyah wird auch die Verantwortung für Anschläge auf Bali im Jahr 2005 (Bali II) und die australische Botschaft im Jahr 2004 nachgesagt. Viele der islamistischen Organisationen sind salafistische Gruppierungen. Als salafistische Bewegung wird eine in sich heterogene internationale Bewegung bezeichnet, die einen Weg zum Islam in seiner reinsten Form sucht. Das heißt, dass salafistische Denker danach streben, den Islam so wie zu Zeiten des Propheten Mohammed und seiner Nachfolger zu leben. Das impliziert die Ablehnung der vier sunnitischen Rechtsschulen und eine strikte Kleiderordnung.
Einige der islamistischen Organisationen pflegen Kontakte zu internationalen islamischen Organisationen und Organisationen im Nahen Osten. So unterhielt der Dewan Dakwah Islamiyah (Indonesischer Missionsrat) Beziehungen zur Islamic World League (Rabitat al-`Alam al-Islami), über die mit saudischen Petro-Dollars wahhabitische Ideen verbreitet wurden. Vermutlich trugen die Beziehungen zu internationalen muslimischen Organisationen zur Verbreitung pan-islamischer Ideen bei. Unter der Hizbut Tahrir und der Jemaah Islamiyah stößt die Idee der Errichtung eines pan-islamischen Kalifats auf Unterstützung.
Obwohl islamistische Gruppierungen in Indonesien gut vernetzt sind, stellen die Islamisten eine Minderheit dar und sind weit davon entfernt, eine geeinte Kraft zu werden. Grund zur Skepsis ist jedoch die Unterstützung, die diese Gruppierungen aus opportunistischen Kreisen der zivilen und militärischen Elite in Indonesien erfahren.
Pluralisten: Offener, pluralistischer und inklusiver Islam, "Neo-Modernisten"
Wenn in den Medien meist ein Fokus auf die Aktivitäten islamistischer Gruppen gelegt wird, so übersieht man, dass in Indonesien durch eine Minderheit der Muslima und Muslime Gegenpositionen zur salafistischen Bewegung Indonesiens entworfen werden. Als Pluralisten werden Intellektuelle bezeichnet, die sich für eine interpretative Auslegung des Korans und religiöse Toleranz einsetzen. Diese Strömung hat sich unter Intellektuellen der unter Suharto aufgestiegenen Mittelklasse in den 70er und 80er Jahren etabliert. Zu den Pluralisten zählen insbesondere prominente intellektuelle Einzelpersonen wie der 2005 verstorbene Nurcholish Majid, Ex-Präsident Abdurrahman Wahid (Gus Dur) oder die Frauenrechtlerin Musdah Mulia, aber auch NGOs und Forschungsinstitute, die oftmals von westlichen Geberorganisationen wie der Ford Foundation finanziell unterstützt werden. Sie entstammen zu größeren Teilen dem Spektrum der NU, aber auch prominente Vertreter der Muhammadiyah, wie etwa ihr ehemaliger Vorsitzender Syafii Ma’arif sind dieser Gruppe zuzuordnen..
Diese Intellektuellen sprechen sich aus religiösen Gründen für Pluralität aus. Nurcholish Majid etwa knüpfte an die pluralistische Gesellschaft an, die Mohammed anführte. Das Motto „Islam Yes, Islamic Party No“ stellt die Ablehnung von allein religiös motivierten politischen Handlungen dar. Der Koran müsse, so die Pluralisten, kontextualisiert werden. Ein gerechter Staat sei wichtiger als ein islamischer Staat, so der erste Leiter der nationalen Menschenrechtskommission Komnas HAM, Munawir Sjadzali.
Das Netzwerk Jaringan Islam Liberal (JIL, Netzwerk des liberalen Islam) ist eine der bekanntesten zivilgesellschaftlichen Organisation im Spektrum des pluralistischen Islam. Es spricht sich für eine neue Interpretation des Islam aus, d.h. für eine rationale Interpretation muslimischer Texte. Das Netzwerk betont die ethische Komponente des Islam und lehnt ein wörtliches Verständnis des Textes ab. Gleichzeitig sei für JIL die Wahrung privater Freiheiten eine Priorität. Aufgrund des Attributs „liberal“ wird dem Netzwerk vorgeworfen, sich vom Westen korrumpieren zu lassen. Für die pluralistischen Muslime und Muslima sind nicht zuletzt die Erfahrungen und Überzeugungen muslimischer Feministinnen sehr wichtig.
III. Strategien gegen Intoleranz und Gewalt
Gegen die menschenrechtsverletzende Praxis der Sharia-Bylaws und Gewalt gegenüber Andersgläubigen, gehen zivilgesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Strategien vor: Interreligiöser Dialog, rechtliche Klagen sowie Diskussionen muslimischer Intellektueller um ein kontextualisiertes Verständnis von Religion sind drei unterschiedliche Versuche, der von religiösen Gruppen ausgehenden Intoleranz entgegenzutreten.
Interreligiöser Dialog
Interreligiöser Dialog hat zum Ziel, gegenseitiges Verständnis und Toleranz zwischen Angehörigen verschiedener Religionen aufzubauen. In Indonesien sind mehrere Dialogforen wie die Society for inter-religious Dialogue (MADIA), Interfaith Dialogue Interfidei, Indonesian Committee on Religions for Peace (IComRP) und lokale Organisationen wie etwa FORLOG in Makassar aktiv. Mittlerweile suchen einige dieser Organisationen Ansatzpunkte, interreligiösen Dialog über Konferenzsäle und Seminarräume hinaus wirksam werden zu lassen. Über lange Zeit beinhalteten die Dialogveranstaltungen nicht mehr als Gespräche zwischen Intellektuellen, die den Alltag der Gesellschaft kaum erreichten. Standardprogramm. Viele Engagierte plädieren heute dafür, auch das Gespräch mit radikalen Gruppen zu suchen. Bei Workshops oder „Live Ins“, wo Menschen eine Zeit lang bei Zugehörigen einer anderen Religion wohnen, kommen Schlüsselfragen des gegenseitigen Verständnisses offener zu Tage als auf Konferenzen oder Podiumsdiskussionen. Der Begriff des Dialogs trifft bei manchen Muslima und Muslimen jedoch auf Misstrauen: sie vermuten hinter dem Begriff eine schleichende Christianisierung. Scharia im Widerspruch zur Verfassung
Menschenrechtsorganisationen fordern, dass der Staat die in der Verfassung festgeschriebene Religionsfreiheit schützt. Bisher scheiterte allerdings die einzige rechtliche Klage, die dem Obersten Gerichtshof vorgetragen wurde. Eine der Prostitution beschuldigte Fabrikarbeiterin aus Jakartas Nachbarstadt Tangerang brachte ihren Fall vor den Obersten Gerichtshof. Die Arbeiterin wurde festgenommen, weil sie sich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße aufhielt. Das ist für Frauen in Tangerang verboten. Der Oberste Gerichtshof lehnte eine Prüfung des Inhalts der Verordnung zu Prostitution mit der Argumentation ab, er prüfte lediglich die formelle Legalität der Tangerang-Verordnung und diese sei nicht zu verurteilen. Des Weiteren gab es eine Initiative von Parlamentarien, die den Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono dazu aufforderten, die Lokalgesetzte, die gegen die Verfassung verstoßen, zu revidieren. Der Aufruf wurde von nur 56 der 550 Abgeordneten unterschrieben.
Menschenrechtsorganisationen wie die Rechtshilfeorganisation LBH APIK oder das zivilgesellschaftliche Bündnis Koalisi ANTI PERDA Diskriminatif (KANTIF) befürchten, dass die Scharia-Praxis die Religionsfreiheit sowie die Rechte von Frauen und Homosexuellen sowie soziale Rechte in Frage stellen. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen ermutigen Individuen, gegen die Regionalverordnungen zu klagen. Zwar wurde im Jahr 2003 ein Verfassungsgericht errichtet, doch regionale Verordnungen liegen außerhalb der Reichweite dieser Institution, denn sie stehen in der rechtlichen Hierarchie unterhalb der staatlichen Gesetze. Die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde für Individuen gibt es in Indonesien nicht. Wie im Fall der Arbeiterin aus Tangerang ist es aber möglich, sich als Individuum an den Obersten Gerichtshof zu wenden. Der Rechtswissenschaftler Azyumardi Azra von der State Islamic University in Jakarta forderte den Obersten Gerichtshof zu der klaren Stellungnahme auf, dass Gesetze, die die Religionsfreiheit in Frage stellen, verfassungswidrig sind. Die nationale Kommission zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, KOMNAS Perempuan, schlug dem Innenministerium vor, die Scharia-Verordnungen einer Prüfung zu unterziehen. Sie fordert Unterstützung für das Justiz- und Menschenrechtsministerium, rechtliche Beratung sowie die Bildung eines Ad-Hoc Teams, das die Vereinbarkeit von regionalen Gesetzen mit der Verfassung nach ihren Änderungen prüft. Andere AktivistInnen plädieren zudem für die Einführung der Möglichkeit einer Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht.
Zwar versprachen der Minister für Justiz und Menschenrechte und Vertreter des Innenministeriums, entsprechende Schritte einzuleiten /The Jakarta Post, 2.11.2006/, jedoch haben Organisationen wie die Frauenvereinigung für Gerechtigkeit und Demokratie (Koalisi Perempuan Indonesia, KPI) noch genügend Anlass zur Kritik an der indonesischen Regierung bezüglich der Bylaws. /The Jakarta Post, 16.1.2008/
Islam, Demokratie und Gerechtigkeit
Einige intellektuelle Muslime
und Muslima setzen sich intensiv mit Fragen der Demokratie, der Menschenrechte
und Gerechtigkeit auseinander. Viele von ihnen plädieren für
eine kontextgebundene und kontextualisierte Interpretation der Scharia.
Sie beziehen sich auf das Bild des „Tors des Ijtihad“, das ermöglicht,
dass Interpretationen der Quellen von orthodoxen und skripturalistischen
Auffassungen losgelöst
werden und Aussagen des Korans als zeitgeschichtlich begriffen werden.
Manche TheologInnen sehen im Islam und der pluralistischen Gesellschaft
in der Zeit Mohammeds die Werte Pluralismus und Toleranz begründet.
Mit der Aussage, dass islamische Diskurse über Gerechtigkeit an säkulare
Debatten durchaus anschlussfähig seien, stellen sie bestimmte Dogmen
der geistlichen Elite in Frage. Die feministische Kritik an hegemonialen
patriarchalen Interpretationen islamischer Quellen spielt eine besondere
Rolle in der Diskussion um die Offenheit des Islam: Frauenorganisationen
wie die im ländlichen Raum aktive Organisation RAHIMA oder das Institute
for Religion and Gender Studies (LKAJ), leisten einen wichtigen Beitrag
dazu, darüber nachzudenken, dass kontextualiserte Interpretationen
des Korans, der Sunna und der Hadithe für die Gerechtigkeit zwischen
den Geschlechtern unabdingbar sind. Patriarchale Strukturen wie sie im
ungleichen Erbe zwischen Männern und Frauen, der Polygamie und den
lediglich durch Männer besetzten Gelehrtenräten zum Ausdruck
gebracht werden, verletzen das islamische Prinzip von Gerechtigkeit und
Gleichheit. Doch wie kann die Masse der einfachen Leute in diese
intellektuellen Auseinandersetzungen miteinbezogen werden? Unabdingbare
Voraussetzung hierzu sind verstärkte Anstrengungen im Bereich der
Bildung. Und nicht zuletzt müssten Fragen sozialer Gerechtigkeit in
den Mittelpunkt solcher religiösen Debatten rücken, um die breite
Bevölkerung dafür zu interessieren. <>
Literaturempfehlungen:
Awwas, Irfan S. 2001: Risalah kongres Mujahidin I dan penegakan syari’ah Islam [Papers of the First Mujahidin Congress and on the implementation of the shari`a]. Yogyakarta. Online zugänglich unter: <http://www.geocities.com/kongresmujahidin/>, Rede von Abu Bakar Ba’ashir übersetzt von Tim Behrendt (2003) online zugänglich unter: <www.arts.auckland.ac.nz/FileGet.cfm?ID=1291fbbb-4eed-4eb8-bca4-375a0d95fa63>.
Barton, Greg 2005: Islam, Islamism and politics in Indonesia. In: Kingsbury, Damien: Violence in Between. Conflict and Security in Archipelagic Southeast Asia. Singapore. S. 75-103.
Hefner, Robert W. 2002: Globalization, Governance, and the Crisis of Indonesian Islam. Working Paper on the Conference on Globalization, State Capcity, and Muslim Self Determination. Santa-Cruz.
International Crisis Group 2002: Al-Qaeda in Southeast Asia: The case of the „Ngruki Network“ in Indonesia (Corrected on 10 January 2003). Jakarta/Brussels.
Magnis-Suseno SJ 2007: Religiöser Extremisms auf dem Vormarsch? Interpretation der derzeitigen Situtation in Indonesien. In: Missbach, Antje/ Streifenender, Eva (Hrsg.): Indonesia – The Presence of the Past. Berlin. S. 219-230.
Spuler-Stegemann, Ursula 2007: Islam. De 101 wichtigsten Fragen. München.
Van Bruinessen, Martin 2002: Genealogies of Islamic Radicalism in Post-Suharto Indonesia. Online: <http://www.let.uu.nl/~Martin.vanBruinessen/personal/publications/genealogies_islamic_radicalism.htm>, abgerufen am 29.1.08 .
Van Bruinessen, Martin 2003:
Post-Suharto Muslim Engagements with Civil Society and Democratisation.
Online: <http://www.let.uu.nl/~Martin.vanBruinessen/personal/publications/Post_Suharto_Islam_and_civil_society.htm.>,
abgerufen am 29.1.08.
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