Immer mehr Anzeichen deuten darauf hin, dass der zunächst für
sechs Monate verhängte militärische Ausnahmezustand in Aceh verlängert
wird. „Die TNI wird nicht in der Lage sein, die Militäroperation
binnen sechs Monaten zum Abschluss zu bringen,“ sagte Militärchef
Endriartono bereits im Juli. „Die Militäroperation kann ein Jahr,
zwei Jahre oder sogar zehn Jahre dauern.“ /Jakarta Post, 7.7.03/
Mindestens 319 Zivilpersonen kamen seit der Ausrufung des Kriegszustandes in Aceh am 19. Mai 2003 ums Leben, 117 wurden verwundet, 108 gelten als vermisst. Diese Zahlen nannte Polizeisprecher Sayed Hoesaini vor der Presse. Auf Seiten der Unabhängigkeitsbewegung GAM (Gerakan Aceh Merdeka) habe es 816 Todesopfer gegeben, während die eigenen Verluste bei 46 Militärs und 15 Polizisten lägen. /dpa, 5.9.03/
Tatsächlich dürfte die Zahl der zivilen Opfer deutlich höher liegen als von Hoesaini angegeben. Denn selbstverständlich klaffen die Ergebnisse der offiziellen Zählung mit den von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vorgelegten Zahlen auseinander. Die aktuellste dem Autor vorliegende Statistik der Menschenrechtsorganisation Kontras Aceh ist allerdings bereits fast drei Monate alt. In ihr sind die Zahlen des ersten Monats nach Verhängung des Kriegsrechts erfasst. Die Zählung endet am 18. Juni 2003. Damals sprach Kontras Aceh von 176 Todesopfern unter der Zivilbevölkerung. Mehr als zwei Wochen später, am 5. Juli 2003, verkündete Militärsprecher Col. Ditya Soedarsono erstmals Zahlen des Militärs. Danach betrug die Zahl der getöteten Zivilisten damals ca. 150 Personen /Jakarta Post, 5.7.03/.
Anhand dieses Beispiels mag man erkennen, in welchem Maße Zahlenangaben variieren, je nach dem, von welcher Seite sie gemacht werden. In ähnlichem Ausmaß unterscheiden sich auch die Angaben, die über die Zahl der kriegsbedingten Binnenflüchtlinge gemacht werden. Sicher ist nur, dass es sich um mehrere Zehntausend Menschen handelt. Genaue Zahlen kennt wohl niemand. Eine Verifizierung ist aufgrund der harschen Restriktionen, denen sowohl Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen als auch die Presse unterliegen, derzeit nahezu unmöglich.
Unterschiedliche Interpretationen gibt es auch über die Urheber
der Gewalt. Seit Kriegsbeginn seien mindestens 606 Schulen abgebrannt worden,
heißt es nach offiziellen Zahlen /Antara, 4.9.03/. Aber wer war für
die Brandlegungen verantwortlich? Die Kriegspropaganda von Militär
und GAM beschuldigt jeweils die Gegenseite. Das Motiv der GAM könnte
sein, staatliche Schulen mit geringem Aufwand und Risiko stellvertretend
für andere Einrichtungen Indonesiens zu zerstören. Betroffen
sind aber auch etliche von Religionsgemeinschaften unterhaltene Schulen.
Dies legt den Verdacht nahe, dass auch das indonesische Militär (TNI)
gezündelt hat. Das Motiv der TNI könnte sein, die Brandstiftungen
der GAM in die Schuhe zu schieben. Über aufgeklärte oder gar
verhinderte Brandstiftungen an Schulen ist nichts bekannt. Sicher ist nur,
dass diese Art von Kriegsführung dafür sorgen wird, dass die
Folgen des Aceh-Konfliktes noch viele Jahre lang spürbar sein werden:
vielen tausend Kindern wird jegliche Bildungschance genommen, denen somit
das Schicksal droht, eine „lost generation“ zu werden.
Wer derzeit in Aceh versucht, der Wahrheit auf die Spur zu kommen,
lebt gefährlich. Ausländern ist der Zugang in die Region nahezu
völlig versperrt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Pressevertreter
sind nur in Ausnahmefällen und unter zahlreichen Auflagen und Beschränkungen
zugelassen. Die Methoden des – gerade auch in Indonesien – viel kritisierten
amerikanischen Feldzuges gegen Saddam Hussein zum Vorbild nehmend, bietet
die TNI Journalisten die Möglichkeit sich „einbetten“ zu lassen.
Dabei geht sie freilich noch einen Schritt weiter als die USA, indem sie
Wert darauf legt, dass die eingebetteten Journalisten auch Uniform tragen.
Dies setzt die Journalisten erhöhter Gefahr aus, da sie von der GAM
leicht mit Kombattanten verwechselt werden können. Es bewahrt sie
somit auch vor der Versuchung, sich von der Truppe zu entfernen und auf
eigene Faust zu recherchieren – was darauf schließen lässt,
welche Absicht die TNI mit dem Anliegen Uniform zu tragen verfolgt. Sowieso
sind Journalisten dazu angehalten, „im Sinne des Einheitsstaates“
– sprich TNI-freundlich – zu berichten. Zitate der GAM wiederzugeben ist
verboten. (s. auch „Ausländische Korrespondenten sollen draußen
bleiben“ in diesem Heft)
William Nessen vom San Francisco Chronicle ist das einzig bekannte
Beispiel eines Journalisten, der versuchte den entgegengesetzten Weg zu
gehen. Er ließ sich quasi bei den Streitkräften der GAM einbetten,
um aus deren Perspektive berichten zu können. Unter unmissverständlichen
Drohungen der TNI wurde er Ende Juni zur Aufgabe gezwungen und begab sich
in die Hände des Militärs. Er wurde umgehend festgenommen und
musste sich einem Verfahren wegen Visavergehens stellen. Das Urteil lautete
auf 40 Tage Haft, die Nessen Anfang August bereits abgesessen hatte, woraufhin
er freigelassen und des Landes verwiesen wurde. Schlimmer erging es Mitarbeitern
der in Jakarta ansässigen Radiostation 68H, die bei Recherchearbeiten
am 4. Juli von Militärs tätlich angegriffen wurden. Jede Spur
von den Tätern fehlt für den Mord an Mohamad Jamaluddin, Kameramann
beim staatlichen Fernsehen TVRI, der am 17. Juli tot in einem Fluss aufgefunden
wurde. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, Mund und Augen
mit Klebeband verschlossen. Aufgeklärt aber noch nicht gelöst
ist hingegen das Schicksal von zwei Mitarbeitern der Fernsehstation RCTI,
die am 29. Juni zunächst spurlos verschwunden waren. Inzwischen hat
sich die GAM zu ihrer Entführung bekannt. Da öfters Fahrzeuge
mit der Aufschrift „Presse“ für Spionagezwecke verwendet würden,
seien die beiden festgenommen worden, um sie zu verhören. Sie seien
aber unversehrt und würden nach Abschluss der Befragung freigelassen
werden, hieß es /Jakarta Post Online, 3.7.03/. Bis heute befinden
sich die beiden Journalisten jedoch noch immer in der Hand der GAM. Diese
liefert damit der TNI ungewollt die Legitimation für die restriktive
Medienpolitik, die die eingeschränkte Bewegungsfreiheit für Journalisten
unter anderem mit der Sorge um deren Sicherheit begründet. Tatsächlich
ist aber Pressefreiheit für beide Kriegsparteien ein Fremdwort.
Behinderungen ihrer Arbeit und ständige Gefährdung erleben
auch die Mitarbeiter von Menschenrechts-NGOs. Da die GAM die von der TNI
begangenen Menschenrechtsverletzungen als ein wesentliches Argument in
ihrem Kampf um die Unabhängigkeit benutzt und auch einigen NGOs die
Trennschärfe zwischen berechtigter Kritik an Menschenrechtsverletzungen
und der Parteinahme für die Unabhängigkeit abhanden gekommen
ist, geraten Menschenrechtsverteidiger ins Visier des Militärs. In
der einfachen Logik der Ultranationalisten und Militärs lässt
sich dies durch die Formel HAM=GAM auf den Punkt bringen, wobei
HAM für Hak Azasi Manusia, den indonesischen Begriff
für Menschenrechte, steht.
Schon seit Jahren sind Menschenrechtsverteidiger die am meisten gefährdeten Menschen in Aceh. Etliche verloren ihr Leben, viele flohen ins Ausland, um sich in Sicherheit zu bringen. PBI (Peace Brigades International), eine internationale NGO, die versucht gefährdeten Personen in Krisenregionen durch Anwesenheit Schutz zu bieten, ist seit Dezember 2000 in Aceh aktiv und betreut dort eine Reihe lokaler Menschenrechtsgruppen. Doch auch PBI konnte nicht verhindern, dass eine Gruppe von Freiwilligen der Menschenrechtsorganisation PB-HAM in Ost-Aceh entführt wurden. Einer davon wurde später tot aufgefunden.
Am 27. Mai wurden vier Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Koalisi NGO HAM vorübergehend festgenommen und verhört. Am 28. Juni überfielen Polizisten der Spezialeinheit BRIMOB das Büro der Rechtshilfeorganisation LBH Aceh. Bei der Durchsuchung des Büros wurden Türen eingetreten, Schränke aufgebrochen und Akten auf den Boden geworfen. Die Suche galt Mitarbeitern von Kontras Aceh, einer anderen Menschenrechtsorganisation, die vor einiger Zeit eine Bürogemeinschaft mit LBH hatte. Während viele andere NGOs nur vorsichtige Kritik am Vorgehen des Militärs in Aceh äußern, bezog Kontras stets eine klare Position gegen die Militäroffensive. Schlägerbanden, die dem militärnahen Jugendverband Pemuda Panca Marga zugerechnet werden, nahmen dies zum Anlass am 26. und 27. Mai das Kontras-Büro in Jakarta zu attackieren und einige Mitarbeiter krankenhausreif zu schlagen.
Auch die Justiz neigt unter dem gegenwärtigen Kriegszustand zu
Überreaktionen. Ein Gericht in Banda Aceh
verurteilte den Aktivisten Muhammad Nazar zu fünf Jahren Gefängnis,
weil er in verschiedenen Reden gegen die Regierung agitiert haben soll
/Serambi Indonesia, 2.7.03/. Bereits im November 2000 war Nazar wegen des
gleichen Tatvorwurfs zu 10 Monaten Haft verurteilt worden. Nazar ist Vorsitzender
der Gruppe SIRA, die sich für ein Referendum über die Unabhängigkeit
Acehs einsetzt. Mehrfach musste sich SIRA in der Vergangenheit den Vorwurf
gefallen lassen, dabei die Regeln der Neutralität zu missachten. Außer
Frage steht jedoch, dass Muhammad Nazar und SIRA ausschließlich mit
friedlichen Mitteln für ihr Ziel kämpfen. Das unverhältnismäßig
harte Urteil, das am 1. Juli, dem 30. Geburtstag Nazars, gefällt wurde,
rief sogar das US State Department auf den Plan. Dessen Sprecher Richard
Boucher sagte, die USA seien enttäuscht über das Urteil. Der
Verurteilte habe lediglich „von seinem Recht auf friedfertige politische
Betätigung“ Gebrauch gemacht, das vom Pakt über die zivilen
und bürgerlichen Rechte der Vereinten Nationen geschützt sei
/AP, 2.7.03/.
Die geringste öffentliche Beachtung findet ausgerechnet die
größte und am schwersten betroffene Opfergruppe: die Zivilbevölkerung.
Die Freimütigkeit, mit der das Militär den Tod von Hunderten
Zivilpersonen eingesteht, lässt erahnen, wie wenig es fürchten
muss, deswegen auf internationale Kritik zu stoßen. Keine Regierung
stellt das Recht Indonesiens auf territoriale Integrität in Frage.
Dass Indonesien selbige nun mittels eines militärischen Ausnahmezustandes
zu wahren versucht, das die Bürgerrechte außer Kraft setzt und
nahezu sämtliche Entscheidungsgewalt dem Militär überträgt,
wird stillschweigend hingenommen. Dass ein Krieg auch Opfer unter der Zivilbevölkerung
fordert, ist eine Selbstverständlichkeit. Der von den USA in den letzten
Kriegen begangene Versuch, die „Kollateralschäden“ möglichst
gering zu halten, ist in Aceh zum Scheitern verurteilt. Für „chirurgische
Eingriffe“ in die Befehlszentren des Gegners fehlt es der TNI an der
entsprechenden Aufklärungs- und Waffentechnik. Die GAM ist zumindest
teilweise im Volk verankert, sie riskiert aber auch die Sicherheit der
Bevölkerung, indem sie diese als ziviles Schutzschild missbraucht.
Vertreter des Verteidigungsministeriums geben daher offen zu, dass es oft
nicht möglich ist, Mitglieder der GAM von Zivilpersonen zu unterscheiden.
Im Zweifelsfall wird geschossen, denn im Krieg gilt das Motto „to shoot
or to be shot“. Dass die Opfer so harmlose Gestalten sein können
wie der Anfang Juni von Soldaten erschossene deutsche Radfahrurlauber Lothar
Engel, wird bewusst in Kauf genommen. Was zu anderen Zeiten „extralegale
Hinrichtungen“ wären, wird unter den Bedingungen des Kriegszustandes
als unvermeidbare Begleiterscheinung hingenommen. Die Menschenrechte sind
unter dem militärischen Ausnahmezustand außer Kraft gesetzt
– also können sie auch nicht verletzt werden, so die zweifelhafte
Logik. Selbst viele NGOs beschränken sich darauf, für die Militäroperation
die Maßstäbe der Genfer Konvention anzusetzen, die gewisse Mindeststandards
zum Schutz der Zivilbevölkerung in kriegerischen Auseinandersetzungen
festlegt.
Mehr als fraglich ist, wie unter den geschilderten Umständen,
das Ziel erreicht werden soll, die nationale Einheit Indonesiens zu sichern
und Unabhängigkeitsbestrebungen auszurotten. Das ständige Erleben
militärischer Gewalt und Repression ist seit vielen Jahren das Hauptmotiv,
welches Leute in Aceh mit der Unabhängigkeitsbewegung sympathisieren
lässt. „Merdeka“ (Freiheit) heißt für viele nichts
anderes als Freiheit von der Gewalt des indonesischen Militärs. Der
militärische Ausnahmezustand ist mit Sicherheit nicht das geeignete
Mittel, um der Unabhängigkeitsbewegung das Wasser abzugraben. Die
Menschen in Aceh können die derzeitige Operation nur so verstehen,
dass Indonesien sein Territorium geeint sehen möchte – nicht aber
sein Staatsvolk.
„Die Militäroperation tendiert dazu das Ziel zu verfehlen, die Herzen der Bevölkerung zu gewinnen und die Zahl der Opfer gering zu halten,“ meinte M.M. Billah von der staatlichen Menschenrechtskommission Komnas HAM auf einer Pressekonferenz /AP, 4.7.03/. Als der Ausnahmezustand verhängt wurde, hieß es, dies sei der Beginn einer „integrierten Operation“, bestehend aus einer Sicherheitsoperation, Maßnahmen zur Wiederherstellung der staatlichen Ordnung und Regierbarkeit sowie humanitären Aktionen. Die Durchführung der beiden letztgenannten Maßnahmen bleibt aber nach mehr als 100 Tagen praktisch nicht erkennbar. Zur Durchführung der Operation bewilligte das Parlament 1,7 Billionen Rupiah (ca. 180 Mio. €), die sich auf Militär (1,2 Bill.) und Polizei (0,5 Bill.) verteilen /Tempo, 26.5.03/. Für humanitäre Aufgaben sind unterschiedlichen Quellen zufolge lediglich 400-500 Mrd. Rupiah (ca. 42-53 Mio. €) vorgesehen. Diese Mittel werden in erster zur Versorgung der Binnenflüchtlinge sowie zu geringeren Teilen zum Wiederaufbau von Schulen und der Bewältigung anderer direkter Kriegsfolgen verwendet.
Militärische Handlungen bleiben somit das dominante Merkmal dieser
„integrierten Operation“. Präsidentin Megawati Soekarnoputri
erklärte im Fernsehen sogar, man müsse neu über die Bildung
von Bürgerwehrgruppen nachdenken. „Dem Verlangen von Bürgern,
sich selbst zu verteidigen, insbesondere in bestimmten Teilen unseres Landes,
die Sicherheitsprobleme haben, muss einen fester Platz in unserem System
eingeräumt werden,“ sagte sie /Jakarta Post, 2.7.03/. Was in westlichen
Ohren klingt wie eine freiwillige Aufgabe des Gewaltmonopols des Staates
und ein Aufruf zur Selbstbewaffnung, ist tatsächlich fester Bestandteil
der Verteidigungsdoktrin Indonesiens. Gleichwohl werden bei solchen Bemerkungen
Erinnerungen an die Milizen wach, die unter Aufsicht des Militärs
1999 Osttimor in Schutt und Asche legten. Kein sehr beruhigender Gedanke
für die Menschen in Aceh, insbesondere vor dem Hintergrund der völlig
unzufriedenstellenden juristischen Aufarbeitung der damals begangenen Menschenrechtsverbrechen.
Megawati kann sich jedoch sicher sein, dass die harte Linie in Sachen
Aceh ihrer Popularität keinen Schaden antut. Nationalismus kommt gut
an in Indonesien. Sich die schiere Größe des eigenen Landes
vor Augen zu halten tut gut, besonders in schwierigen Zeiten wie der jetzigen,
wo es so wenig gibt, das einen mit Stolz erfüllen könnte. Natürlich
muss dieses Land vor allen Angriffen verteidigt werden! Unzählig sind
die vermeintlichen und tatsächlichen inneren und äußeren
Feinde der nationalen Einheit. Bedrohungsszenarien und Konspirationstheorien
haben Hochkonjunktur. Sie schweißen zusammen, wo es sonst mehr Unterschiede
als Gemeinsamkeiten gibt. Kaum eine Person des öffentlichen Lebens,
die nicht die nationalistischen Gefühle der Bevölkerungsmehrheit
bedienen würde. Gegen die wenigen Querdenker, die es dennoch wagen,
etwa die Operation in Aceh zu verurteilen, lässt sich leicht ein Mob
organisieren, der auf seine Weise erklärt, wo es lang geht. So geschehen
bei den bereits erwähnten Angriffen auf die Menschenrechtsorganisationen
Kontras und PBHI in Jakarta.
In diesem Klima lässt sich auch gegen das Ausland trefflich polemisieren.
Wer würde es wagen, die Verteidigung der nationalen Integrität
– eine rein interne Angelegenheit Indonesiens – zu kritisieren? Das Ausland
hat verstanden. Das Militär nutzt und fördert diese Stimmung.
Fotos von jubelnden Soldaten bei der Einschiffung nach Aceh ließen
Erinnerungen an die Bilder deutscher Soldaten zu Beginn des 1. Weltkrieges
wach werden. Die Sinnkrise, die die TNI nach dem Rücktritt Suhartos
1998 und dem Verlust Osttimors 1999 erlebte, ist längst überwunden.
Das Militär zeigt neue Stärke und darf sich dabei noch der Sympathie
vieler Menschen erfreuen. Die früher für das Militär reservierten
Parlamentssitze konnten getrost aufgegeben werden. In fast allen Parteien
besetzen Militärs inzwischen Spitzenpositionen und dürfen damit
rechnen auch in einem gewählten Parlament angemessen vertreten zu
sein. Promis wie der Koordinationsminister für Sicherheit und Politik,
Susilo Bambang Yudhoyono, können sich aussuchen, von welcher Partei
sie sich ins Rennen um die nächste Präsidentschaft bzw. Vizepräsidentschaft
schicken lassen wollen.
Das Bewusstsein um die eigene Stärke genügt nicht. Stärke
muss auch demonstriert werden. So begann die Militäroperation in Aceh
mit einem mediengerecht inszenierten Paukenschlag: über dem Flughafen
der Stadt Banda Aceh wurden Fallschirmspringer abgesetzt. Unter operativen
Gesichtspunkten war dies sicher unnötig, denn die Soldaten hätten
ebenso gut mit dem Bus oder jedem anderen Verkehrsmittel nach Banda Aceh
reisen können, ohne dass sie jemand ernsthaft daran hätte hindern
können. Ähnliches gilt für den Einsatz britischer Kampfflugzeuge:
sie machen viel Krach, demonstrieren Macht und Entschlossenheit. Zur Jagd
auf Guerilla-Kämpfer sind sie dagegen eher ungeeignet.
Der Einsatz britischen Militärgeräts wie Hawk-Kampfflugzeuge
und Scorpion-Panzer zwang Vertreter der Regierung in London auf den Plan.
Eher unwillig machten sie darauf aufmerksam, dass der Verkauf der Waffensysteme
seinerzeit mit Auflagen versehen war. Die indonesische Regierung habe zugesagt,
das britische Militärgerät nicht in Aceh oder gegen Zivilpersonen
anderswo in Indonesien einzusetzen, um diese von der Ausübung ihrer
elementaren Bürgerrechte abzuhalten. Falls die Waffen wider Erwartens
doch in Aceh eingesetzt werden sollten, habe die indonesische Regierung
zugesagt, Großbritannien vorher von dieser Absicht zu unterrichten.
Mike O'Brien, Unterstaatssekretär im britischen Außenministerium,
stellte in der Antwort auf eine Kleine Anfrage im Parlament befriedigt
fest, dass die Indonesier diese Verpflichtung eingehalten hätten:
sie haben vorher Bescheid gesagt. /Antwort von Mike O'Brien, Parliamentary
Under Secretary of State at the Foreign Office am 12. June 2003 auf Fragen
des Abgeordneten Jeremy Corbyn/
Während der Unterstaatssekretär umständlich zu begründen
versuchte, dass sich die indonesische Seite doch irgendwie an die Vertragsbedingungen
halte und britisches Militärgerät nicht dazu benutzt werde, um
damit Menschenrechtsverletzungen zu begehen, fand Armeechef Endriartono
Sutarto bereits am zweiten Tag der Offensive klarere Worte: „Ich werde
einsetzen, worüber ich verfüge. Schließlich habe ich bereits
bezahlt.“ /The Guardian, 22.5.03/
Es scheint so, als ob die TNI die Operation in Aceh auch dazu benutzt, Grenzen auszutesten und nach Möglichkeit zu ihren Gunsten zu verschieben. Denn bestimmte Restriktionen bezüglich der militärischen Zusammenarbeit und der Lieferung von Waffen, die seitens der USA wegen Osttimor erhoben wurden, wurden bis heute nicht widerrufen. Waffenlieferungen aus Großbritannien, Deutschland und anderen Staaten waren an Bedingungen geknüpft. Diese gilt es nun aufzuweichen, um schließlich auch von den USA wieder als ganz normaler Partner angesehen zu werden. Wegen des Mangels an Ersatzteilen für Kampfflugzeuge aus den USA ist ein größerer Teil der indonesischen Luftwaffe nicht einsatzfähig.
Unter ähnlichen Bedingungen hatte bis vor kurzem die indonesische Marine zu leiden. Anfang der 90er Jahre kaufte der damalige Forschungs- und Technologieminister Habibie in Deutschland 39 Kriegsschiffe aus Beständen der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR (NVA). Der Deal war begleitet von Protesten deutscher Friedens- und Menschenrechtsgruppen, denen es sogar gelang, vier der Schiffe vor ihrer Auslieferung im Hafen von Peenemünde zu besetzen. Auch Politiker der damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne übten Kritik am Verkauf der Schiffe. Die Regierung Kohl/Kinkel rechtfertigte den Verkauf unter Verweis auf die vertraglichen Verpflichtungen, die Indonesien eingegangen sei: "Der Käufer verpflichtet sich, die Vertragsgegenstände nur zum Zwecke des Küstenschutzes, der Seewegsicherung sowie zur Bekämpfung von Schmuggel, insbesondere im Bereich des Drogenhandels und der Piraterie, zu nutzen," heißt es im Kaufvertrag.
Wie das TV-Magazin Monitor berichtete, gewährte die rot-grüne
Bundesregierung unlängst die Lieferung von neuen Schiffsmotoren für
die maroden Kähne, von denen ein Großteil nicht mehr einsatzfähig
war. Die Lieferung wurde mit einer Hermes-Bürgschaft abgesichert.
Und frei nach dem Motto „was wir haben, das wird auch eingesetzt“, waren
die wieder flott gemachten deutschen Schiffe vom ersten Tag der Militäroffensive
an im Einsatz. Filmaufnahmen zeigten die KRI Teluk Gilimanuk im Hafen von
Lhokseumawe, wo sie offensichtlich Truppen und Material an Land gebracht
hat. /ARD-Monitor, 19.6.03/
Admiral Kent Sondakh, Stabschef der indonesischen Marine, hat darauf
eine einfache Antwort: „GAM can be categorized as pirates," erklärte
er und stellte somit klar, dass sich der Einsatz der Schiffe im Rahmen
der vertraglichen Vereinbarungen bewege /Tempo, 1-7.7.03/. Zuvor hatte
Deutschlands Botschafter in Indonesien Sondakh besucht. Nach Angaben des
Auswärtigen Amtes in Berlin habe das Treffen dem Informationsaustausch
zum Einsatz der Ex-NVA-Schiffe gedient, über Einzelheiten sei Stillschweigen
vereinbart worden. Einen Protest von deutscher Seite habe es nicht gegeben.
„Die Bundesregierung evaluiert die vorliegenden Informationen im Lichte
der vertraglichen Vereinbarungen“, erklärte eine Außenamtssprecherin
/Mitteilung von Moritz Kleine-Brockhoff, Korrespondent in Jakarta, 6.7.03/.
Die Bundesregierung evaluiert, anstatt Protest einzulegen. Ohne
von dieser Position abrücken zu wollen, machte Kerstin Müller,
Staatsministerin im Auswärtigen Amt anlässlich eines Indonesienbesuches
Mitte Juli jedoch deutlich, dass es nach Auffassung der Bundesregierung
keine militärische Lösung des Aceh-Konfliktes geben könne.
Die Bundesregierung bedauere das Scheitern des Waffenstillstandsabkommens
(COHA) und dränge die indonesische Regierung, an den Verhandlungstisch
zurückzukehren /detik.com, 15.7.03/.
Die selbe Forderung war zuvor bereits in einer Resolution des Europaparlamentes erhoben worden. Das Europaparlament forderte außerdem die GAM auf, ihre Ziele durch einen demokratischen Prozess zu verfolgen. Die GAM solle ihre Waffen ablegen und die TNI sich zurück ziehen. Das Europaparlament fordert Regierung und GAM auf, den Schutz von Menschenrechtsverteidigern sowie Zugang für diese sicherzustellen und dem UN-Sonderberichterstatter zu Menschenrechtsverteidigern einen Besuch zu gestatten; die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. /Resolution des EP vom 5.6.03/
Deutliche Ermahnungen ähnlichen Inhaltes waren auch von UN-Generalsekretär Kofi Annan sowie dem stellvertretenden US-Verteidigungsminister, Paul Wolfowitz, verlautbart worden. /Jakarta Post online, AP u. Reuters, 30.5.03/.
Ausgerechnet Wolfowitz! Vor wenigen Monaten hatten in Indonesien noch Hunderttausende gegen den Krieg im Irak demonstriert, der nicht zuletzt von Wolfowitz massiv vorangetrieben wurde. Für viele Indonesier war es ein selbstverständlicher Akt der Solidarität mit Iraks mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, gegen diesen Krieg auf die Straße zu gehen. Aber wo sind diese Massen geblieben? Gegen den Krieg im eigenen Land, unter dem ebenso wie im Irak muslimische Brüder und Schwestern zu leiden haben, haben die meisten ehemaligen Kriegsgegner offenbar keine Einwände. Dem Vorsitzenden der größten islamischen Massenorganisation Nadhlatul Ulama und Präsidentschaftskandidaten der Partei PKB, Hasyim Muzadi, der zu den schärfsten Kritikern des US-Feldzuges im Irak gehörte, fiel zu Aceh nicht mehr ein als die GAM aufzufordern, die Waffen niederzulegen und zur „Einheitsrepublik Indonesien zurückzukehren“ /Jakarta Post, 22.6.03/. Ermahnungen oder kritische Worte in Richtung der TNI waren aus Muzadis Munde nicht zu vernehmen.
Eine rühmliche Ausnahme stellt der Vorsitzende der Muhammadiyah,
der zweiten bedeutenden islamischen Massenorganisation, dar. Syafi'i
Ma'arif forderte ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen sowie die Bildung
und Entsendung einer unabhängigen Untersuchungsmission. „Es muss
eine andere Lösung gefunden und der Krieg muss beendet werden. Der
zurzeit stattfindende Krieg in Aceh löst die Probleme
nicht und macht die Situation für die Menschen in Aceh nur noch schlimmer,“
sagte er gegenüber Journalisten in Solo. Ma’arif machte auch seine
Meinung über die Propagandameldungen des Militärs deutlich: „Wie
ist es möglich, dass die Zahl [der GAM-Kämpfer] in solch einer
kurzen Zeit von 5.000 auf 700 gefallen ist [wie behauptet wurde]? Wir haben
die Zahl der Getöteten gesehen, die Zahl derjenigen, die sich ergeben
haben und die Zahl derer, die festgenommen wurden. Aus diesen Angaben ergibt
sich nicht die jetzt vom Stabschef der Armee angegebene Zahl.“ /detik.com,
3.7.03/. Für Leser, die nachrechnen möchten, hier die Gleichung,
deren Richtigkeit Ma’arif in Frage stellt:
5.000 (GAM-Kämpfer) – 325 (getötete) – 258 (gefangene) –
256 (sich ergebende) = 700 (verbleibende GAM-Kämpfer)
Verständnisvoll zeigte sich neben Ma’arif und einigen anderen auch Armeechef Endriartono. „Ich verstehe, dass die Leute dort nicht unter der Militäroperation in Aceh leiden sollten. [...] wir (TNI) haben Leute gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und zu fliehen, während Soldaten versuchten, den Rebellen auf die Spur zu kommen, die häufig versuchen, sich unter Zivilisten in ihren Dörfern zu mischen. [...] Selbst wenn Flüchtlinge nur drei oder vier Tage in den Camps blieben, fanden sie ihre Häuser niedergebrannt wieder, wenn sie zurückkehrten. Ich bitte dafür um Entschuldigung. Ich will nicht, dass Leute derart große Opfer geben [müssen].“ /Jakarta Post, 26.7.03/
Die Menschen in Aceh haben schon viele Entschuldigungen gehört.
<>
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