Das Verteidigungsministerium will die indonesischen Streitkräfte
(TNI) fit machen für die neuen Herausforderungen unserer Zeit. Ein
im April vorgelegtes Weißbuch bestimmt den Kurs, mit dem vor allem
ein Ziel erreicht werden soll: die Territorialstruktur des Heeres zu zementieren.
„Einhergehend mit der globalen Entwicklung vollzieht sich in Indonesien
die Reformasi-Bewegung, die zum Ziel hat, ein demokratisches Gesellschaftswesen
zu erlangen, das frei ist von korrupten Praktiken, Mauschelei und Vetternwirtschaft
(KKN). Die nationale Reformasi gab bis jetzt positive Anstöße
zur Veränderung des gesellschaftlichen Lebens in Indonesien ...“
So steht es im Weißbuch des Verteidigungsministeriums in Jakarta
zu lesen, das im April veröffentlicht wurde. Wer hätte vor einigen
Jahren gedacht, solche Sätze einmal in einem solchen Dokument zu finden?
Oder gar Aussagen wie diese: „Die Landesverteidigung basiert auf der
Grundlage des Prinzips der Demokratie, der Menschenrechte, der Umwelt,
der Rechtssicherheit...“
Tragen die neuesten Mitstreiter von Watch Indonesia! - der „Arbeitsgruppe
für Menschenrechte, Demokratie und Umweltschutz“ Militäruniform??
Waren es nicht genau diese Begriffe, vor denen früher im nationalen
Verteidigungsinstitut gewarnt wurde? „Innere Unruhe könnte entstehen
durch Themen wie Menschenrechte, Öffnung, Demokratisierung und Umwelt.
Wenn das passiert, stellt es eine Bedrohung der nationalen Entwicklung
dar und schwächt die nationale Stabilität,“ belehrte
dort Präsident Suharto in einer 1994 gehaltenen Rede die geneigte
Zuhörerschaft /AFP, 23.6.94; s. Indonesien-Information August 1994/.
Kritische Stimmen in Jakarta werten die reformfreudigen Äußerungen,
die sich im Weißbuch finden, allerdings weniger als Anzeichen eines
tiefgreifenden Sinneswandels beim Militär, sondern sehen darin vielmehr
die Beliebigkeit, mit der Reform, Demokratie und andere Begriffe fünf
Jahre nach Ende der Suharto-Ära benutzt werden. Was ist bloß
aus der Reformasi geworden, wenn sogar die TNI sich darauf beruft? Die
Macht des Militärs zu beschneiden, war seinerzeit eines der wichtigsten
Ziele der Reformbewegung.
Diese Bestrebungen waren nicht völlig erfolglos. Militär
und Polizei, die zuvor in einer Institution (ABRI) vereint waren, wurden
voneinander getrennt. POLRI, die indonesische Polizei untersteht nicht
mehr dem Verteidigungsministerium und wurde durch Beschluss der Beratenden
Volksversammlung (MPR), dem höchsten Verfassungsorgan Indonesiens,
als zuständig für die Wahrung der inneren Sicherheit erklärt.
Dem Militär (TNI) wurde die Aufgabe der Verteidigung zugewiesen –
ein dehnbarer Begriff, wie wir noch sehen werden.
Die zweite nennenswerte Neuerung ist, dass es in Zukunft keine nichtgewählten Parlamentarier mehr geben wird. Im nächsten Parlament, das nach den 2004 anstehenden Wahlen gebildet wird, wird es erstmals keine für das Militär reservierten Sitze mehr geben. Und auch die Regierungsepoche vieler dem Militär angehörender Gouverneure in den Provinzen wird zu Ende gehen, da die Gouverneure nun nicht mehr von Jakarta ernannt, sondern frei gewählt werden.
Diese Reformen sind in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Daraus allerdings zu schließen, die TNI habe ihre Machtstellung verloren oder auch nur an politischem Einfluss eingebüßt, wäre ein Trugschluss. Denn Macht und Einfluss der TNI hängen nur in geringem Maße mit der Bekleidung politischer Ämter zusammen. Weitaus wichtiger sind zwei ganz andere Faktoren: die Territorialstruktur des Heeres und die wirtschaftlichen Aktivitäten der TNI.
Die Territorialstruktur ist ein System, das der zivilen Verwaltung flächendeckend über ganz Indonesien auf allen Ebenen eine militärische Parallelverwaltung gegenüberstellt, die an allen wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Prozessen beteiligt ist. Diese Parallelverwaltung reicht von der nationalen über die Provinz- bis hinunter auf die Dorfebene.
Die wirtschaftlichen Aktivitäten der TNI umfassen legale wie auch illegale Geschäfte. Zu den legalen Unternehmungen gehören Firmen wie beispielsweise die Fluglinie Mandala. Die illegalen Aktivitäten umfassen unter anderem Holzeinschlag und -schmuggel, Schutzgelderhebung, Prostitution und vieles mehr. Schätzungen zufolge entstammen 70 – 75 % der Mittel, die dem Militär zur Verfügung stehen, aus eigenen Quellen. Lediglich 25 – 30 % sind durch den Staatshaushalt abgedeckt.
Wer zahlt, hat das Sagen. Und umgekehrt: solange der Staat nur einen
Bruchteil zum Haushalt des Militärs beiträgt und sich dieses
weit gehend aus eigenen Quellen finanziert, bleiben sämtliche Reformansätze,
die Truppe dem Befehl der Regierung zu unterstellen leeres Gerede. Ein
Militär, das für sich selbst sorgen kann und darf, ist ein Staat
im Staate.
Nach dem Ende des Suharto-Regimes lag das Militär eine Zeit
lang moralisch am Boden. Politiker, Wissenschaftler, Religionsgelehrte,
Nichtregierungsorganisationen und viele andere debattierten über die
Rolle, die die Streitkräfte zukünftig zu spielen hätten.
Inzwischen ist die Moral der Truppe längst wieder hergestellt. Das
Militär strotzt vor Selbstbewusstsein. Mit dem Weißbuch wurde
nun auch die Definitionsgewalt über die eigene Rolle zurückerobert.
Das Weißbuch ist der Versuch einer Positionsbestimmung, die die TNI
in den neuen Staat der Reformasi-Epoche einordnet. Interessanterweise fällt
dabei die Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit einer inneren Erneuerung
der TNI sehr kurz und oberflächlich aus.
Ausgehend von einer sehr sachlichen Analyse der sicherheitspolitischen
Lage auf globaler, regionaler und nationaler Ebene, kommt das Weißbuch
zu dem Schluss, dass eine Bedrohung durch andere Staaten, die Indonesien
einen Krieg aufzwingen könnten, eher unwahrscheinlich ist. Für
die Landesverteidigung im klassischen Sinne gerüstet zu sein ist daher
von untergeordneter Bedeutung.
Gefahr für die Sicherheit des Staates bestehe heute eher durch
„nicht-traditionelle Bedrohungen“ wie Terrorismus, (bewaffnetem)
Separatismus, Schmuggel, Piraterie, Menschenhandel und dergleichen mehr.
Diesen neuen Herausforderungen will sich die TNI mit ganzer Kraft stellen.
Die neue Qualität der nicht-traditionellen Bedrohungen erfordere freilich
auch neue Herangehensweisen, die sich von den Mitteln der klassischen Landesverteidigung
unterscheiden. Es müsse eine Gewichtsverschiebung auf „military
operations other than war” stattfinden.
In idealer Weise verknüpft das Weißbuch somit den globalen
Trend hin zu nicht-kriegerischen Militäroperationen, z.B. im Kampf
gegen den Terror, mit der Wahrung eigener Interessen. Da nämlich die
Akteure, von denen die nicht-traditionellen Bedrohungen ausgehen, sowohl
grenzüberschreitend vom Ausland wie auch aus dem eigenen Land heraus
operieren, versteht es sich, dass die TNI zu deren Abwehr ein solides Netzwerk
aufrechterhalten muss, das sich auf das gesamte Territorium der Republik
erstreckt. Mit anderen Worten: die Territorialstruktur des Heeres ist unantastbar.
Diese geschickte Argumentation macht die TNI für Kritik aus
dem Ausland fast unangreifbar, da fast überall
auf der Welt Tendenzen bestehen, dem Militär neue Aufgaben „other
than war“ zu übertragen. Die Grenzen zwischen nach Außen
gerichteter Landesverteidigung und Sicherheitsaufgaben im Inneren werden
derzeit in vielen Staaten weltweit aufgeweicht, sofern sie dort jemals
bestanden.
Hinter der im Weißbuch – wohl bewusst – schwammig gehaltenen Abgrenzung der TNI zu Aufgaben der Polizei und anderen staatlichen Organen steckt jedoch weit mehr als die Anpassung an einen globalen Trend. Hier geht es vielmehr um ein Austesten von Spielräumen. Wie weit kann die TNI gehen, ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen? Einem Bericht der Jakarta Post zufolge gab General Sudrajat, Direktor im Verteidigungsministerium, zu, dass das Weißbuch dazu gedacht war, die Debatte um die MPR-Beschlüsse neu zu eröffnen, mit denen die Aufgabentrennung zwischen TNI und POLRI festgelegt wurde /Jakarta Post, 9.4.03/.
Es erscheint allerdings eher unwahrscheinlich, dass die TNI darauf aus ist, diese fast schon historisch zu nennenden MPR-Beschlüsse aus dem Jahr 2000 rückgängig zu machen. Der damit verbundene politische Schaden wäre zu groß. Eher dürfte es darum gehen, auszuloten, wie weit das Militär innerhalb der gesetzlich vorgegebenen neuen Rahmenbedingungen in die Aufgabenbereiche anderer Organe vordringen darf. Anstatt zu versuchen, diese Frage juristisch zu klären, versucht die TNI die Gesetzeslage durch die Macht des Faktischen zu ihren Gunsten auszulegen. Solange nicht zweifelsfrei geklärt ist, wie sich „nationale Verteidigung“ genau definiert, wird versucht, den Begriff so weit wie möglich zu interpretieren. Bestehende Spielräume werden besetzt und neue Grauzonen geschaffen. „Es scheint so, als ob das Weißbuch ein Versuch ist, die Unterscheidung zwischen Verteidigung und Sicherheit zu verwischen,“ kommentierte die Jakarta Post /JP, 15.4.03/.
Die TNI beschränkt sich nicht auf die Führung einer theoretischen
Debatte. Nur wenige Wochen nach Erscheinen des Weißbuches wurde über
die von einem Separatismuskonflikt geplagte Provinz Aceh der militärische
Ausnahmezustand verhängt. Es begann die „operasi terpadu“,
eine integrierte Militäroperation, die militärische, politisch-administrative
und humanitäre Mittel beinhaltet. Dabei wird die Grenzziehung
zwischen militärischen und zivilen Handlungen bewusst
überschritten. Somit wurde die Operation in Aceh zur ersten Probe
auf’s Exempel für die im Weißbuch skizzierte Neuorientierung
der Streitkräfte. War dieses Exempel vielleicht sogar so wichtig,
dass deswegen die Suche nach einer friedlichen Lösung für Aceh
am Verhandlungstisch abgebrochen werden musste?
In Kontrast zum Ernst der Lage in Aceh entbehrt das Weißbuch
an diversen Stellen nicht der unfreiwilligen Komik. Dass die TNI beispielsweise
neben Terrorismus und Piraterie auch den illegalen Holzeinschlag und -schmuggel
als eine „nicht-traditionelle Bedrohung“ entdeckt, ist rührend.
Und wieso sich das Militär dazu berufen fühlt, anstelle der Polizei
oder der Forstbehörden dagegen vorzugehen, ist auch bei weitester
Auslegung des Sicherheitsbegriffs nicht nachvollziehbar. Vollends absurd
wird es aber, wenn man indonesischen Forstexperten Glauben schenken darf,
die behaupten, dass der illegale Holzeinschlag zu großen Teilen vom
Militär getätigt wird: dann kürt sich nämlich der Bock
selbst zum Gärtner.
An anderer Stelle treibt der Versuch, die Territorialstruktur des Heeres
– die übrigens nur an einer Stelle explizit beim Namen genant wird
– zu rechtfertigen, Blüten. In Ergänzung der bereits genannten
Argumente wird das Image der TNI als eine dem Volke verhaftete Streitmacht
bemüht, die notwendigerweise aus der Mitte des Volkes heraus agieren
und deshalb überall präsent sein müsse. Diese Begründung
mag den Traditionalisten in den eigenen Reihen geschuldet sein. Peinlich
wird es, wenn die vielen nützlichen Dienste, die die TNI der Gesellschaft
leistet („Bhakti TNI“), angepriesen werden: ob Straßenbau,
Konstruktion von Brücken, Bewässerung oder Schulunterricht in
abgelegenen Regionen – die TNI hilft überall aus, wo Not am Mann ist.
Dank des unter Suharto geschaffenen Programms „ABRI masuk desa“ (die
Streitkräfte gehen aufs Dorf) sind die Soldaten der TNI auch noch
im letzten Winkel präsent und packen selbstverständlich Seite
an Seite mit den Dorfbewohnern mit an, wo immer sie gebraucht werden. Fragt
sich nur, welche pädagogische Ausbildung die Soldaten genießen,
um später als Dorfschullehrer aushelfen zu können.
Bemerkenswert ist ein weiterer Abschnitt des Weißbuches, der
das Machtmonopol des Staates unterstreicht und dem Treiben von Milizen
eine Absage erteilt. Dabei wird freilich nur Bezug genommen auf Gruppen,
wie Laskar Jihad u.a., die mit dem Militär bestenfalls indirekt
verknüpft sind. Die Deutlichkeit, mit der das Milizenwesen abgelehnt
wird, lässt aber kaum Zweifel daran zu, dass damit auch die Bürgerwehren
(Wanra, Pamswakarsa) gemeint sind, die der TNI engstens verbunden
sind und bislang sogar Teil der offiziellen Verteidigungsdoktrin Hansip
(pertahanan sipil; zivile Verteidigung) waren. Das Weißbuch stellt
die Hansip nicht offen in Frage, drückt sich aber davor, klare
Worte zu finden, wie in Zukunft mit den Bürgerwehren zu verfahren
ist. Als Hilfstruppen der TNI finden lediglich die Studentenregimente (Menwa)
explizit Erwähnung; zu Wanra, Pamswakarsa und anderen schweigt
sich das Weißbuch dagegen aus.
Die Frage nach der Zukunft der Milizen ist nicht nur vor dem Hintergrund
zurückliegender Konflikte etwa in Osttimor oder auf den Molukken interessant.
Die im Weißbuch angedeutete Haltung steht auch in Widerspruch zur
gegenwärtigen gängigen Praxis. Gibt es hier möglicherweise
unterschiedliche Ansichten oder Interessen zwischen der Truppe und den
im Ministerium sitzenden Autoren des Weißbuches? Und wie ist der
kürzlich ergangene Aufruf von Präsidentin Megawati zu deuten,
in Aceh Bürgerwehren zu bilden bzw. zu verstärken? /s. Jakarta
Post, Straits Times u. Financial Times vom 2.7.03/ Hat sie das Weißbuch
nicht gelesen? <>
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