Spätestens seit Mai 2006 sind sie in aller Munde: die Banden
von Dili. Die Gruppen von gewaltbereiten jungen Männern (und einigen,
sehr wenigen jungen Frauen) halten die kleine Nation in Atem. Fast täglich
kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Gruppen sowie zwischen
ihnen und den ausländischen Polizisten und Truppen, hauptsächlich
in den westlichen bairos von Dili. Sowohl die timoresische Gesellschaft
als auch die internationalen Akteure in Osttimor scheinen vor diesem Phänomen
in Unentschlossenheit zu erstarren.
Das osttimoresische Gang-Phänomen ist sowohl älter und gesellschaftlich
komplizierter als es oft dargestellt wird. Der Begriff „Gang“ deckt pauschal
eine Reihe von verschiedenen Gruppen ab, von denen einige gewaltbereit
sind, andere wiederum nicht; einige sind straff durchorganisiert, andere
haben sehr lose Strukturen; einige sind kriminell aktiv, andere nicht.
Auch sind die Gruppen weitaus präsenter außerhalb der Problemzonen
Dilis und gesellschaftlich integrierter als das Bild von gewaltbereiten,
marginalisierten jungen Männern glauben lassen würde. Die von
diesen Gruppen ausgehende Gewalt ist ebenfalls ein komplexes Phänomen:
Meiner Erfahrung nach wird in der osttimoresischen Gesellschaft vieles
als Gewalt gesehen (z.B. verbale Gewalt, das Schüren von Angst durch
Gerüchte, die bloße mögliche Existenz von potentiell gewalttätigen
Gruppen), was aus der westlichen Perspektive nicht unbedingt als Gewalt
wahrgenommen würde.
Eine kurze Taxonomie der Gruppen
Die verschiedenen Gruppen können grob in drei Kategorien aufgeteilt werden: die Kampfsportgruppen (grupos artes marciais bzw. martial arts groups (MAGs) im Englischen), die Rai Nain bzw. Kakalok-Gruppen, die auf die Macht von Ritualen schwören (grupos artes rituais, bzw. ritual arts groups – RAGs) sowie drittens die eigentlichen Banden, sprich die in den verschiedenen Stadtbezirken verwurzelten Gruppen.
Die Kampfsportgruppenkategorie beinhaltet sowohl die Gruppen, die sich nur auf den Sport konzentrieren als auch solche, die eher an extrakurrikulären Aktivitäten wie Schutzgelderpressung oder politischer Macht interessiert sind. Unter den letzteren ist besonders die PSHT (Persaudaraan Setia Hati Terate) hervorzuheben, die landesweit größte Gruppe, für die der Kampfsport von eher marginaler Bedeutung zu sein scheint. Andere größere, ebenfalls landesweit aktive Gruppen sind Kera Sakti und Kung Fu Master, welche oft gegen PSHT kämpfen. Dabei fliegen aber öfter Steine, Speere und rama ambon-Pfeile als dass sich die Gruppen auf ihre Kampfsportkünste verlassen würden.
Die ,rituellen’ Gruppen legen oft sehr starken Wert darauf, dass sie nicht mit den auf ‚importierten’ Kampfsportarten basierenden Gruppen in einen Topf geworfen werden. Die ‚rituellen’ Gruppen beziehen sich auf ‚alte timoresische Traditionen und Rituale’ durch welche sie magische Kräfte bekommen. Diese sind den magischen Eigenschaften der Protagonisten billiger indonesischer sinetrons verblüffend ähnlich: dank der schwarzen Magie können die Meister der rituellen Künste fliegen, sich in Rauch auflösen, unsichtbar werden, Kugeln abblocken, usw. Die bekanntesten Gruppen dieser Kategorie sind 7-7, 5-5, Korka und Colimau 2000. Die Mitglieder der Gruppen mit Zahlenkombinationen als Namen haben meist die angegebene Anzahl von rituellen Narben an den Armen, welche angeblich magisches Pulver enthalten. Korka hat als unique selling point, wie es auf Neudeutsch heißt, seine eigene Sprache entwickelt, mit eigenen Schriftzeichen und aus verschiedenen Sprachen entlehnten Wörtern. Trotz des losen Zusammenschlusses dieser Gruppen unter dem Namen Rai Nain kommt es auch zu Kämpfen zwischen den verschiedenen rituell ausgerichteten Gruppen.
In der dritten Kategorie, die der eigentlichen Gangs, gibt es eine große
Spannbreite, von mehr oder weniger explizit kriminellen Gangs bis hin zu
eher harmlosen Gruppen pubertärer Jungs, die Frühabends Gitarre
spielen und teh botol trinken und sich nur Gang nennen, um cooler zu wirken.
Einige könnte man auch eher als soziale Jugendgruppen bezeichnen,
welche als Auffangbecken für die gelangweilten Jugendlichen dienen,
ihnen eine Aktivität geben und nebenher, falls nötig, die Nachbarschaft
beschützen. Die bekanntesten Gangs in Dili sind die Lito Rambo, Sintu
Kulao, Choque und Blok M-Gangs.
Die Gangs – nur ein Problem des Lumpenproletariats?
Gemeinhin werden die gewaltbereiten Banden, MAGs und RAGs als ein spezifisches Problem der Stadt Dili gesehen. Oder genauer: als ein Problem der ärmeren Schichten Dilis. Ein Problem derer, die in den ärmeren Vororten wie Becora, Comoro oder Delta wohnen. Während unbestritten der Großteil der hauptsächlich männlichen Mitglieder sich aus den ärmeren Bevölkerungsschichten rekrutiert, übersieht man oft, dass diese Gruppen inzwischen landesweit aktiv sind und deren Mitglieder durchaus auch in besseren Kreisen zu finden sind: der PSHT-Chef Jaime Xavier Lopes ist promovierter Vermesser und arbeitet für die Regierung, der Generalsekretär von Colimau 2000 war angeblich Mitglied im tim sukses, dem Wahlkampfteam, von José Ramos Horta bei den Präsidentschaftswahlen, der regionale Kommandant der PNTL im Distrikt Baucau ist angeblich ein führendes Mitglied von Kera Sakti, usw. Als ich während meines letzen Besuches in Dili versuchte, Bandenchef Lito Rambo zu interviewen, wurde mir gesagt ich könnte ihn am besten über das Büro der Partido Democratico im Parlament finden, den Kontakt zu 7-7 wiederum könnte ich am einfachsten über das Generalsekretariat der Fretilin aufbauen.
Beim Bandenphänomen handelt es sich daher also um ein weitaus komplizierteres
Problem als nur einfache, von minderbemittelten Jugendlichen begangene
Kriminalität. Die verschiedenen Gruppen haben Verbindungen zur politischen
Elite, haben ihre Mitglieder in den staatlichen Sicherheitsapparaten und
kontrollieren auch die privaten Sicherheitsfirmen. Eine der gängigen
Erklärungen für die Gewaltwelle der timoresischen krize ist,
dass die jugendlichen Bandenmitglieder in den bairos von oben her durch
die ema boot, die Führer der politischen Elite her manipuliert wurden.
Wenn man sich aber die Querverbindungen und Überlappungen zwischen
den verschiedenen Akteuren anschaut, kommt jedoch schnell die Frage auf,
ob jetzt eigentlich jemand manipuliert wird oder ob die gewaltbereiten
Gruppen, statt ein externer Faktor zu sein eigentlich nicht inzwischen
doch ein integraler Bestandteil der timoresischen politischen und gesellschaftlichen
Landschaft geworden sind, ähnlich den raskols in Papua Neu-Guinea,
den premans in Indonesien oder den ‚guns for hire’ auf den Philippinen.
Mit Gewalt geht Alles?
Je länger die gewaltbereiten Gruppen bestehen, umso verfestigter werden ihre Strukturen und desto stärker wird ihr politischer und gesellschaftlicher Einfluss. Vorerst begnügen sich die Banden mit relativ kleinen halbkriminellen Aktivitäten, z.B. der Einsammlung von Schutzgeld, dem Verkauf von Reis auf dem Schwarzmarkt oder dem zur Verfügung stellen ihrer Manpower für politische Demonstrationen. Es ist durchaus möglich dass sich die Gruppen in Zukunft wirtschaftlich diversifizieren und sich aktiv und bewusst auf Diebstahl konzentrieren, anstatt wie zur Zeit Eigentum ‚nur’ zu zerstören. Etwas verfrüht haben die australischen Medien schon auf die Möglichkeit einer Verwicklung der Banden im Drogenhandel hingewiesen. Obwohl das bisher noch nicht der Fall war, ist dies auch eine mögliche zukünftige Einnahmequelle für die Banden.
Vor allem aber führt das Fortwähren des Bandenphänomens zu einer schrittweisen Verrohung der Gesellschaft, in der Gewalt als Lösungsmittel für private, soziale, politische oder wirtschaftliche Probleme akzeptabel wird. Schon jetzt gibt es in der osttimoresischen Gesellschaft einen relativ großen sozialen Freiraum für die Gewalt junger Männer als legitimes Mittel der Problemlösung. Dieser Freiraum wird täglich größer, auch weil sich die politische und gesellschaftliche Elite nicht von den Banden lossagen will. Auch die internationale Gemeinschaft tut sich schwer mit den Banden. Zum einen hat ein hartes Durchgreifen der UNPOL (UN-Polizei) oder ISF (die australisch geführte internationale Friedenstruppe) bisher eher wenig gebracht, zum anderen haben auch die verschiedenen Dialogprozesse wenig Konkretes erreicht - außer die gesellschaftliche Position der Bandenchefs zu konsolidieren.
Langfristig kann nur eine stärkere Einbindung der Bandenmitglieder
in legitime wirtschaftliche und soziale Strukturen eine Lösung des
Problems herbeibringen. Dabei sollte möglichst darauf geachtet werden,
dass nicht, wie bisher, die Gewalttäter für ihre Gewalt belohnt
werden. Vorerst gilt aber noch das Motto ,mit Gewalt geht Alles’. Wenn
es keinen Reis im Laden gibt, wenn es keine Jobs gibt, wenn es regnet und
das Wasser ins Haus reinkommt, wenn man Herzschmerzen hat – man braucht
nur ein Paar Steine auf UN-Autos zu werfen oder das Haus des Nachbarn abfackeln
und schon findet man Gehör. <>
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