Indonesien-Information Nr. 2/1999 (Soziales)

"Sie haben ein Recht, auf der Straße zu leben"

Interview mit Romo Sandyawan

Im Rahmen ihres Indonesienaufenthaltes sprach Gabi Mischkowski mit Romo Sandyawan, dem Gründer des Institut Sosial Jakarta und der treibenden Kraft im Tim Relawan, einer Arbeitsgruppe, die um das Schicksal von Opfern der Gewalt in Indonesien besorgt ist. Wir bringen Ausschnitte aus diesem Interview.

Gabi: Seit wann arbeiten Sie mit den Straßenkindern?

Sandyawan: Schon bevor wir uns im Tim Relawan engagierten, waren wir fast acht Jahre lang für Straßenkinder in Elendsvierteln da, aber auch für die Müllmenschen, die in Slums wohnen, und für Fabrikarbeiter und andere Arme aus der Stadtbevölkerung.

G: Woher kommen sie?

S: Sie kommen aus verschiedenen Städten. Früher kamen sie eher aus zerbrochenen Familien, doch die Straßenkinder heute sind Opfer von Vertreibungen. Sie stammen aus der Schicht der urbanen Armen, die aus ihren Wohnsiedlungen vertrieben wurden, umziehen mußten, wieder vertrieben wurden und schließlich gestrandet sind. Zwar haben sie meist noch Eltern, doch sie sind so arm, daß sie auf der Straße leben müssen. In den vergangenen zwei, drei Jahren hat die Zahl der Straßenkinder stark zugenommen.

G: Wie viele sind es ungefähr?

S: Zehntausend vielleicht in Jakarta. Die genaue Zahl kennt niemand. Es ist schwierig, eine Grenze zwischen Slumkindern und Straßenkindern zu ziehen.

Die Kinder in den Elendsvierteln haben meist noch Eltern und Familie, doch die Straßenkinder leben wirklich auf der Straße und sind auf sich gestellt. Sie müssen auf der Straße überleben.

G: Sie erwähnten eben die Müllmenschen. Wen meinen Sie damit?

S: In Bantar Gebang landet der Restmüll. Es sind etwa 200 Hektar, größer als die Smokey Mountains in den Philippinen. Hier leben ungefähr 8.000 Menschen vom Verkauf des verwertbaren Restmülls. Es ist eine andere Welt, obwohl nur zwei Stunden von Jakarta entfernt. Aber wie die Menschen dort leben, zeigt beispielhaft, wie die Wirklichkeit für die städtischen Armen aussieht. Bantar Gebang ist die Endstation für die Gestrandeten. Einige haben in den Dörfern Mitteljavas und in der Provinz Westjava die Dürre erlebt. Sie flüchteten hierhin und versuchten, eine Arbeit zu finden. Andere haben ihre Arbeit als Rikscha-Fahrer in Jakarta verloren, nachdem von heute auf morgen alle Fahrrad-Rikschas verboten wurden. Andere wurden vertrieben, weggejagt und liefen hierher. Obwohl wir schon fast acht Jahre lang die Menschen in den Elendsvierteln und in Bantar Gebang betreuen, sind wir immer wieder erschüttert.

G: Wie helfen Sie ihnen konkret?

S: Wir arbeiten nicht schematisch. Unsere Freiwilligen sind kontinuierlich dort, um die Bedürfnisse der Menschen zu verstehen. Wir haben eine Untersuchung durchgeführt, wie und warum sie dort überleben können. Dann kamen wir mit Projekten zu ihnen. Eines unserer Projekte ist ein Gesundheitsheitsprojekt, ein anderes bietet alternativen Unterricht für Kinder und Mütter. Außerdem organisieren wir in einer Kooperative die Verteilung von Grundnahrungsmitteln. Wir haben auch ein Netz der Müllsammler aus Jabotabek aufgebaut, denn sie wehren sich gegen den importierten Abfall.

G: Was meinen Sie mit "importiertem Abfall"?

S: Das ist eine negative Folge des aus Europa illegal importierten Mülls. Der Preis des lokalen Abfalls sinkt dadurch um 75-80 %. Das ist ein Grund, warum die Müllmenschen so arm geworden sind, obwohl sie außergewöhnlich lange arbeiten, bis 2, 3 Uhr morgens. Sie essen nur 2 mal täglich. Die Müllmenschen in Bantar Gebang spüren die negativen Auswirkungen der Krise stark, die Preise sind allgemein gestiegen. Selbst als wir dort Grundnahrungsmittel zum halben Preis anboten, konnten viele sie nicht kaufen. Sie organisieren die Verteilung der Lebensmittel selbst. Bei dieser Arbeit kommen sie zusammen, füllen den Reis in kleine Säcke und besprechen ihre Probleme. Dies ist auch ein Prozeß der Bewußtwerdung für sie.

Unsere Hilfe besteht nicht nur aus Lebensmitteln, sondern ist auch Hilfe zur Selbstorganisation. In den letzten Jahren sind viele städtische Arme gestorben, im Feuer umgekommen, als der Kampung (= Dorf, Stadtviertel) abbrannte. Ein Mann erlag seinen Verletzungen, da er nicht aus seiner Hütte herauskam. Das Militär hatte den Kampung in Zentraljakarta umstellt, als er in meinen Armen starb. Doch die Parlamentarier, an die ich mich wandte, nannten meine Aussagen fiktiv. In den fünf Jahren unserer Arbeit unter den städtischen Armen vor dem 27. Juli 1996 zählte ich in meiner unmittelbaren Nähe 27 Todesopfer - Kinder, Müllsammler, Fabrikarbeiter, die keines natürlichen Todes starben. Kinder wurden erschossen, Leute aus den Elendsvierteln vertrieben, sie starben bei Auseinandersetzungen oder an tödlichen Verletzungen. Nach der Vertreibung aus ihrem Kampung müssen die Familien unter unwürdigen Bedingungen leben, oft werden sie krank und sterben. Fabrikarbeiter nahm man nach einem Streik ohne jegliche Begründung als Kriminelle fest. Manche waren verletzt und starben.

G: Ich würde gerne auf die Straßenkinder zurückkommen. Wie können sie überhaupt auf der Straße auf sich gestellt überleben?

S: Schlimmer als das Leben auf der Straße ist das soziale Stigma, das ihnen angeheftet wird. Die Regierung nennt sie gefährlich und kriminell. Die Regierung versucht, sie in den Griff zu bekommen. Doch gerade wegen dieser Maßnahmen bleiben sie Straßenkinder. Die Regierung arbeitet mit Begriffen der NGO's und übernimmt scheinbar auch ihre Methoden wie z.B. das Open-House-Konzept. Das neueste Regierungsprojekt ist das Rumah Sanggit, das Transit House. Tatsächlich aber ist ihre Haltung den Kindern gegenüber dieselbe wie eh und je. Die Kinder werden auf der Straße eingefangen, in das Haus gezwungen, am Anfang unterrichtet. Es handelt sich um Wohlfahrtsprogramme, das heißt nichts anders, als daß Geld da ist, das verbraucht werden muß, egal wie. Doch oft landen die Kinder dann in Cipayung im Kindergefängnis. Es sind die armen Kinder, die am schlimmsten von der katastrophalen politisch-ökonomischen Situation betroffen sind. Leider glaubt die Bevölkerung an das sozialpolitische Stigma. Die Kinder werden kriminalisiert und gelten als Unruhestifter.

G: Aber werden z.B. die vielen kleinen Straßenverkäufer, die an den Kreuzungen von Auto zu Auto gehen, nicht auch ausgebeutet? Woher bekommen sie ihre Waren?

S: Es gibt verschiedene Kindergruppen, darunter wirklich unabhängige Kinder. Sie bekommen alte Zeitungen gratis und verkaufen sie. Die alten Zeitungen sind sehr billig, kosten fast nichts. Andere säubern die Autoscheiben, vermieten bei Regen Regenschirme oder putzen Schuhe, oder sie sind Straßenverkäufer. Oder sie verkaufen in Zügen. Zu den Straßenverkäufern gehören tatsächlich Leute, die man Preman nennt.

G: Preman?

S: Preman sind Gangster. Äußerlich ist ihr Benehmen den Kindern gegenüber grob und unmenschlich. Doch de facto sind sie Teil des Überlebenssystems. Sie garantieren das Überleben der Kinder sehr viel eher als die Regierung, so merkwürdig das klingen mag. Unter den vermeintlichen Banditen sind sogar viele, die das Überlebenssystem koordinieren. Es sind ehemalige Straßenkinder, die die Kleineren zum Sparen anhalten. Das heißt, sie verpflichten die Zeitungsjungen, die für sie arbeiten, 5.000 Rupiah [1,05 DM] am Tag oder 2.000 Rupiah [ca. 42 Pfennig] anzusparen, und das ist fair! Am Ende des Monats oder Mitte des Monats wird abgerechnet, und das Kind kann sein Geld holen. Manche sind so. Dieses gute System von der Straße haben wir aufgegriffen, haben die Arbeitsweise unserer NGO und die Art des Umgangs mit den Kindern in unserem Open House oder Transithaus geändert.

G: Sollte man nicht alles tun, um die Kinder von der Straße zu holen, ihnen ein Heim zu geben, eine Ausbildung zukommen lassen?

S: Wir sind davon überzeugt, das die Kinder ein Recht haben, auf der Straße zu leben. Denn das ist ihre Art des Überlebens. Die internationale Welt kann dies normalerweise nur schwer verstehen. Sie begreift nicht, das diese Kinder arbeiten müssen. Kinderarbeit wird abgelehnt, besonders die UNO ist dagegen. Doch hier sind sie zu Opfern der Wirtschaftsentwicklung gemacht worden, und wir sehen ja, daß und wie sie es schaffen zu überleben. Wir müssen ihnen daher eine Chance geben, zum Beispiel indem die Gesetze verändert werden, die ihnen verbieten, auf der Straße zu arbeiten. Sie sollten nicht verhaftet und verjagt oder kriminalisiert werden. Wir sollten uns um sie kümmern, wir müssen uns um sie kümmern.

G: Wie genau tun Sie das?

S: Indem wir von ihnen lernen. Sie haben ihre eigene Kooperative, sie haben eine Musikgruppe, eine Theatergruppe, und sie verkaufen ihr Kunsthandwerk. Wir unterstützen sie darin. Wenn sie auf der Straße schlecht behandelt werden, zum Beispiel gegen das Gesetz verstoßen haben und festgenommen werden oder sonst was, kümmern wir uns um sie. Wir haben Rechtsanwälte. Aber sie haben auch eine eigene Organisation, sie haben ihre eigenen Kinder-Koordinatoren z.B., die zur Polizei gehen und fragen: "Warum wurde unser Freund festgenommen?" Sie lernen auch. Sie sparen auch. Die Mehrzahl der Straßenkinder hat keine Eltern mehr und kann nicht von sich sagen: "Ich gehe nach Hause." Wir stellen ihnen das Open House oder das Transithaus zur Verfügung, wir bilden eine Art Familie. Das ist der Unterschied zu den Regierungsprojekten. Bei uns bekommen sie Wärme und Nähe und Menschlichkeit.

G: Ist das Open House das einzige seiner Art in Jakarta?

S: Nein, unseres ist nicht das einzige. Viele NGO's machen so etwas. Doch dies ist nur eine Alternative, es gibt auch andere. Es gibt das Kampungsystem. Wir wissen, daß es sehr problematisch ist, ein Haus als Basis für die Straßenkinder zu mieten. Die Umwelt lehnt das normalerweise ab. Da ist das Stigma. Es ist Aufgabe der NGO's, den Kindern den Rücken zu stärken, self-empowerment nennt man das im Englischen. Gleichzeitig vermitteln die Betreuer zwischen Straßenkindern und Nachbarschaft und bauen Vorurteile ab. Die Kinder müssen sich selbst organisieren. Viele der Betreuer sind selbst ehemalige Straßenkinder.

Übersetzt von Marianne Klute

 
 
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