Wer gehört zum Islam und wer nicht? Die Debatte um den Status
der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyah ist Teil einer inner-religiösen
Auseinandersetzung und gleichzeitig entscheidend für Fragen der Religionsfreiheit,
des Verhältnisses zwischen Religion und Politik sowie der Demokratisierung
in Indonesien. Per Erlass des Generalstaatsanwalts, des Religions- und
des Innenministers soll die Glaubensgemeinschaft wegen Blasphemie verboten
werden. Aufgrund der Gewalt, die Ahmadiyah-Mitglieder bereits erfahren
haben, und der Unsicherheit, die sie in Folge eines Verbots zu erwarten
haben, baten sechs Anhänger der Ahmadyiah bereits in australischen
und deutschen Konsulaten um Asyl.
Das geplante Verbot
Berater des Präsidenten führen hitzige Gespräche im Präsidentenpalast, Aktivisten protestieren auf der Straße und die Presse berichtet täglich: Es geht um die islamische Strömung Ahamdiyah. Die Gemeinschaft läuft Gefahr, von der indonesischen Regierung verboten zu werden. Die Gemeinschaft stößt auf Ablehnung durch Hardliner in der Bevölkerung. Sowie zuletzt im April dieses Jahres im west javanischen Sukabumi wurden in den letzten Jahren Moscheen der Ahmadiyah niedergebrannt und angegriffen, das Bildungszentrum sowie Wohngebiete wurden von gewaltbereiten Mobs aufgesucht. In Lombok mussten im Jahr 2002 etliche Gemeinden vor Angriffen fliehen und leben immer noch als Flüchtlinge auf Bali in elenden Verhältnissen. Ein Verbot der Ahmadiyah würde bedeuten, dass Angehörige der Gemeinschaft im Alltag noch mehr Diskriminierung erfahren würden. Menschenrechtsorganisationen warnen davor, dass die Gewalt gegenüber der Gruppe eskalieren könnte und sie als Marginalisierte noch weniger Schutz genießen würden. Bei den bisherigen Übergriffen wurde der Polizei bereits vorgeworfen, nicht genügend Schutz gewährleistet zu haben.
Die Ahmadiyah versteht sich als Reformbewegung innerhalb des Islam, ihre Mitgliederzahl in Indonesien wird auf zwischen 200.000 und zwei Millionen Anhängern geschätzt. Jahrzehntelang existierte die Ahmadiyah friedlich neben anderen religiösen Gruppierungen. Religiöse Führer der Ahmadiyah lehren seit dem Jahr 1924 in Indonesien, Rechtsstatus hat die Organisation seit dem Jahr 1953. Einige führende Personen der Ahmadiyah haben aktiv im Unabhängigkeitskampf mitgewirkt.
Im Jahr 1984 verfasste der muslimische Gelehrtenrat (MUI) eine Fatwa, die eine bestimmte Glaubensrichtung der Gemeinschaft, die Qadian-Bewegung, als un-islamisch bezeichnete. Es begann eine Diskussion um den Status der Ahmadiyah, die bis in die Gegenwart sowohl auf religiöser, als auch auf politischer Ebene geführt wird. Orthodoxe muslimische Gruppierungen werfen der Ahmadiyah vor, den Propheten Mohammed nicht als letzten Propheten anzuerkennen. Der Gründer der Gemeinschaft Mirza Ghulam Ahmad verstand sich selbst als Reformer seiner Zeit sowie als die von Mohammed vorausgesagte Heilsgestalt des Mahdis und die des christlichen Messias in einer Person. Er brach in unterschiedlichen Punkten mit der muslimischen orthodoxen Lehre, jedoch ohne die zentralen islamischen Werte und die kanonischen Quellen zu verwerfen. Die Lehre der Ahmadiyah fußt auf dem islamischen Modernismus, d.h. auf den Ideen, dass Vernunft zur Beantwortung religiöser Fragen geboten ist und dass Religion sich in neuen Zeitaltern reformieren muss.
Die Anhängerschaft Mirza Ghulam Ahmads spaltete sich in der Frage, ob Ahmad selbst Prophet sei oder nicht. Während eine westlich gebildete Minderheit, die Lahore-Bewegung, den Gründer der Gemeinschaft nicht als Prophet, sondern lediglich als Erneuerer betrachtete, führte die Zuschreibung des Prophetentums durch die Qadian-Bewegung zur Ausgrenzung und Verfolgung der Bewegung in Pakistan und einigen arabischen Ländern. Als moderne Reformbewegung des Islam verzeichnet die Ahmadiyah beachtliche – stets friedliche – Missionierungserfolge und ist insbesondere auch in Europa in der telekommunikativen Verbreitung ihrer Lehre sehr aktiv.
Die Debatte um den Status der Ahmadiyah wird in Indonesien heute hitziger denn je geführt, und zwar bis in die Regierungsebene. Im Jahr 2005 sprach der Gelehrtenrat eine zweite Fatwa gegen die Gruppierung aus, auf die eine Empfehlung der Behörde zur Beobachtung religiöser Aktivitäten (Bakor Pakem) folgte, die sich für das Verbot der Gemeinschaft aussprach. Daraufhin führte das Religionsministerium einen „Dialog“ mit den religiösen Führern der Ahmadiyah und forderte, die Gemeinschaft müsse Mohammed als letzten Propheten anerkennen, um offiziell eine islamische Gemeinschaft zu bleiben. Im Januar 2008 unterzeichneten die religiösen Führer der Ahmadiyah ein 12-Punkte-Programm, das die Anerkennung Mohammeds als letzten Propheten und die Bekennung zu den muslimischen Werten beinhaltete. Ein vom Religionsminister einberufenes Team zur Beobachtung der Implementierung des 12-Punkte-Plans befand im April jedoch, der Plan sei nicht konsequent umgesetzt worden, woraufhin Bakor Pakem sich am 16. April erneut gegen die Gemeinschaft aussprach und anordnete, dass die Ahmadiyah jegliche Aktivitäten einstellen solle. Seitdem wird um einen geplanten Erlass durch den Generalstaatsanwalt, den Religions- und den Innenminister heftig debattiert. Dieser soll das Verbot der Gemeinschaft auf der Grundlage eines Blasphemie-Erlasses von 1965 bestätigen. Obwohl der Gelehrtenrat und Politiker wie der Vizepräsident Jusuf Kalla zu Gewaltlosigkeit aufriefen, nahmen Übergriffe gegen die Ahamdiyah in den letzten Monaten zu.
Orthodoxen Hardlinern, die die Regierung unter Druck setzen, stehen Gegner des Ahmadiyah-Verbots wie Menschenrechtsorganisationen und sich als progressiv bezeichnende muslimische Organisationen entgegen. Auch die Mehrheit der in dem Beraterkreis des Präsidenten vertretenen Experten plädiert gegen das Verbot. Die schärfste Kritik innerhalb des Beraterkreises übt Adnan Buyung Nasution, Gründer der Rechtshilfeorganisation LBH. Dieser appelliert an die Religionsfreiheit und die Pflicht des Staates, die Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen, und warnt vor der Gewalt, die mit dem Verbot zunehmen kann. Er erinnert an die Massaker, die an den Mitgliedern der Kommunistischen Partei im Jahr 1965 ausgeübt wurden /Jakarta Post 28.4.2008/. Hardliner wie die Islamic Defenders Front (FPI) oder der in die Bali-Bombings involvierte Kleriker Abu Bakar Ba’asyir drohen damit, die Konflikte gewaltsam auszutragen. Andere Gegner fordern einen Dialog, um die Ahmadiyah auf den „rechten Weg“ zurückzubringen. Die beiden islamischen Massenorganisationen lehnen Gewalt gegen die Ahmadiyah ab. Die offizielle Position der Führung der Nadhlatul Ulama (NU) betrachtet die Ahmadyiah als häretische Sekte und unterstützt die Empfehlung der Behörde zur Beobachtung religiöser Aktivitäten /www.nu.or.id/. Die Mehrheit der in der NU vertretenen Gelehrten stehe jedoch auf der Seite der Ahmadyiah und verurteile das geplante Verbot der Ahmadiyah, so Habib Syarief Utsman Yahya, Gelehrter des Ortsverbands der NU in Cirebon in West Java, deren Jugendverband in West Java 20.000 Mann stellen will, um Mitglieder der Ahmadiyah vor Gewalt zu schützen. /Jakarta Post 22.4.08/. Der frühere Vorsitzende der muslimischen Massenorganisation Muhammadyiah und Protagonist der Reformasi-Bewegung Amien Rais sucht einen Mittelweg, um mit der „Abtrünnigkeit“ der Ahmadiyah umzugehen: Er fordert, dass lediglich die offene Verbreitung der Ahmadiyah verboten werde. Die Ahmadiyah habe in einer Demokratie das Recht zu existieren, da sie von der sunnitischen Tradition abweiche, solle sie ihre Lehre jedoch nur „im Stillen“ verbreiten /Tempo No. 35/VIII/April 29-May 05, 2008/. Während sowohl Gegner als auch Befürworter des Verbots auf die Straßen gehen, hat die Regierung noch keine Entscheidung getroffen und hat das am 23. April vorgesehene Datum zur Verabschiedung des Erlasses verschoben.
Religionsfreiheit und Relikte aus autoritären Zeiten
Kritiker des Verbots weisen daraufhin, dass mit dem Verbot die in der indonesischen Verfassung festgelegte Garantie der Religionsfreiheit in Frage gestellt sei. Die Behörde, die damit beauftragt ist, Blasphemie in Indonesien zu verhindern, sei für die junge Demokratie nicht zeitgemäß. Besetzt mit Mitarbeitern der Generalstaatsanwaltschaft, des Geheimdienstes, der Polizei, des Innen- und Religionsministeriums verfüge die Behörde über eine Entscheidungsmacht, die dem in der indonesischen Verfassung festgelegten Verhältnis von Religion und Politik nicht entspräche.
Indonesien ist weder ein religiöser Staat, in dem religiöse Autoritäten die Politik bestimmen, noch ein säkularer Staat, in dem die politische Sphäre und die religiöse Sphäre strikt voneinander getrennt sind. Die Verfassung garantiert in Artikel 29 Absatz 2 Religionsfreiheit und gründet in Absatz 1 den Staat auf den Glauben an einen Gott. Der Glaube an einen Gott ist damit quasi „Staatsreligion“ Indonesiens. Die Frage aber, welche Glaubensrichtungen offiziell anerkannt sind, wird durch den Erlass des damaligen Präsidenten Sukarno No.1/PNPS/1965 sowie das später erlassene Gesetz Nr. 5/1969 festgelegt: Diese erkennen den Islam, den Katholizismus, den Protestantismus, Buddhismus und Hinduismus und mittlerweile den Konfuzianismus offiziell an. Dem Erlass nach sind solche Interpretationen der in Indonesien anerkannten Religionen, die von deren Grundsätzen abweichen, verboten.
Die Anhänger traditioneller Religionen, die in Indonesien lebenden Juden sowie orthodoxe Christen sind nicht anerkannt und müssen sich auf ihren Personalausweisen als Zugehörige zu einer der anerkannten Religionen identifizieren. Problematisch erweist sich diese Gesetzgebung, weil es in der Hand des Staates liegt, welche Lehre einer bestimmten Religion anzuerkennen ist oder nicht. Mit der Autorität zu entscheiden, welche Religion als häretische Sekte einzustufen sei, handelt dieser selbst wie ein „Gott“, denn in der Verfassung sind keine Kriterien enthalten, die Aufschluss darüber geben, wann eine bestimmte Lehre den offiziellen Religionen entspricht und welche Autorität darüber zu entscheiden hat. Nicht nur über strittige Lehren innerhalb des Islam, sondern auch über die der anderen anerkannten Religionen hat Bakor Pakem bisher Entscheidungen getroffen. Die Zeugen Jehovas sind beispielsweise nicht offiziell anerkannt, ebenso wurden zwei Organisationen für illegitim befunden, die sich als buddhistisch verstehen. Die Autorität des Staates, über die „richtige“ Lehre einer Religion zu entscheiden, verletzt Kritikern zufolge in der Konsequenz das fundamentale Recht eines/einer jeden, Anhänger/in seines/ihres Glaubens zu sein. Deshalb fordern zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse wie die nationale Allianz für Religions- und Glaubensfreiheit eine Judicial Review (Normenkontrolle) des Präsidenten-Erlasses von 1965. Führer der Ahmadiyah kündigten ebenfalls rechtliche Schritte in Form einer Klage an, wenn die Glaubensgemeinschaft tatsächlich verboten werde.
Nicht mehr als islamische Gemeinde anerkannt zu sein, hieße, dass die Ahmadiyah ihre Moscheen schließen müsste und dass ihre Literatur verboten wäre – ein Verlust für die muslimische Gemeinschaft in Indonesien, denn ein Großteil der Koranübersetzungen wurde von Gelehrten der Ahmadiyah verfasst. Auf der Grundlage eines Artikels zu Blasphemie im Strafgesetzbuch können Verfechter von religiösen Interpretationen, die von den Lehren der fünf anerkannten Religionen abweichen, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt werden. Auf dieser Grundlage wurde beispielsweise Ahmad Mushaddeq, Gründer der als häretisch befundenen Al-Qiyadah al-Islamiyah, verurteilt. Auf der regionalen Ebene können religiöse Gemeinschaften ohne Erlass der Regierung verboten werden. Die Stadtverwaltung von Cimahi in West Java hat es erst kürzlich anderen Verwaltungen in West Java und Ost-Nusa Tenggara gleichgetan und die Gemeinschaft verboten. Kritiker sehen den Blasphemieerlass als Relikt aus Zeiten autoritärer Herrschaft. Sukarno verabschiedete den Erlass unter Notstand und ohne die Mitwirkung des Parlaments. /Tempo No.36/VIII/May/
Das Verbot der Ahmadiyah – warum jetzt?
Warum wird die Debatte um die Ahmadiyah und um andere als häretisch bezeichneten Gruppen gerade jetzt so heftig geführt, obwohl die Gemeinschaft sowohl zu dem Staatsapparat gute Beziehungen unterhalten hat als auch gesellschaftlich akzeptiert war? Was sind die Beweggründe der Regierung?
Einige Beobachter führen die Schwäche der Regierung an, um den Zeitpunkt des Verbots der Ahmadiyah zu erklären. Bisherige Verbote religiöser Gruppierungen und die auf dem Blasphemiegesetz beruhenden Haftstrafen haben mehr eine politische Dimension als eine religiöse. Andere Erklärungen werden in den hohen Nahrungsmittelpreisen und der Armut gesucht. Soll die heftige Debatte um die Ahmadiyah von anderen Problemen ablenken?
Tatsächlich ist es momentan im Trend für indonesische Politiker, – auch für solche, die bisher als säkular auftraten – die „religiöse Karte“ zu spielen. Sie greifen auf religiöse und ideologische Werte zurück, weil sie durch ihre Institutionen den Wählerinnen und Wählern wenig Sicherheit bieten können – die kommende Erhöhunge des Benzinpreises ist nur ein Indiz für das Unvermögen, soziale Sicherheit zu gewährleisten.
Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des Gelehrtenrats Majelis Ulema Indonesia (MUI) zur Regierung. Wie groß ist dessen Einfluss auf politische Entscheidungen? Oder bietet er sich der Regierung als Legitimationsquelle für die Politisierung religiöser Debatten? Die Fatwas des MUI sind rechtlich nicht bindend, und viele Muslima und Muslime erkennen insbesondere die islamischen Massenorganisationen als religiöse Autoritäten an. Hingegen dienten die Fatwas schon einst dazu, das Familienplanungsprogramm der Suharto-Regierung zu legitimieren.Auf der gesellschaftlichen Ebene wird eine Debatte um religiöse Diskurshoheit geführt zwischen Hardlinern, orthodoxen, konservativen, „progressiven“ und feministischen Muslimen. Sind die zu beobachtende Politisierung religiöser Fragen und die Ressentiments gegenüber der Ahmadiyah Teil der Suche nach einer Identität infolge von gesellschaftlichen Umbrüchen? Sind sie Ausdruck der von Kritikern beschriebenen saudisch-wahabbitischen Einflüsse in Indonesien? Eindeutige Interpretationen sind nicht möglich.
Unbedingt aber verdient das geplante Verbot auch hierzulande Aufmerksamkeit,
denn es ist ein Testfall für die junge Demokratie Indonesiens. <>
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