Am 11. Februar, morgens um 6 Uhr, stürmt der flüchtige
Major Alfredo Reinado mit seinen Mannen die Residenz von Präsident
José Ramos-Horta. Alfredo und ein weiterer desertierter Soldat sterben
im Kugelhagel. Zu dem Zeitpunkt ist der Präsident noch mit zwei Sicherheitsbeamten
zum Joggen am Strand. Als er sich seinem Haus nähert, eröffnen
die Rebellen auf ihn das Feuer. Er wird sehr schwer verletzt, noch in Dili
notoperiert und dann, ins künstliche Koma versetzt, nach Darwin ausgeflogen.
Eine zweite Gruppe der abtrünnigen Soldaten, angeblich angeführt
von Leutnant Salsinha, greift eine Stunde nach dem Attentat auf Horta den
Autokonvoi von Premierminister Xanana Gusmão an. Dieser kann unverletzt
entkommen, ebenso wie die 24 bisher identifizierten Rebellen (Stand 14.2.2008),
gegen die nun Haftbefehle ausgestellt sind und nach denen fieberhaft gesucht
wird.
Die Motive für die erschreckenden Taten liegen noch im Dunkeln, auch sind viele Fragen zum Tathergang offen. Die Regierung setzte zur Lösung des Konfliktes mit Alfredo auf Dialog, doch ein Durchbruch konnte nicht erzielt werden. Alfredo ist des sechsfachen Mordes angeklagt. Ihn erwartete eine 25-jährige Haftstrafe. In der Woche vor den Attentaten hatte es in Dili noch erfolgversprechende Verhandlungen mit den Petitioners, wie die Gruppe um Alfredo Reinado genannt wird, gegeben. Dabei wurde wohl auch eine mögliche Reintegration in die Armee in Aussicht gestellt. 77 der desertierten Soldaten hätten das Angebot angenommen. Doch Alfredo hatte sich immer mehr ins Aus manövriert. Vielleicht wollte er mit einer allgewaltigen Tat abtreten, möglicherweise handelte es sich um einen versuchten Regierungssturz. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Horta und Xanana entführt werden sollten. Eine Fülle von Verschwörungstheorien machen die Runde. Die Lage ist sehr angespannt, aber unter Kontrolle. Es herrscht in Dilis Straßen weder Chaos noch Anarchie. Die Regierung hat den Ausnahmezustand und ein nächtliches Ausgehverbot verhängt.
Die erschreckenden Taten haben die Bevölkerung schockiert und weltweit für Entsetzen gesorgt. Sie zeigen, wie fragil der junge Staat ist und wie dringend die Regierung an Lösungen von drängenden Problemen arbeiten muss. Warum das bislang nicht ausreichend geschah, liegt in der Zerstrittenheit der politischen Eliten begründet.
Osttimor nach der Wahl
Nachdenklich, sehr nachdenklich, reiste ich Ende August nach Osttimor. Wenige Wochen zuvor hatte Präsident José Ramos-Horta die Koalitionsregierung mit Premierminister Xanana Gusmão eingesetzt. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sollten Klarheit schaffen über die politischen Machtverhältnisse und damit war die Hoffnung verbunden, einen Weg zu finden, um die tiefe gesellschaftspolitische Krise, in der sich das Land befindet, zu überwinden. Doch diese Hoffnung erhielt einen schweren Dämpfer: die Fretilin, die nach den ersten Nationalwahlen mit fast Zweidrittelmehrheit regiert hatte, akzeptiert den Machtwechsel nicht, erklärt die neue Regierung für illegitim und ex-Premier Mari Alkatiri posaunte, seine Partei sei um den Sieg gebracht worden. Damit goss er Öl ins Feuer und umgehend kam es in Dili zu gewalttätigen Protesten. Auch in den drei Ostprovinzen – Baucau, Viqueque und Los Palos – kam es zu schweren Ausschreitungen. Militante Anhänger der Fretilin randalierten, zündeten Häuser an, machten Jagd auf politische Gegner und griffen sogar einen UN-Konvoi mit Hilfslieferungen an (s. Suara Nr. 2/2007: Wahlen in Osttimor).
Was passiert in diesem Land und wie wird die Stimmung sein? Was sagt es über die politischen Eliten aus, die von Frieden, Versöhnung und nationaler Einheit (Unidade) reden, sich aber auf Kosten der Bevölkerung Machtkämpfe liefern. Wieso braucht ein unabhängiges Osttimor anhaltend ausländische Sicherheitskräfte? Doch der Reihe nach, landen wir erst einmal.
Begierig mache ich mich auf, die Veränderungen in der Stadt wahr-zunehmen. Überall herrscht rege Bau- und Aufräumtätigkeit: man hat angefangen, den Schutt von ausgebrannten Häusern abzu-transportieren. Straßenlöcher werden oberflächlich ausgebessert, was nicht jeder Autofahrer sogleich merkt und in alter Gewohnheit weiterhin drum herum fährt. Mit Einsetzen der Regenzeit sollen einige der Löcher auch schon wieder ganz die alten sein. In der ganzen Innenstadt sind die Bürgersteige aufgerissen und werden in dezenten Farben der Nationalflagge neu gepflastert. Wo gibt es das schon? Endlich wurde die verkohlte Ruine des bei den Unruhen 2002 abgefackelten Supermarktes „Hello Mister“ im Zentrum abgerissen. Dort soll Gerüchten zufolge ein zehnstöckiges Hochhaus entstehen.
Der imposante Vorplatz des aus portugiesischer Kolonialzeit stammenden Regierungspalastes ist neu angelegt worden. An Feiertagen wehen hier die Flaggen aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Als „Horta-Style“ kommentierte dies ein internationaler Regierungsberater. Auch die gegenüberliegende Strandpromenade ist aufgeräumt. Bänke und Tische unter den alten Bäumen laden zum Verweilen ein. Es ist ein beliebter Treffpunkt junger Menschen, insbesondere am Wochenende. Kichernd wandelt eine Gruppe Mädchen entlang, junge Männer sitzen entspannt auf den Bänken, erste zaghafte Bande werden geknüpft. Eine Hochzeitsgesellschaft stellt sich für Fotos auf, im Hintergrund funkelt das Meer. Ein paar Boote wiegen sich in den Wellen; ein friedlicher Ort, nicht ohne südländischen Flair, so voller Normalität.
Flüchtlingslager: schnelle Lösung nicht in Sicht
Doch beherrscht wird Osttimor von einer anderen Normalität: die der anhaltenden Krise. Nur wenige Meter von der Strandpromenade, einmal über die Straße, ist in dem aufgegebenen Gebäude der ehemaligen chinesischen Handelskammer ein neues Flüchtlingslager entstanden. Die Meinungen gehen auseinander, ob die Regierung den Flüchtlingen das Gebäude zur Verfügung gestellt hat oder ob es besetzt wurde. Auch das wilde Lager im Park, zwischen Hafen und dem Nobelhotel Timor, ist zur festen Einrichtung geworden. Um das Lager herum haben Händler inzwischen feste Verkaufsschläge errichtet, wo sie Gemüse, Brennholz und Gegenstände des täglichen Bedarfs feil bieten. Noch immer leben in Dili rund 30.000 Menschen in Lagern, 100.000 sind es landesweit. Die Lager bieten einen traurigen Anblick. „Inzwischen sind dort eigene Ökonomien entstanden,“, erklärt mir ein internationaler Regierungsberater, „die von diversen Gangs kontrolliert werden, an die die Kioskbesitzer Schutzgeld bezahlen. Überhaupt zahlen viele Geschäfte, Supermärkte und Restaurants inzwischen Schutzgeld.“
Eine baldige Auflösung der Lager ist nicht in Sicht, gemeinhin wird eine rasche Auflösung als politischer Tod von Xananas Regierung der AMP (Allianz der Mehrheit im Parlament) gewertet. José Ramos-Horta hatte es als Premierminister der Fretilin-Übergangsregierung im Dezember 2006 erfolglos versucht, seine Initiative lief ins Leere, nicht zuletzt, weil die Fretilin viele der internen Flüchtlinge ihrer Wählerschaft zurechnet, deren Stimmen sie sich bei der Wahl sichern wollte. Die Partei wird nicht müde zu beteuern, Premierminister Mari Alkatiri sei im Juni 2006 zum Wohle der Nation zurückgetreten, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Sie werde fälschlicherweise als Urheberin der Krise bezichtigt, dabei habe es sich in Wahrheit um eine Verschwörung ihrer Widersacher gehandelt, die es bis zum heutigen Tag nicht verstünden, die Krise im Land zu meistern /zuletzt s. Fretilin Press Conference by Francisco Guterres LuOlo, President of Fretilin, Dili, 8th January 2008 Alfredo Accusses Xanana as Author of Crisis: Fretilin Demands Answers/. Wie auf Kommando nahm mit Einsetzen der AMP-Regierung die Gewalt in Dili in den Flüchtlingslagern ihren Anfang. Mit Ausnahme von Lagern in kirchlichen Einrichtungen wehen dort nun Fretilin-Flaggen.
Ausnahmezustand wird zur Normalität
Die AMP Regierung muss zeigen, dass sie auch das Wohl der Menschen aus den Ostprovinzen, der Hochburg der Fretilin, im Blick hat. Sie hat nun angefangen, in den Lagern die alten Zelte durch neue zu ersetzen. Menschen, die ihre Häuser verloren haben, sollen eine Entschädigung erhalten. Eine Wiederansiedlung der Leute in ihren alten Vierteln in Dili ist zur Zeit unwahrscheinlich. Neuansiedlungen am Stadtrand sind geplant und z.T wohl auch in Angriff genommen. Einige wenige Flüchtlinge sind wieder in ihre Viertel zurückgegangen, manche behalten aber auch aus Sicherheitsgründen ihren Platz und das Zelt im Lager. Eine Versöhnungsarbeit mit den Gemeinden der einzelnen Stadtviertel ist kaum sichtbar. Die Sicherheitslage ist fragil, unter der Oberfläche gärt es. Nach wie vor kommt es immer wieder zu gewalttätigen Zusammenstößen einzelner Gangs mit Verletzten und Toten. Meldungen, wo es gerade zu Zusammenstößen kommt, wo Steine fliegen, welche Gebiete zu meiden sind, machen per SMS schnell die Runde. Manches erweist sich als haltlos, anderes erfährt man erst später aus der internationalen Presse. Im Vergleich zu den Monaten davor, ist es insgesamt gesehen etwas ruhiger geworden, doch es fällt vor allen Dingen auf, dass die Osttimoresen, wie auch die Internationalen, sich in diesem Spannungszustand eingerichtet und ihren Alltag wie ihr Arbeitsleben daran ausgerichtet haben. Der Ausnahmezustand ist ein Stück weit zur Normalität geworden. Das heißt, ein bestimmtes Level an Gewalt wird inzwischen als normal empfunden. Aber ist eine Scheinnormalität, in der Unberechenbarkeiten den Alltag bestimmen.
Fretilin: Machtverlust war nicht vorgesehen
Gegenüber vom Jardim-Lager hat die Stadt eine neue traurige Ruine: das alte Zollhaus. Hier wurde vor dem Regierungswechsel gezündelt, angeblich um Im- und Exportlisten elegant verschwinden zu lassen. Wie mir aus zuverlässiger interner Regierungsquelle zugetragen wurde, hat die Fretilin-Regierung unter Mari Alkatiri einen enormen Filz aufgebaut, ein in sich geschlossenes Family-Business. Es sei letztlich nicht viel anders als in vielen anderen Ländern auch, nur würden sie es in Osttimor wirklich sehr geschickt verstehen. Es sei in dem Land enorm viel Geld vorhanden und die Fretilin fürchte nun um ihre wirtschaftlichen Pfründe. Xananas neue Partei CNRT (National Congress for the Reconstruction of East Timor) versprach im Wahlkampf mit der Korruption aufzuräumen. Sogleich kündigte die neue Regierung an, ein Audit durchführen zu lassen und offen zu legen, ob und wie die alte Regierung Gelder veruntreut hat. Die Fretilin betonte umgehend, man werde nichts finden, sie aber werde ihrerseits die Regierung verklagen. „Die alten Strukturen leben weiter,“ versicherte mir besagte interne Regierungsquelle, „es sind nur neue Spieler hinzugekommen, die offensichtlich dringend Geld benötigen.“
Macht- und Regierungsverlust sei in der Vorstellung der Fretilin schlicht nicht vorgesehen gewesen, analysiert der ehemalige CIM-Berater im Außenministerium, Dr. Christian Roschmann, die Reaktion der Partei auf ihre Wahlniederlage. Als ehemals linke, marxistische Partei sei ihre Führungsriege mehrheitlich einer autoritären Philosophie von Staatszentralismus und Staatskontrolle verhaftet, geformt während der Exiljahre in Mozambique. In den Augen vieler Beobachter seien die Unruhen 2006 von einer Fraktion innerhalb der Partei angezettelt worden, um das Land in einen autoritären Einparteienstaat zu verwandeln.
Politik als Nullsummenspiel
Die hohe Abhängigkeit von internationalen Geldgebern sei ein Grund, der Osttimors politische Eliten davon abhält, zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt anzuwenden, schreibt Francisco da Costa Guterres in seiner Anfang 2006 erschienenen Doktorarbeit Elites and Prospects of Democracy in East Timor. „Viele Länder, die Osttimor finanziell unterstützen, knüpfen diese Hilfe an die Konditionen, dass demokratische Verfahren, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit respektiert werden sowie Transparenz und Accountability gewahrt sind.“ Einen zweiten Grund sieht er in der Fähigkeit Xananas, bei Konflikten vermittelnd zu wirken. Hat die Konditionierung von Hilfe und die Anwesenheit von internationalen Beratern, zumindest bis zur Krise 2006, das Schlimmste verhindert? Liegt die Ursache der Krise darin, dass nicht ausreichend demokratisches Grundverständnis und die Fähigkeit zu politischen Entscheidungen auf der Basis friedlichen Dialoges und Verhandlungen erwachsen konnte? Was heißt das für die wechselseitige Beziehung zwischen osttimoresischer Führung und internationaler Hilfe? Auf diese Fragen möchte ich in meiner Schlussbetrachtung näher eingehen.
Guterres, der in der neuen Regierung Staatssekretär für Sicherheit ist, beschreibt die Einstellung der Elite zur Demokratie als bestenfalls semiloyal. Osttimors Eliten seien tief gespalten. Sie erkennen sich nicht als legitime Mitstreiter um die Macht an, noch respektieren sie demokratische Verfahren als die Arena, in welcher sie ihren Wettstreit austragen sollten. Sie betrachten Politik als „Krieg“ oder als Nullsummenspiel und fürchten schwere Vergeltung von ihren Gegnern, wenn sie unterliegen. Sie nehmen daher Zuflucht zu Strategien der Gewalt, um ihre Position und Interessen zu schützen. Dieses Verhaltensmuster dauere seit fast 24 Jahren an, und auch nach der Unabhängigkeit hätten die Eliten nur wenig neue Fähigkeiten erlangt.
Politische Elite weiterhin in den Niederungen des Kampfgetümmels
Dementsprechend wenig euphorisch ist die Stimmung im Land nach dem Regierungswechsel. Zu stark gelten alle als in die Krise involviert, es gibt keine „Saubermänner/-frauen“. Auch Xananas Ansehen hat sehr gelitten. Seine Regierung beherbergt einige ehemals pro-indonesische Kräfte. Parlamentarier seiner Partei finden sich auf der Liste des UN-Untersuchungsberichtes, gegen die empfohlen wurde, Strafverfahren einzuleiten. Das gibt nicht nur der Opposition Munition, sondern nährt auch in der Bevölkerung die Einstellung, dass es keine Gerechtigkeit geben wird. Die politischen Eliten zeigen sich weiterhin unversöhnlich und befinden sich auch nach der Wahl noch immer in den Niederungen des Kampfgetümmels, weit entfernt vom Hügel der Reflektion. Auch Vertreter der Kirche mischen weithin politisch mit und beäugen – fast schon paranoid – jeden Schritt der Fretilin. Statt sich selbstkritisch zu fragen, wie ihr eigenes Verhalten möglicherweise dazu beigetragen haben könnte, dass die Kirche im unabhängigen Osttimor derart zur Zielscheibe wurde. Bei den Unruhen nach der Regierungsbildung wurden in Baucau kirchliche Einrichtungen nieder gebrannt.
„Eine Dämonisierung der Fretilin kann doch keine Lösung für unser Land bringen“, so eine politische Aktivistin, die der Partido Democratico angehört. „Die Partei hat im Unabhängigkeitskampf Großes geleistet, will man sie vernichten? Ist das das Ziel? So trifft man viele Menschen im Innern ihrer Seele und bringt sie gegen sich auf.“ Überhaupt führe jeder weitere „Angriff“ nur dazu, dass die moderaten Kräfte in der Partei weiter geschwächt werden und die jetzige Führungsriege, wie radikale Anhänger Stärkung erfahren. Viele moderate Mitglieder seien über die Gewaltausbrüche im Osten entsetzt gewesen, weiß mir eine UN-Mitarbeiterin zu berichten. Doch obgleich die Fretilin bei der Wahl die Hälfte ihrer Stimmen verlor, sitzt Mari Alkatiri fester denn je im Sattel und dirigiert die Politik seiner Partei. Erklärtes Ziel ist es, die AMP-Regierung zu stürzen. Dazu soll die Partei einen ganzen Maßnahmenkatalog zusammengestellt haben.
Fretilins Maßnahmen zum Sturz der AMP-Regierung
Grundsätzlich erkennt die Fretilin die neue Regierung nicht an. Sie sei illegal und nicht verfassungsmäßig, denn als Partei mit den meisten Stimmen hätte die Fretilin das Vorrecht gehabt, eine Regierung zu bilden. Damit stachelte sie, wie erwähnt, ihre Anhängerschaft auf und es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen. Wochenlang erhitzte die Diskussion um die Auslegung der Verfassung und das Prozedere einer Koalitionsbildung die Gemüter auf den mailing lists über Osttimor im Internet. Um vieles mehr aber wurde die Bevölkerung in Osttimor selbst dadurch verunsichert. Selbst Menschen mit politischer Bildung fragten mich irritiert, wie ich das Problem denn beurteile und wie Koalitionsbildung in Deutschland gehandhabt wird. Ich wiederum bin irritiert darüber, wie selbstverständlich manche Inter-nationale im Land die Ausbrüche in der Rhetorik der Partei werten. „Das Verhalten der Fretilin-Anhänger ist nicht zu akzeptieren, aber doch verständlich.“ Eine Aussage, die ich in abgewandelter Form immer wieder gehört habe. Die Fretilin fühle sich um den Sieg betrogen und Grund für ihr Verhalten sei die Demokratieunerfahrenheit. Woher sollten sie es denn wissen? Gezielt hat die Parteiführung Gewalt in Kauf genommen und das nicht aus Demokratieunerfahrenheit, sondern weil der Machtverlust auf demokratischem Wege nicht verhindert werden konnte. Auch im Wahlkampf habe die Partei mit Einschüchterung gearbeitet. Ganz offen sei in Baucau damit gedroht worden, wer nicht Fretilin wählt, dessen Haus wird brennen, berichtet mir einer der dort tätigen Internationalen.
Weiterhin ruft die Partei zu zivilem Ungehorsam auf. An Staatsbedienstete mit Parteibuch in den Ministerien soll die Aufforderung ergangen sein, hart an der Grenze zur Arbeitsverweigerung Dienst nach Vorschrift zu leisten, um die Regierung zu blockieren. Eine der Direktorinnen im Gesundheitsministerium will dem nicht nachkommen: „Meine Aufgabe ist es, dem Staat zu dienen, egal welche Parteien die Regierung stellen, aber ich weiß, dass viele meiner ParteikollegInnen dies anders sehen.“
Flaggendemonstration
Den großen Rückhalt der Partei im Volk sollen auch die vielen nagelneuen Fretilin-Flaggen unterstreichen, die in Dili, in den Flüchtlingslagern, in den Ostprovinzen und vereinzelt auch im übrigen Land wehen. Die Flüchtlinge würden zweifach Opfer, sagte Ramos-Horta: erst wurden sie aus ihren Häusern vertrieben, nun werden sie in den Lagern von militanten Anhängern der Fretilin bedroht. In Baucau wehen die Flaggen an öffentlichen Plätzen und sind quer über die Straße aufgehängt. So auch am Teachers Training College. Auf die Flagge weisend, erklärt mir Mana Cesaltina: „Nein, wir haben sie nicht aufgehängt, aber wir werden sie auch nicht runterholen. Sie schützt uns.“ Inwieweit sie sich damit zur Zielscheibe machen würde, wenn sie die Flagge runterholt, also tatsächlich bedroht oder gar angegriffen würde, ist schwerlich zu belegen, aber die Befürchtungen sind da und die Annahme wird als gegeben wahrgenommen. Es ist schließlich keine vier Wochen her, da ließen Anhänger der Fretilin in Baucau ihrer Zerstörungswut freien Lauf, andere nutzten die Gelegenheit, um alte Rechnungen zu begleichen. Die Erfahrung zeigt wieder und wieder, Konflikte werden gewaltsam ausgetragen und es ist letztlich niemand da, der die Bevölkerung schützt.
Erinnerungen an die Zeit vor dem Referendum 1999 werden wach. Damals wehten im ganzen Land die rot-weißen Nationalflaggen Indonesiens. Nun, in Osttimor lebt heute keine indonesische Tradition fort. Es zeigen sich vielmehr universelle Merkmale von autoritären oder diktatorischen Staatsformen, bei der Machthaber, die ihren Bürgern zutiefst misstrauen und misstrauen müssen, sich mit Mitteln der Angst und Einschüchterung deren Unterstützung sicher zu stellen versuchen.
Grafittiterror
Gleichfalls sollen die zig Grafittis an den Häuserwänden Volkes Meinung zur neuen Regierung ausdrücken. Vor allem Xanana, aber auch andere Mitglieder seiner Regierung, werden als Verräter (Traidor) verunglimpft. Xanana sei der Urheber der Krise, habe den Ost-West-Gegensatz im Land geschürt und wolle Osttimors Unabhängigkeit einer Föderation mit Australien opfern. AMP stehe für für Aliansi Merah Putih, für Rot-Weiße Allianz, in Anspielung auf die ehemals pro-indonesischen (otonomi) Kräfte in der neuen Regierung und in den Parteien. Deren Namen prangern an den Häuserwänden. Es fällt auf, dass viele Grafittis die gleiche Handschrift tragen. Es soll einen Trupp geben, der eigens dafür angeheuert worden sei, wissen mir viele zu berichten. Genaues jedoch weiß niemand. „In Baucau ist das in einer Nacht-und-Nebel-Aktion erfolgt, gut vorbereitet, denn hier gibt es keine Sprühdosen zu kaufen“, so der gtz Mitarbeiter Diego Curvo.
Forderung nach vorgezogenen Wahlen
Auf sich warten lassen die von der Fretilin angekündeten Massendemonstrationen gegen die Regierung. Doch alleine deren wiederholte Ankündigung hält die diffusen Ängste der Bevölkerung wach. Derweil attackiert die Partei die Regierung mit spitzer Feder. Die Presseabteilung arbeitet auf Hochtouren. Dabei wird immer wieder die Legitimität der Regierung in Frage gestellt und die AMP – natürlich im Gegensatz zur Fretilin – als inkompetent hingestellt. „Osttimor ist in Gefahr, sich zu einem failed state zu entwickeln. Fretilin hat klare Vorstellungen, wie dies aufzuhalten ist“, so Generalsekretär Mari Alkatiri in der Presseerklärung „AMP Government cannot defend the State“ vom 24.01.2008. Tagtäglich würde die Regierung illegale und nicht verfassungsgemäße Entscheidungen treffen, insbesondere was die Ausgabe von öffentlichen Geldern betrifft. „Minister handeln, ohne sich den Rat ihrer Direktoren einzuholen. Anstatt mit den Staatsbediensteten zu arbeiten, werden task forces eingesetzt und mehr und mehr macht die Regierung sich abhängig von ausländischen Beratern“, lautet ein weiterer Kritikpunkt.
Im Parlament forderte Mari Alkatiri Ende Januar, vorgezogene Wahlen für 2009 in Betracht zu ziehen. Sollte sich die Erwartung auf vorgezogene Wahlen nicht erfüllen, so will die Fretilin die Bevölkerung zu Demonstrationen aufrufen, um so die jetzige Regierung zum Rücktritt zu zwingen. „This is not a threat to the Majority Alliance in Parliament (AMP). But this is Fretilin's right, and the peoples' need.“ /UNMIT Media Monitoring, 31.1.2008/
Die Partei ist weit von einer konstruktiven Oppositionspolitik entfernt. Die Regierung wird unter Dauerbeschuss genommen. Allzu viel Sichtbares hat die neue Regierung bislang allerdings tatsächlich nicht vorzuweisen. Sie hat ein ehrgeiziges Budget verabschiedet, will Armut bekämpfen und Entwicklung schaffen, doch es ist fraglich, ob sie die systemimmanente Lethargie, die in den Ministerien herrscht, zu überwinden vermag.
Kurz und bündig fasst es der Bericht des UN Sicherheitsrates vom Februar 2008 zusammen: „The humanitarian and security situation in Timor-Leste continues to be fragile, including threats from gang activity, weakness of the security sector and the uncertain future of the „petitioners” (whose sacking from the military was one of the immediate causes of the 2006 violence). An estimated 100,000 civilians remain displaced as a result of the 2006 riots. Major political divisions among the Timorese leadership continue. The opposition has reiterated its rejection of the legality of the current government and called for early elections.”
Hinzu kommt das oben erwähnte Dauerthema, über die Urheberschaft der Krise (s. Interview mit Tiago Sarmento, Information und Analyse: http://www.watchindonesia.org/Tiago_Wahl_Osttimor.htm). Hat es sich dabei um einen Coup gehandelt, mit dem die Fretilin-Regierung zu Fall gebracht wurde? Ist das Lager um Xanana auf den Zug aufgesprungen oder hat es diesen aktiv auf das Gleis gesetzt und angeschoben? Fakt ist, die eine Seite war nicht besser als die andere. Gewalt, Einschüchterung und Manipulationen zur Durchsetzung von politischen Interessen sind Mittel, die nicht nur von der Fretilin angewandt werden. Wer die Gangs finanziert sei völlig spekulativ, sagt mir ein internationaler Regierungsberater. Doch die Verbindungen zu Parteien sind augenscheinlich, sichtbar an die Häuserwände gesprüht. Je nach Interessenlage können die Allianzen auch wieder wechseln.
Seltsame Allianzen
Kurz vor meiner Ankunft wechselte die ehemalige Direktorin der Frauenorganisation Fokupers, Manuela Pereira Leong, zum International Center for Transitional Justice (ICTJ). Bei Fokupers musste sie als Direktorin turnusmäßig abtreten. ICTJ engagiert sich seit vielen Jahren in Osttimor und unterhält nun ein kleines Büro im ehemaligen Gefängnis Comarca, dem Sitz der Wahrheitskommission (CAVR). Das Gebäude beherbergt auch die bilaterale Wahrheits- und Freundschaftskommission zwischen Indonesien und Osttimor und bietet daneben NGOs, wie z.B. The Living Memory Project von ehemaligen politischen Gefangenen Räumlichkeiten. Ich treffe Manuela zusammen mit ihrer internationalen Kollegin Megan Hirst in ihrem Büro. Nachdem wir uns über die Arbeit von CAVR, die Anhörungen der Freundschaftskommission und die Strategien hierzu ausgetauscht haben, wechseln wir über zur Zusammensetzung der neuen Regierung. Xananas CNRT Regierung beherbergt einige Pro-Otonomi-Persönlichkeiten und hat ihnen Ministerposten gegeben. „Sie“, so Manuela, „verfügen über administrative Fähigkeiten, die vielen Widerständlern fehlen, dennoch gibt dies auch böses Blut und hat zu einigen Verstimmungen geführt.“ Ich frage nach Fernando de Araujo (Lasama), dem Vorsitzenden der PD (Partido Democratico), und seiner Verbindung zum ehemaligen stellvertretenden Kommandeur der gefürchteten Mahidi-Miliz von Ainaro, Nemencio de Caravalho. Berichten zufolge, sollen die beiden gemeinsame Sache gegen die Fretilin-Regierung gemacht haben. Nemencio soll 2006 die PD mit Demonstranten gegen die Fretilin unterstützt haben (vgl. Suara, Nr.1/2007). „Ja”, bestätigt mir Manuela, „die arbeiten zusammen”. Sie seien alte Schulkameraden. Auch sie kenne Nemencio aus der gemeinsamen Schulzeit. Seine Familie sei schon immer pro-indonesisch gewesen, da hätte er gar keine andere Wahl gehabt. Eigentlich sollte er unter Hausarrest stehen, doch da ja keine Institution mehr da sei, die das kontrolliert, bewege er sich völlig frei und sei auch häufig in Dili.
Bemüht um einen scherzenden Ton, nach dem mir in dem Augenblick nicht war, fasse ich zusammen: „Also, während wir uns hier dafür einsetzen, dass Leute, die für Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind, auch vor Gericht gestellt werden, haben sich die einstigen Widersacher längst versöhnt und machen gemeinsame Sache, jetzt gegen die Fretilin?“ „Naja, Versöhnung kann man dies nicht nennen“, räumt Manuela ein und fügt hinzu „das ist typisch Osttimor“.
„Jeder kann mit jedem – und morgen wieder wechseln“
Das Wahlergebnis für die PD blieb weit hinter den Erwartungen der Partei zurück. Lasama verkündete darauf hin, die Partei hätte durchaus auch die Option eine Koalition mit der Fretilin einzugehen. Wie? Eben war man doch noch spinnefeind und jedes Mittel war recht, die Fretilin zu entmachten? Lasama sei verärgert gewesen über das schlechte Abschneiden seiner Partei. Xananas CNRT hätte der PD viele Stimmen abgezogen, erläutert mir Lurdes Bessa, Mitglied der PD. Doch Lasama sei parteiintern zurückgepfiffen worden und er hätte verstanden, dass solche Alleingänge nicht angebracht seien.
Ich diskutiere das Thema mit José Luis de Oliveira, Direktor der Menschenrechtsorganisation Yayasan HAK. „Ja“, erklärt er, „in Europa verbieten sich aus ideologischen Gründen bestimmte Koalitionen, aber hier gibt es keine großen ideologischen Unterschiede. Es geht um Macht und Beziehungen. Es fehlt uns an Werten wie Integrität und Loyalität. So kann jeder mit jedem eine Koalition eingehen, und morgen wieder wechseln.“
Stephen Fitzpatrick schreibt: „In East Timor, they say, you only really know a man once he's betrayed you. Until then, you can never be entirely sure where he stands.” /The Australian: Anarchy lurking beneath restless peace Dili, December 17, 2007/. Das scheint mir eine treffende Umschreibung zu sein.
Schwache Justitz
Mit Santina Soares von La’o Hamutuk unterhalte ich mich über das Justizwesen und das Urteil des Berufungsgerichtes zum Amnestie-gesetz. Das Gericht hatte entschieden, dass grundlegende Artikel des Gesetzes nicht verfassungskonform sind (vgl. SUARA, 2/2007). Gemeinsam mit weiteren NGO-Mitgliedern war Santina vor dem Urteil zum Lobbytermin bei Präsident José Ramos-Horta. Er habe sie um Alternativen zum Gesetz gebeten; die Gerichte seien überfordert mit allen Fällen. Sie hätten argumentiert, dass das Justizwesen in Osttimor unabdingbar Stärkung erfahren muss und es keine Straflosigkeit geben dürfe. Es sei klug zu überlegen, für welche Straftaten man auf das traditionelle Schlichtungssystem zurück greifen könne und für welche nicht. Ich frage nach, wie stark das traditionelle System denn noch sei. Es wird auch anderorts argumentiert, man solle sich zur Lösung der Krise auf die Traditionen Osttimors rückbesinnen. Nur dies würde zu einem verbindlichen Weg aus der Krise, des Zustands der Nichtharmonie, führen.
„Das formale Justizwesen ist den Menschen fremd und es braucht Zeit, diese Moderne zu verankern“, so Santina. „Zugleich ist aber das traditionelle System auch nicht mehr stark,“ das hätten auch Untersuchungen gezeigt. Es war stärker zur indonesischen Besatzungszeit, da sich aus politischen Gründen bei Streitigkeiten niemand an die Polizei und das Gericht wenden wollte, doch heute und besonders in Dili, was ja seit 1999 enorm angewachsen ist, sei es eher schwach. „Wir haben zwei schwache Systeme.“ Immer wieder gab es nationale Dialogveranstaltungen, unterstützt und finanziert von EU, Weltbank und anderen. Auch eine große traditionelle Zeremonie zur Wiederherstellung der kosmischen Ordnung gab es. Die ema boot, die großen politischen Führer zeigten sich, nahmen daran teil, gingen auseinander und machten weiter wie gehabt. „Es gab kein follow up“, beklagt Santina, „noch hat sich in der Einstellung und dem Verhalten der Leute nennenswert etwas geändert.“
„Like Stepping Stones in the River –Youth Perspectives on the Crisis in Timor-Leste“
Die politischen Führung redet von Einheit, Frieden und Versöhnung, doch dies seien nur Worte aus dem Mund und nicht aus ihrem Herzen. Sie hätte diese Krise verursacht und junge Menschen benutzt, „just like stepping stones in the river, so the leaders can get what they want (and never get their feet wet).“ So der Blick von Jugendlichen und jungen Menschen auf die Krise. Eine fünfköpfige osttimoresische Forschungsgruppe hat unter Anleitung einer Fachkraft von der Universität New South Wales mittels partizipatorischer Methoden mit rund 450 jungen Menschen im Alter von 15 – 25 Jahren Kleingruppendiskussionen geführt. Die Methoden waren darauf angelegt, den jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Hoffnungen, Befürchtungen und Meinungen zur Zukunft Osttimors auszudrücken, ihnen zuzuhören, sowie ihnen selbst die Bedeutung und Gewichtung von Themen zu überlassen. Dies merkt man den Ergebnissen, die in dem sehr lesenwerten Bericht „Like Stepping Stones in the River – Youth Perspectives on the Crisis in Timor-Leste“ zusammengestellt sind, deutlich an.
Eine Krise birgt auch Chancen. Es werden Probleme, Fehlverhalten und Versäumnisse sichtbar, denen es zu begegnen gilt. Die jungen Menschen in Osttimor sehen sich um ihre Jugendjahre gebracht, eine Zeit, in der sie ihre Interessen und Fähigkeiten entwickeln, noch frei von der Verantwortung, die sie als Erwachsene zu tragen haben. Die anhaltende Krise und die damit verbundene Unsicherheit machen es schwierig für sie, an die Zukunft zu denken, Pläne zu machen und Träume aufrecht zu erhalten. Stößt man die Tür dieses Gefängnisses der negativen Wahrnehmung und Resignation auf, so eröffnen sich Möglichkeiten und die Perspektiven verändern sich. Das ist der Forschungsgruppe hervorragend gelungen. Junge Menschen schauen auch mit Hoffnung für ihr Land und für sich selbst in die Zukunft. Sie wollen sich engagieren, sich aktiv an der Friedensbildung und Entwicklung beteiligen.
In der jetzigen politischen Führung sehen sie allerdings keine Hoffnungsträgerin, dennoch wird diese Krise nicht ewig anhalten. In der Unversöhnlichkeit der politischen Eliten, ihrer Arroganz und der Überordnung ihrer Selbstinteressen über das Wohl der Bevölkerung, sehen sie das Hindernis für einen anhaltenden Frieden. Die jungen Leute möchten verstehen, warum das alles passiert ist. Was sind die Gründe für die Krise? Wer steckt hinter der Gewalt? Wer trägt welche Verantwortung? (Die Krise) „hatte auch eine positive Wirkung. Wir haben eine schlechte Führung ersetzt, aber wir taten dies auf falschem Wege, denn viele Menschen sind dabei getötet worden“ (a.a.O. S.35). Die jungen Leute wollen den Problemen in der Zukunft anders begegnen können, die Fehler nicht wiederholen. Die Herausforderungen sind schon heute immens und ein Lösungsweg ist noch in weiter Ferne, ja noch nicht einmal als Silberstreif am Horizont zu erkennen.
Payback time
Die Krise mag von der politischen Führung ausgegangen sein, doch inzwischen hat sie längst die Gesellschaft erfasst. Unter dem Deckmantel der Krise wird aufgeräumt und offene Rechnungen werden beglichen. Oder man nimmt sich einfach, was man meint, was einem zusteht. Ist der Angriff einer Gang gerade politisch motiviert, weil „Hintermänner“ sie dafür bezahlen, oder bekämpfen sie sich untereinander, weil sich die Spirale von Angriff und Vergeltung dreht? Oder auch nur, weil die Schwester eines Mitglieds der Gang sich mit einem aus der anderen angefreundet hat, was sich über die Gruppenloyalitäten bestens austragen lässt? Es ist für die Bevölkerung zermürbend und macht es für sie, wie auch für uns Außenstehende, schwierig, die politische Dimension der Krise zu erfassen und die Gefahrenlage einzuschätzen. Verunsicherung und Angst sind das Ergebnis. Ist das kleine Auto einer portugiesischen Mitarbeiterin im Ministerium zufällig zweimal binnen kürzester Zeit heftig mit Steinen beworfen worden? Falscher Zeitpunkt? Falscher Ort? Oder stehen die Steinwürfe möglicherweise im Zusammenhang damit, dass sie einen Konflikt mit einem osttimoresischen Kollegen hat?
Im Winter 2006 wurde das Bildungsministerium angegriffen. Die internationale Presse stellte das Ereignis gemeinhin in den Kontext der politischen Krise. Hintergrund war jedoch folgende Geschichte: Ein Mann klopft an die Tür von Minister Amindo Maia und bittet um Arbeit als Wachpersonal oder Fahrer. Der Minister erwidert, ohne ihm Versprechungen zu machen, zur Zeit sei nichts frei und er solle in ein paar Monaten noch mal vorsprechen. Er kommt also nach ein paar Monaten wieder und fragt bei der inzwischen neuen Ministerin an. Da heißt es erneut, es sei nichts frei und freie Stellen würden ausgeschrieben werden; er könne sich dann bewerben. Daraufhin rastet der Mann aus, holt sich Verstärkung und gemeinsam demolieren sie rund 20 –30 Autos im Hof des Ministeriums. Danach stellt die Ministerin vom Maubara-Wachdienst fünf zusätzliche Leute ein. Am Nachmittag kommen die Angreifer wieder und werfen die Scheiben im Büro der Ministerin ein. Sie schießen auch mit Pfeilen. Zwei Personen des Wachdienstes werden bei dem Angriff getötet.
Die Krise, der Konflikt zwischen der AMP-Regierung und der Fretilin, der Ost-West-Gegensatz, all dies bietet Gelegenheit, um für persönliche Konflikte Rache zu üben. Hass und alter Groll finden ein Ventil im Klima von Gesetzlosigkeit und es ist leicht, für persönliche Feldzüge Unterstützung zu bekommen.
Gerechtigkeit = Rache?
Während Fachleute im In- und Ausland über die Vor- und Nachteile von formalem und traditionellem Recht in Osttimor debattieren, wie die Systeme sich ergänzen können und zu stärken wären, hierzu Aufsätze und Studien verfasst wurden, fördern die Diskussionen mit den jungen Menschen etwas zu Tage, was bislang kaum bis gar nicht Berücksichtigung fand: Die Jugendlichen sehen in dem System der Rache das größte Problem. Unabhängig von einem traditionellen oder formalen Gerichtsverfahren sei auf der individuellen Ebene erst Gerechtigkeit erzielt, wenn Rache geübt, zurück gezahlt worden sei. Selbst wenn ein Konflikt auf traditionelle Weise über Ausgleich und Versöhnungsprozess beigelegt wird, womit die sozio-kosmische Ordnung wieder hergestellt wäre, so bliebe doch, verborgen von anderen, der Hass und Groll im Herzen des Opfers und seiner Familie. Die Jugendlichen glauben, dass dieser Groll über lange Zeit lebendig gehalten werden kann, und wenn sich die Gelegenheit bietet, wird Rache geübt werden. So sehen sie in vielen Gewalttätigkeiten von heute die Saat für zukünftige. Einige fügen hinzu, dass Gewalt in Verbindung mit Racheakten leicht zu rechtfertigen sei (a.a.O. S. 12-14).
Es entzieht sich meiner Kenntnis, inwieweit dieses System der Rache in Traditionen Osttimors tatsächlich verankert ist, eine Neubelebung erfährt oder auch nur zur Rechtfertigung den Traditionen zugeschrieben wird. Möglicherweise ist dem geschuldet, dass viele Straftaten nicht geahndet wurden. Vielleicht sind damit Probleme zu erklären, wie beispielsweise das der Hausbesitzer, die 1999 ihre Häuser zerstört oder von anderen besetzt vorfanden und nun die Dinge selbst in die Hand nehmen, um sie mittels Gewalt zu richten, da sie von behördlicher Seite keine tatsächliche Lösung erfahren haben. All dies wäre genauer zu untersuchen. Bedeutsam ist, dass Jugendliche dem Bedeutung geben und hierin das Haupthindernis zur Beendigung der Krise und anhaltenden Gewalt sehen.
Sie beschreiben die Osttimoresen als sturköpfig. „Osttimoresen“, so Eugenio, „werden schnell ärgerlich. Auch bei einem kleinen Problem wollen sie nicht zusammensitzen und es rasch lösen – nein, sie möchten sich bekämpfen. (...) Das ist Osttimor – das ist unsere Kultur. Wir können das nicht ändern (...), wir haben die Geschichten von unseren Vätern und Müttern gehört und sie sagen, dass schon unsere Vorfahren so waren. Sie führten Krieg, sie haben Dinge, egal ob kleine oder große, nicht gelöst. Diese Dinge sind in unserem Herzen...“ (a.a.O., S. 13)
Die Jugendlichen sehen, dass sich bei Dialogveranstaltungen und Friedensaktivitäten Leute die Hand reichen und der Gewalt abschwören, um am nächsten Tag weiter zu kämpfen. Das bestärkt sie in der Annahme, dass es sehr schwer ist, sich dem Zyklus von Rache zu entziehen. Viele, die ein Ende dieser Krise herbeisehnen, erkennen an, dass jemand der Erste sein muss, der mit dem Heimzahlen aufhört und Versöhnung in den Gemeinden beginnen muss (a.a.O., S. 14).
Denkanstöße zu gewaltloser Lösung von Konflikten
Was ist der Zweck von Dialog beim ‚peace building’: wenn es keinen Konsens gibt, wie kann Konflikt verhindert werden?
Dies war eine zentrale Frage, um die die Diskussionen mit den Jugendlichen immer wieder kreisten. Ursache für die Krise sei der Hass der politischen Führer aufeinander. „Wenn Mari Alkatiri und Xanana sich nicht verständigen, dann wird diese Krise niemals enden.“ „Timoresen hören einander nicht zu, sie trauen sich gegenseitig auch nicht und haben unterschiedliche Ideen, das macht die Dinge so schwierig....“, klagt Tito. In den Workshops haben Jugendliche Erfahrungen sammeln und lernen können, ihre Meinung auszudrücken und die der anderen zu hören. Wie Nichtübereinstimmung von Meinungen auf konstruktive und nicht gewalttätige Weise gehandhabt werden kann und mit Kompromiss und Verhandlungen Ergebnisse erzielt werden. Das sind zentrale Fähigkeiten, um Dialog führen zu können. Dann ist Friedensbildung möglich.
Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Casa de Produção Audiovisual arbeiten in diese Richtung. Sie haben zur Krise 2006 eine eindrucksvolle Sendung gemacht. Mit Hilfe der buddhistischen Parabel um Sutasoma und dem Menschenfresser geben sie Denkanstöße, versuchen sie junge Menschen zum Nachdenken zu bringen. Warum gibt es so wenig Vertrauen untereinander? Warum sind wir nicht mutig genug, uns Menschen mit schlechten Eigenschaften entgegen zu stellen und Möglichkeiten zur Veränderung aufzuzeigen? Wir brauchen sogar ausländische Sicherheitskräfte! Was sagt das über uns? „Ami la’os asuwa’in – Wir sind keine Krieger/Helden“ lautet der Refrain der Musikgruppe Lulik Stick Band im Film. Das ist mutig! Osttimor ist stolz auf seine Kriegerkultur. Asuwa’in durfte sich in alten Zeiten nur derjenige nennen, der einen Kopf erbeutet hat, höchste Ehre wurde dem zuteil, der ein berüchtigter Kopfjäger war.
Internationale Hilfe
Viele meiner internationalen Gesprächspartner sehen die Entwicklung in Osttimor sehr düster, jedes Mosaiksteinchen wird unter die negative Lupe genommen. „Wie es hier politisch weitergeht, steht in den Sternen.“ „Wir können hier noch zehn Jahre Beratungsarbeit machen, wenn wir alle weggehen, wird alles zusammenbrechen.“
Andere wiederum fokussieren extrem auf Potentiale und Ressourcen, über die das Land sicher verfügt. Sie sehen die Dinge optimistisch und positiv, was auch kein realistischer Blick ist und Dinge befördert, die dem Land und den Menschen möglicherweise nicht helfen.
Seit Ausbruch der Krise 2006 ist erneut viel internationale Unterstützung in das kleine Land geflossen, die UN hat eine neue Mission aufgenommen, sie stellt die Polizei. Australien, Portugal, die EU und viele andere Staaten haben ihre Hilfe verstärkt, internationale NGOs treten sich in Dili auf die Füße. Allein an den zig Stellenausschreibungen für vor allem internationales aber auch osttimoresisches Personal lässt sich ablesen, was dort an Projekten in Gang gesetzt wird. Dennoch ist Osttimor weiter im Taumeln.
Kritisch stellt sich ein staatlicher Entwicklungshelfer die Frage, ob die Internationalen hier mit ihrer Arbeit nicht mehr Teil des Problems als Teil der Lösung sind. Befördert sein Projekt Hilfe zur Selbsthilfe oder machen sich internationale Partner nicht vielmehr zu Erfüllungsgehilfen? Nehmen sie nicht viel zu wenig die osttimoresische Führung in die Pflicht und Verantwortung? Ein anderer, langjähriger Direktor einer internationalen NGO sieht sehr klar, dass vieles, was hier an Hilfe geleistet wird – und zwar in allen Bereichen – systemerhaltend ist; dass es eben nicht zu Eigenverantwortung und veränderter Einstellung führt.
Wenn die hohe Abhängigkeit von internationalen Geldgebern und die Konditionierung ihrer Hilfe Osttimors politische Eliten vor 2006 davon abgehalten hatte, Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen anzuwenden, um die These von Fransisco Guterres aufzugreifen, wie können die bilateralen Partner Osttimors diese Position zurückerlangen? Keineswegs sollten sie den politischen Eliten die Spielwiese bieten, mit ihren Zankereien fortzufahren. Oder wie es Bob Lowry in seiner Analyse „After the 2006 crisis“ ausdrückt, der politischen Führung Osttimors darf es nicht erlaubt werden, die Präsenz ausländischer Sicherheitskräfte dazu zu benutzen, ihre Unvernunft zu verschleiern und nötige Maßnahmen in den Institutionen zu verzögern.
Wie kann das erreicht werden? Wird das entsetzliche Attentat auf Ramos-Horta sowie der Angriff auf Xanana bei den politischen Eliten des Landes ein Umdenken bewirken? Wird es ihnen Mahnung sein, die Einheit und Entwicklung des Landes in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen zu stellen, weil Osttimor andernfalls tatsächlich im Chaos versinken wird?
Bereits zwei Tage nach dem Attentat greift die Fretilin erneut die Regierung
an und fordert die Rücktritte der Staatsekretäre für Sicherheit
und Verteidigung wegen Inkompetenz. Am folgenden Tag bringt Atul Khare,
der Leiter der UN-Mission in Osttimor, alle Parteiführer im UN Hauptquartier
zusammen. Einmütig verurteilen alle die Attentate vom 11.2.2008. Alle
stimmen überein, dass die Täter verhaftet und vor Gericht gestellt
werden sollen. Eine allumfassende Untersuchung soll Aufklärung über
die Hintergründe und Motive bringen /UNMIT Press Release: Political
Leaders Condemn Monday Attacks, 14.02.2008/. Ein erster notwendiger Schritt.
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