Suara Nr. 2/2007 (Menschenrechte)

 

Barbarei und Paranoia:

 

Indonesiens Staatsanwalt verbrennt Geschichtsbücher

 

von Fabian Junge


Seit zwei Monaten verbrennt Indonesiens Staatsanwaltschaft in aller Öffentlichkeit Geschichtsbücher. Mindestens 30.000 Bücher gingen in den letzten zwei Monaten in einem pogromartigen Akt der Barbarei in Flammen auf. Begründung: die Schulbücher weichen von der unter Ex-Diktator Suharto geprägten Version der Nationalgeschichte ab. Damit zeigt die Behörde von Generalstaatsanwalt Hendarman Supanji, dass die unter der „Neuen Ordnung“ geprägte antikommunistische Paranoia auch ein Jahrzehnt nach Suhartos Rücktritt und 18 Jahre nach Ende des Kalten Krieges das Staatshandeln mitbestimmt.
 

Mit den Bücherverbrennungen vollstreckt die Staatsanwaltschaft ein Dekret vom 5. März 2007, das von Staatsanwalt Muchtar Arifin verkündet wurde. In diesem verbietet er 13 Schulbücher von 10 unterschiedlichen Verlagen, weil sie die kommunistische Rebellion in Madiun 1948 nicht behandeln und in den Abschnitten über den Putschversuch der „Bewegung 30. September“ im Jahre 1965 nicht das offizielle Kürzel „G30S/PKI“ verwenden. Das Verbot wurde erteilt, nachdem Erziehungsminister Bambang Sudibyo den Generalstaatsanwalt anhielt, besagte Bücher zu überprüfen. Laut Sudibyo widersprechen die Schulbücher „anerkannten Wahrheiten.“ Dies könne zu öffentlichen Unruhen führen und gefährde die nationale Sicherheit und Einheit. Seitdem wurden in allen Teilen Indonesiens Zehntausende der sich bereits auf dem Markt befindlichen Bücher konfisziert. Seit zwei Monaten brennen sie vor den Büros der lokalen Staatsanwälte in Westjava, Zentraljava und Südsulawesi. Der Bürgermeister von Depok, Nur Mahmudi Ismail (PKS), ließ es sich nicht nehmen, den örtlichen Verbrennungen voller Stolz beizuwohnen. Andere Fälle, in denen Politiker versucht haben, die Verbrennungen für „PR-Zwecke“ zu nutzen, sind nicht bekannt.

Bei dem Verbot beruft sich die Staatsanwaltschaft auf ein Gesetz, das die Verbreitung von kommunistischem Gedankengut unter Strafe stellt. Das 1999 verabschiedete Gesetz über Verbrechen gegen die Staatssicherheit (Gesetz Nr. 27/1999) überträgt zentrale Paragraphen des etwa zeitgleich abgeschafften Anti-Subversionsgesetzes in das indonesische Strafgesetzbuch. Es stellt die Verbreitung von Marxismus-Leninismus und Kommunismus, die Gründung einer Organisation zu diesem Zwecke und Aktivitäten zur Veränderung oder Zersetzung der Staatsideologie Pancasila unter drakonische Strafen. Die Gummiparagraphen des Anti-Subversionsgesetzes bildeten ein zentrales rechtliches Unterdrückungsinstrument des Suharto-Regimes. Dass man sie noch während der Reformasi ins Strafgesetzbuch übernahm und bis heute zur Repression benutzt, verringert die Qualität der indonesischen Demokratie.

Heftige Kritik an den Verbrennungen kam von einem spontanen Zusammenschluss von Personen aus Zivilgesellschaft und Politik, die am 7. August unter dem Namen „Liebhaber von Büchern und Demokratie“ eine Protestveranstaltung organisierten. Prominente Persönlichkeiten wie Jesuitenpater und Philosophieprofessor Franz Magnis-Suseno, Autorin Ayu Utami, Ridha Saleh von der nationalen Menschenrechtskommission (Komnas HAM), und Ganjar Pranowo, Fraktionssekretär der Demokratischen Partei Indonesiens – Kampf (PDI-P) verurteilten die Aktion des Generalstaatsanwaltes in aller Schärfe: Sie stellen „eine Barbarei dar, die man nicht zulassen darf ohne sie zu bekämpfen,“ so Magnis-Suseno. Laut Komnas HAM-Mitglied Ridha Saleh hat „der Staat das Recht der Menschen auf Informationsfreiheit verletzt“. Setia Dharma Madjid, Vorsitzender der Vereinigung indonesischer Verleger, beklagt, dass „die Verlage durchsucht werden als seien sie Drogenumschlagplätze.“ Die Durchsuchungen würden sogar im Fernsehen ausgestrahlt. „Dabei wird der Eindruck vermittelt, die Verleger seien ein Haufen von Geschichtsverdrehern“, so Madjid.

Verbot und Verbrennungen sind Ausdruck eines seit Suhartos Rücktritt stattfindenden Kampfes um die Deutungshegemonie über die indonesische Geschichte. Während der „Neuen Ordnung“ dienten Geschichtsschreibung und –unterricht der Fundierung der herrschenden Ideologie und damit der Machtsicherung des Regimes. Eine kontroverse Diskussion wichtiger historischer Ereignisse war verboten, hätte sie doch die Darstellung von Suharto und Militär als Retter der Nation und Garanten für Stabilität, Ordnung und Entwicklung untergraben. Die Ereignisse vom 30. September 1965 waren zentraler Bestandteil der von Suharto etablierten hegemonialen Geschichtsversion. Diese macht die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI) für den an diesem Datum verübten Putschversuch einer Gruppe Sukarno-treuer Offiziere verantwortlich. Die Offiziere entführten sechs politisch einflussreiche Generäle, brachten sie zur Luftwaffenbasis Halim und töteten sie dort. Suharto, der in dem entstandenen Machtvakuum das „Mandat zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung“ an sich riss, nutzte die neu gewonnene Kontrolle über die Medien, um die PKI als dalang (Strippenzieher) des Putsches darzustellen. Sie sei eine Partei gottloser, dämonischer Verräter, die das Vaterland mit einem bewaffneten Aufstand in Chaos und Elend stürzen wolle. Nur die Armee unter der Führung Suhartos sei in der Lage, Indonesien von der „kommunistischen Bedrohung“ zu befreien. Das Trauma der auf den Putschversuch folgenden Massaker an angeblichen oder tatsächlichen Kommunisten, denen 500.000 bis 1 Mio. Menschen zum Opfer fielen, wurde zur Grundlage einer Herrschaft der Angst. Das bewusst verbreitete Gefühl einer anhaltenden „kommunistischen Bedrohung“ trotz faktischer Eliminierung der PKI ermöglichte die Stigmatisierung und Unterdrückung Oppositioneller als „kommunistische Verräter“.

Neben der Suharto-Version der Ereignisse vom 30. September 1965 diente auch die Madiun-Affäre von 1948 als „Beweis“ für die Bedrohung, die von der kommunistischen Ideologie ausgehe. Eine Miliz aus linksgerichteten, von der PKI-Führung unterstützten Unabhängigkeitskämpfern hatte damals gegen ihre Eingliederung in die nationale Armee rebelliert. Der als „kommunistischer Verrat“ abgestempelte Aufstand wurde jedoch von der Siliwangi-Division der Armee niedergeschlagen.

Nach dem Fall Suhartos im Jahr 1998 veröffentlichten Opfer des Regimes und unter Suharto unliebsam gewordene Politker und Militärs ihre eigenen Versionen der Geschichte. Dort stellten sie die offiziellen Erzählungen wichtiger historischer Ereignisse in Frage. Zu dem Putschversuch 1965 gibt es mindestens fünf Versionen, von denen aber keine endgültig wissenschaftlich bewiesen ist. Dennoch halten Vertreter der alten autoritären Elite und des konservativen muslimischen Lagers an der Version der „Neuen Ordnung“ fest. In Bezug auf den 30. September 1965 und die nachfolgenden Gräueltaten würde ein Wandel in der offiziellen Geschichtsschreibung die Mitschuld dieser Gruppen an schweren Menschenrechtsverletzungen offen legen, was unweigerlich Legitimitäts- und damit Machverluste zur Folge hätte. Dass es bei dem Streit um die Geschichte um den Machterhalt der alten Elite der „Neuen Ordnung“ geht, bestätigt Politikwissenschaftler Arbi Sanit von der Universität Indonesien: „Sie haben ein Interesse daran, die PKI als Sündenbock zu behalten“, sagt er. „Diese Leute haben Angst, dass Suharto als Hauptverantwortlicher für die Tragödie beschuldigt wird.“ Auch fürchtet Indonesiens alte (Militär-)Elite eine Thematisierung der Massenmorde von 1965/66 und der Schuld Suhartos und der Armee an dieser Tragödie. Dann stünde das Militär nämlich nicht mehr als Retter, sondern als Feind des Volkes da und bekäme Probleme, seine ungebrochene Machtposition zu legitimieren. Um dies zu verhindern versucht die alte Elite, jegliche Änderung der offiziellen Geschichtsschreibung zu unterdrücken.

Schon vor den Verbrennungen übte die „Gemeinschaft für indonesische Geschichte“, ein Zusammenschluss aus NGOs, Lehrern und Historikern, heftige Kritik an den Buchverboten. Sie beklagte die absurd erscheinende Begründung für die Verbote. Ein Teil der verbotenen Geschichtsbücher ist nämlich für die erste und zweite Klasse der Gymnasialstufe bestimmt. In diesen werden aber zeitgeschichtliche Themen wie die Madiun-Affäre und die Ereignisse von 1965 noch gar nicht behandelt. Das Kurrikulum sieht für diese Klassen nur die Vermittlung der Geschichte der alten Königreiche und der Kolonialzeit vor. Und ein Teil der Bücher, die für die dritte Oberstufenklasse bestimmt sind, behandeln sehr wohl die Madiun-Affäre und benutzen das Kürzel G30S/PKI. Damit liegen sie voll auf der Linie der Geschichtsschreibung der „Neuen Ordnung“. Warum also das Verbot, das zudem noch eigenmächtig und ohne Gerichtsverhandlung vom Staatsanwalt verhängt wurde? Für den Historiker Asvi Warman Adam ist klar, dass Generalstaatsanwalt und Erziehungsministerium auf Druck von weiterhin einflussreichen Elementen des Suharto-Regimes gehandelt haben. Die „Gemeinschaft für indonesische Geschichte“ sieht das ähnlich: Das Ministerium habe dem Staatsanwalt die Überprüfung der Bücher übertragen, um „die Forderung mehrerer Personen aus der Elite, wie Jusuf Hasyim, zu erfüllen.“ Hasyim, muslimischer Geistlicher und Führer der islamischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama, hatte sich öffentlich über das Auftauchen von Schulbüchern in Ostjava beschwert, welche die Madiun-Affäre nicht behandeln.

Darüber hinaus bemängelt die „Gemeinschaft“ den wirtschaftlichen Schaden für die Verlage, welche die bereits gedruckten und auf den Markt gebrachten Bücher nun nicht verkaufen dürfen. Auch für die Eltern der betroffenen Schüler entstehen hohe Kosten. Schulbildung ist teuer in Indonesien, und viele Familien müssen sich die Anschaffung von Schulbüchern vom Mund absparen. Die jetzt verbotenen Bücher dürfen sie nicht mehr besitzen, teure Neuanschaffungen sind nötig.

Die indonesischen Schüler wird das Verbot vor allem verwirren. Im Geschichtsunterricht lernen sie jetzt wieder aus den Schulbüchern der „Neuen Ordnung“, dass die PKI als Organisation hinter dem Putsch der „Bewegung 30. September“ steckte. Laut dieser Erzählung wäre das Land im Chaos versunken, hätte nicht Suharto als „Retter der Nation“ den Coup verhindert und die Macht übernommen. Das Kürzel „G30S/PKI“ (Bewegung 30. September / Kommunistische Partei Indonesiens) wurde von Suharto als Chiffre für diese von Historikern in Frage gestellte Geschichtsversion geprägt. Dass Suharto direkt nach der Beendigung des Putsches einen der größten Massenmorde der Nachkriegsgeschichte angeordnet hat, wird in den Schulbüchern natürlich nicht erwähnt. Dennoch sind die Massenmorde und auch die unterschiedlichen Versionen über die Hintergründe des Coups, die unter anderem Indonesiens ersten Präsidenten Sukarno, die CIA, militärinterne Machtkämpfe und sogar Suharto selbst verantwortlich machen, den Schülern nicht unbekannt. Denn zum einen wird das Thema seit dem Ende der „Neuen Ordnung“ immer wieder in den Medien behandelt. Zum anderen waren die Schüler kurzzeitig, nach der Revision des Kurrikulums im Jahre 2004, auch im Geschichtsunterricht angehalten, die verschiedenen Versionen der Ereignisse zu kennen und miteinander zu vergleichen. Dass sie jetzt wieder brav den Geschichtskanon der „Neuen Ordnung“ auswendig lernen müssen, um eine gute Note zu schreiben, wird auch Indonesiens Schülern paradox vorkommen.

Den Bücherverbrennungen war ein Streit über das überarbeitete Kurrikulum aus dem Jahr 2004 vorausgegangen. Unter der Präsidentschaft Megawatis hatte der damalige Erziehungsminister Abdul Malik Fadjar ein neues Geschichtskurrikulum ausarbeiten lassen. Für die Ereignisse des 30. Septembers 1965 wurde nicht die PKI allein verantwortlich gemacht, sondern auf die heftigen ideologischen und sozialen Konflikte jener Zeit verwiesen. Das Kurrikulum sah die Behandlung verschiedener Versionen der Ereignisse vor und sollte die Schüler zu eigenständigem Denken anregen. Nachdem Susilo Bambang Yudhoyono (SBY) – dessen Schwiegervater Sarwo Edhie Wibowo 1965 übrigens das Gros der Massaker in Zentraljava verübte – zum Präsidenten gewählt wurde, zog der neue Erziehungsminister Bambang Sudibyo das 2004er Kurrikulum zurück. Auch er begründete diesen Schritt damit, dass das Kurrikulum die Madiun-Affäre auslasse und die Schuld an den Ereignissen vom 30. September 1965 nicht ausschließlich der PKI zuschiebe. Der Historiker Taufik Abdullah warnte schon damals vor einer „Glaubwürdigkeitslücke“ des Erziehungssystems gegenüber den Schülern.

Im Herbst letzten Jahres dann wurden der Leiter der Kurrikulumsabteilung des Erziehungsministeriums, Diah Harianti, und sein Vorgänger Siskandar, von Staatsanwalt Muchtar Arifin vorgeladen. Die Bücherverbrennungen bilden nun einen vorläufigen Höhepunkt von Arifins Repressionsmaßnahmen gegen Vertreter einer liberaleren Geschichtspolitik. Als Belohnung für seinen zweifelhaften Eifer wurde Arifin mittlerweile zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt befördert.

Um den Streit über das Kurrikulum beizulegen, fordert Historiker Asvi Warman Adam einen neuen Basistext für die nationale Geschichtsschreibung und –erziehung. Das Manuskript, das der offiziellen Geschichtsschreibung und auch den Schulbüchern zugrunde liegt, ist immer noch die 1974 von Militärhistoriker und Suharto-Anhänger Nugroho Notosusanto verfasste „Nationalgeschichte Indonesiens“. Das Standardwerk lieferte die historische Basis der Ideologie der „Neuen Ordnung“ und stand damit ganz im Dienste des Machterhalts des Regimes. Es verbreitete herrschaftssichernde Mythen, etwa von der Schuld der PKI an dem Putschversuch 1965 und von der Verstümmelung der damals entführten Generäle bei okkulten Ritualen der PKI-nahen Frauenorganisation Gerwani. Auch forcierte es die fast schon kultische Verehrung Suhartos als Retter der Nation und „Vater der Entwicklung“. Ein neuer Basistext könnte die Verwirrung von Geschichtslehrern und Schülern beenden und die Grundlage für einen ehrlicheren, demokratischen Umgang mit der Geschichte bilden.

Ob dieser Vorschlag in naher Zukunft Gehör finden wird, ist jedoch fragwürdig. Die Aufhebung des 2004er Kurrikulums und jetzt die Bücherverbrennungen zeigen, dass die alte Elite, die das Ende der „Neuen Ordnung“ überlebt hat, seit der Machtübernahme von Präsident SBY ihre Position gefestigt hat. Ihr borniertes Festhalten an der Suharto-Version der Ereignisse vom 30. September 1965 und den nachfolgenden Massakern wird erleichtert durch die in der indonesischen Gesellschaft weit verbreitete antikommunistische Paranoia. Denn auch 18 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und über 40 Jahre nach der Zerstörung der PKI in einem der dunkelsten Kapitel indonesischer Geschichte wird immer wieder eine akute Bedrohung durch die als „teuflisch“, „gottlos“ und „grausam“ geltenden Kommunisten heraufbeschworen. Das Trauma der Gewalt von 1965/66 und die geschichtliche Indoktrinierung unter Suharto haben wenig von ihrer Wirkung verloren. Schlechte Aussichten also für eine Neuinterpretation der Geschichte. Dabei wäre gerade dies ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Schulbildung, welche nicht stupiden Gehorsam, sondern die Mündigkeit und damit die Demokratiefähigkeit der Bürger zum Ziel hat.

Die Bücherverbrennungen zeigen, dass die antikommunistische Paranoia des Suharto-Regimes nichts von ihrem Einfluss verloren hat. Allein die Erwähnung des Kürzels PKI verführt die Behörden zu unverhältnismäßigem und antidemokratischem Verhalten. 9 Jahre nach Suhartos Rücktritt ist die Propaganda der „Neuen Ordnung“ immer noch stärker als rationales Handeln und der Respekt vor demokratischen Grundrechten wie der Meinungs- und Informationsfreiheit. Bevor Indonesien seine Geschichte nicht neu interpretiert, die Gewalt der „Neuen Ordnung“ verurteilt und ihre Ideologie entkräftet, wird sich daran wenig ändern. Höchste Zeit, dass sich Staat und Gesellschaft der Suharto-Vergangenheit stellen. Sonst bleiben die seit 1998 errichteten demokratischen Institutionen ein nur schwaches Bollwerk gegen Gewalt und Autoritarismus. <>
 
 

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