Indonesien-Information Nr. 1 2002 (Menschenrechte)

Schüsse auf Studenten sind

„gewöhnliche Menschenrechtsverletzungen“

Von Hendra Pasuhuk und Philipp Burtzlaff

Am Sonntag, dem 13. Mai 2001, trafen sich die Familienangehörigen der Opfer auf dem Friedhof Umum Pondok Rangon, um der Ereignisse zu gedenken, die als Maitragödie 1998 bekannt wurden. Auch an den folgenden Tagen fanden mehrere Gedenkfeiern statt, die diesem traurigen Anlass gewidmet waren. Bis heute sind die Hintergründe der Maitragödie von vor vier Jahren noch nicht gänzlich aufgedeckt. Statt dessen ereigneten sich weitere gewalttätige Ereignisse und forderten das Leben Tausender Menschen.

Die Maitragödie wird von vielen Seiten als ein Vergehen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Schätzungsweise mehr als Tausend Menschen starben während dieser Tage durch Verbrennungen oder kamen anderweitig ums Leben. Es wurden Beweise aufgefunden, die auf Misshandlungen und Vergewaltigungen in großem Maße hinweisen.

Über 5.000 Gebäude und Tausende von Kraftfahrzeugen wurden in der Feuerbrunst zerstört. Fast vier Jahre sind seitdem vergangen, doch die Spuren der Verwüstung sind noch immer zu sehen. So zum Beispiel im Glodok Einkaufscenter in West-Jakarta, einem der Hauptziele der Vandale und Plünderungen. Viele ethnische Chinesen betrieben hier ihr Geschäft und wohnten in diesem Gebiet. Hendra, Besitzer eines Haushaltswarengeschäftes in Harco Glodok berichtet, dass rund 90% der Bewohner in diesem Gebiet angegriffen, beziehungsweise deren Wohnungen geplündert wurden /Jakarta Post, 14.05.2001/. Die Übrigen seien übersehen worden, da diese in kleinen Gassen wohnten.
In dieser dritten Maiwoche 1998, erlebte Indonesien kritische Tage. Nach den äußerst brutalen Unruhen, versuchten Zigtausend Menschen, einschließlich der in Indonesien lebenden Ausländer, dieser beunruhigenden Situation durch Flucht ins Ausland zu entkommen. Die Protestaktionen der Gesellschaft weiteten sich aus, während die Machtkämpfe auf höchster Ebene zunahmen. Letzten Endes trat Suharto zurück. Der Führer des Militärs, General Wiranto, garantierte Suharto und seiner Familie Sicherheit.

Im Mai 2001 fanden an verschiedenen Orten in Jakarta Demonstrationen und Mahnwachen von Studenten statt, die der Erschießung von vier Studenten der Trisakti-Universität am 12. Mai 1998 und der Toten von Semanggi gedachten. Bei Protestaktionen nahe der Universität Atma Jaya wurden am 13. November 1998 mindestens 14 Personen getötet, nachdem Schüsse auf die Menschenmenge abgegeben wurden. Die Tragödie ist unter dem Namen Semanggi I bekannt. Mindestens 10 Todesopfer kostete ein ähnlicher Vorfall am 23./24. September 1999, bekannt als Semanggi II). In den Wochen nach den Ereignissen wurden die ermordeten Studenten als „Helden der Reformation“ gefeiert /Laksmana.Net, 15.05.2001/. Doch wo sind die Reformen, für die sie sterben mussten? Das Militär konnte seine Position in der Politik wieder festigen und noch immer wurde niemand für die vielfältigen Verbrechen belangt. Bis heute mussten sich die verantwortlichen Kräfte nicht vor der Justiz  verantworten. Der Rektor der Trisakti-Universität, Thobi Mustis, und der Dekan der Juristischen Fakultät, Adi Andojo Sujipto, haben wiederholt diene Verurteilung der militärischen Scharfschützen gefordert - jedoch vergebens.

Zu Beginn der Reformära, als Suharto endlich zurücktrat und Habibie nachrückte, bestand noch die Hoffnung, dass die Tragödie umfassend aufgeklärt werden würde. Noch im selben Monat Mai 1998, entschied die Regierung Habibie über die Gründung eines Fact-Finding-Teams (TPGF), das sich aus Zivilbeamten, Vertretern der Armee und der nationalen Menschenrechtskommission Komnas HAM sowie von NGOs zusammensetzte. Die Gründung dieses Teams wurde durch ein gemeinsames Dekret gestärkt, das von fünf Ministern und dem Obersten Gericht unterzeichnet wurde. Zu den Unterzeichnern gehörten General Wiranto, seinerzeit Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Muladi, damals Justizminister und Syarwan Hamid, zu dieser Zeit als Innenminister tätig. Der Oberste Gerichtshof wurde durch Andi Ghalib vertreten.

Das Fact-Finding-Team bestand aus 19 Personen. Seine Hauptaufgabe war es Fakten zusammenzutragen, um die Ereignisse der Maiunruhen aufzuklären. Diesem Team wurde drei Monate Zeit für die Untersuchungen an sich und für die Anfertigung eines Abschlussberichtes gegeben. Im November 1998 übergab das Fact-Finding-Team seinen Bericht der Regierung. Dieser enthält eine detaillierte Liste der Opfer, die von dem Team für die Menschlichkeit (TRK) zusammengetragen worden war. Demnach hatten 1.190 Menschen in den Flammen den Tod gefunden,  27 Menschen waren durch Waffengewalt oder andere Formen von Gewaltanwendung ums Leben gekommen, 91 Menschen wurden verletzt. Die Berichte der Polizei dagegen gingen von nur 451 Toten aus, die Verletzten blieben unerwähnt. Die Angaben des Militärs belaufen sich auf 463 Tote und 69 Verletzte. Im selben Monat wie der Bericht vorgelegt wurde, ereignete sich dann der Fall Semanggi I und befleckte das Image der neuen Regierung Habibie.

Die Empfehlungen des Fact-Finding-Teams enthielten die Namen von etlichen Militärangehörigen, die in Verbindung mit den Maiunruhen untersucht werden sollten. Weiterhin schlussfolgerte das Untersuchungsteam, dass die Ereignisse im Mai 1998 systematisch gesteuert worden waren und dass es sich nicht um ein spontanes Volksaufbegehren (spontane Aktionen der Gesellschaft) handelte. Außerdem wird vermutet, dass die Geschehnisse noch mit anderen, wie beispielsweise der Entführung von Aktivisten der Demokratiebewegung und der Erschießung der Studenten von der Trisakti-Universität in Zusammenhang standen. Die Namen, die in den Empfehlungen genannt wurden, sind u.a. die des damaligen Kommandanten der Elitetruppe Kostrad, Prabowo, und des ehemaligen Befehlshabers von Jakarta, Syafrie Sjamsoeddin. Von Anfang an forderte der Vorsitzende des Fact-Finding-Teams, Marzuki Darusman, dass die Regierung die Empfehlungen des Teams umsetzten möge.

Albert Hasibuan, Mitglied von Komnas HAM, erklärte zu dieser Zeit, die Maiunruhen seien durch die Erschießung der vier Trisakti-Studenten ausgelöst worden. Weiterhin sagte er, diese Geschehnisse wurden offenkundig in der Absicht ausgeführt, die Studentenbewegung, die immer energischer den Rücktritt Suhartos gefordert hatte, zum Schweigen zu bringen. Auch erwähnte Hasibuan, dass sich viele Seiten anstrengten, die Ermittlungen und die Untersuchungen der Militäroffiziere zu verhindern. Das Bemühen Fakten zu verbergen verstärkte die Vermutungen, dass eine Reihe von Militärkommandeuren ebenfalls Verantwortung für die Maiunruhen 1998 trägt.

Es ist kein Geheimnis, dass es im Mai 1998 einen Machtkampf innerhalb der Militärhierarchie gab. Die zwei rivalisierenden Fraktionen wurden von Wiranto und Prabowo geführt. Es wird vermutet, dass Prabowo die Unruhen im Mai vorsätzlich plante, um damit Wiranto zu schädigen und ihn als „inkompetent“ erscheinen zu lassen. Zudem sollte das Chaos Suharto Gelegenheit geben, den Notstand zu erklären, um damit oppositionellen Gruppen und protestierenden Studenten effektiver entgegenwirken zu können /Laksamana.Net, 15.05.2001/.

Wiranto, der Sprecher der sechs Generäle, die in Zusammenhang mit den blutigen Mai-Ausschreitungen stehen, äußerte sich bei einer Anhörung vor dem Fact-Finding-Team, es sei völlig sinnlos vor der Kommission auszusagen, wenn bereits im Vorfeld entschieden sei, dass sie für die traumatischen Vorfälle zur Verantwortung gezogen werden sollen. Munir, Rechtsanwalt der Rechtshilfeorganisation LBH und Leiter der Kommission für Verschwundene und Opfer der Gewalt, Kontras, wies den Kommentar Wirantos zurück: „Es ist nicht möglich für die schweren Ausschreitungen, die den Tod von Dutzenden von Zivilisten und Hunderte von Verletzten zur Folge hatten, jemand anderes als das Militär zu beschuldigen.“ /Jakarta Post, 10.05.2001/

Panda Nababan, Vorsitzender der Fact-Finding-Kommission, äußerte sich in einem Interview mit dem Indonesian Observer pessimistisch. Es gebe keinerlei Bereitschaft zur Aufklärung der Tragödie seitens der Militärelite, der Polizei oder der Gesetzesvertreter. Vielmehr stoße man auf erheblichen Widerstand bei den betroffenen Institutionen, die versuchten, die Wahrheit unter Verschluss zu halten /Indonesian Observer, 12.05.2001/.

In der Jakarta Post vom 22. Mai 2001 bezeichnete Admiral Widodo Adi Sutjipto, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, die Beschuldigungen des Militärs (TNI) als „grundlos“ und bekräftigte, die TNI  hätte sich bei der Handhabung der Trisakti-Demonstration vom 12. Mai 1998 keinerlei Fehler oder ernsthafte Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen. Vielmehr seien alle Opfer in dieser Periode das Ergebnis von „unkontrollierten Aktionen in Zeiten des Umbruchs“. Die Verantwortung läge allein bei den Tätern im Feld. Der Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen sei laut der Definition im Gesetz Nr. 26/2000 über die Gerichtsbarkeit für Menschenrechtsverstöße nicht haltbar. Vermutlich, so der Admiral, sei die Debatte vorsätzlich in den Raum gestellt worden, um den Interessen bestimmter Parteien Vorschub zu leisten und die TNI zu diskreditieren. Trotz allem werde die TNI den legalen Prozess gegen sich zulassen, um die Vorwürfe zu untersuchen.

Verschiedene Ablenkungsmanöver und Versuche die Fakten der Maiunruhen zu vertuschen dauern noch bis zum heutigen Tag an. Diejenigen, die sich bemühen die Ereignisse aufzudecken, einschließlich einiger Parlamentsvertreter, sind weiterhin Terror ausgesetzt. Die Ablenkungsmanöver haben scheinbar Erfolg. Ein Teil der Gesellschaft beginnt die Tragödie zu vergessen und ist mit verschiedenen neuen, gewalttätigen Ereignissen beschäftigt. Die Forderung nach vollständiger Aufklärung der Maiunruhen, in die hohe Militärbefehlshaber verwickelt waren, beginnt zu verstummen.

Eine parlamentarische Untersuchungskommmission (PANSUS) entschied im Juni 2001 dagegen, einen Ad-hoc-Gerichtshof einzurichten, der die Vorfälle von Trisakti und Semanggi untersuchen sollte. Nur drei Fraktionen im Parlament (DPR),  darunter die PDI-P (Megawati Sukarnoputris Partei) und Wahids Partei PKB unterstützten die Empfehlung. Unter den sieben Fraktionen, die sich gegen einen Ad-hoc-Gerichtshof aussprachen, befanden sich Golkar, PAN (Amien Rais’ Partei) und die TNI/Polizei Fraktion. Drei der bekanntesten indonesischen Menschenrechtsorganisationen (Kontras, YLHBI und ELSAM) haben diesen Beschluss entschieden verurteilt. Munarman, Sprecher von Kontras, betonte, dieses Verhalten zeige ganz offensichtlich, dass die Elemente der Neuen Ordnung noch starken Einfluss auf die DPR ausüben. Die Entscheidung, einen Ad-hoc-Gerichtshof zu verhindern, sei das Ergebnis einer politischen Verschwörung in der DPR. Verdeutlicht werde dies durch die Tatsache, dass die TNI/Polizei Fraktion unter den Gegnern dieser Bemühungen gewesen sei. Die DPR verkomme zu einem Ort, wo  Menschenrechtsverletzer Schutz finden und mit ihren Verbrechen davon kommen. Aus dieser Konsequenz heraus riefen die drei NGOs die pro-demokratische Bewegung dazu auf, sich gemeinsam gegen die sieben ablehnenden Fraktionen in der DPR zu stellen /Analisa, 29.06.2001/.

Am 10. Juli 2001 entschied die DPR, die Ereignisse von Trisakti und Semanggi als „gewöhnliche Menschenrechtsverletzungen“ zu klassifizieren. Präsident Wahid teilte die Enttäuschung der Öffentlichkeit hierüber und ließ durch seinen Sprecher verlauten, dass diese Fälle nicht als bloße Verbrechen beschrieben werden könnten. Vielmehr sei es richtig, Vermutungen zu äußern, dass eine politische Dimension hinter den Verbrechen stecke. Usman Hamid, Mitarbeiter bei Kontras, bedauerte die Entscheidung der DPR. Dies sei ein Sieg für das Militär und die Polizei, ihre vergangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vertuschen. Die DPR habe das Mandat der Beratenden Volksversammlung (MPR) verraten, welche ihr die Aufgabe übertragen hat, das Gesetz zu vertreten und die Menschenrechte zu schützen. Der Vorsitzende der Rechtshilfeorganisation PBHI, Hendardi, kommentierte die Entscheidung der DPR, sie verdiene es als Bewahrer der Straflosigkeit bezeichnet zu werden, welche die Politik der Neuen Ordnung fortführe, indem sie Menschenrechtsverletzer schützt /Jakarta Post, 11.07.2001/.

Die Kritik blieb nicht ganz ungehört. Präsident Abdurrahman Wahid gestattete die Bildung eines weiteren Untersuchungsteams KPP HAM unter dem Dach der nationalen Menschenrechtskommission Komnas HAM. Die Kommission vertritt die Rechtsauffassung, dass es nach Artikel 10 des Gestzes Nr. 26/1999 nicht dem Parlament, sondern dem Obersten Gericht obliege zu entscheiden, ob ein Fall von ordentlichen Gerichten, Militärgerichten oder Sondergerichtshöfen zu behandeln sei. Das Untersuchungsteam will insgesamt 19 Personen aus Militär und Polizei über deren Rolle in den Fällen Trisakti, Semanggi I und Semanggi II befragen. Darunter befinden sich u.a. der ehemalige Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Wiranto, der frühere nationale Polizeichef  Dibyo Widodo, der frühere Militärkommandant von Jakarta, Sjafrie Sjamsoeddin, der frühere Polizeichef von Jakarta, Hamami Nata, und der ehemalige Kostrad-Kommandant, Prabowo /Jakarta Post, 28.11.2001/. Mit Ausnahme eines mittelrangigen Polizeioffiziers erschien jedoch keiner der 19 Vorgeladenen zu den im Januar 2002 angesetzten Vernehmungen /Jakarta Post, 1.2.2002/. Im Gegenteil erklärte die Militärführung die Untersuchung der KPP HAM als „irrelevant“, da das Parlament ja längst festgestellt habe, dass es sich bei den Vorfällen nicht um schwere Menschenrechtsverletzungen gehandelt habe /Jakarta Post, 10.1.2002/. Albert Hasibuan, Vorsitzender des Untersuchungsteams, drohte bereits mit Zwangsvorführung. Dazu benötigt er jedoch einen Erlass des Obersten Gerichtshofes, der bislang nur ausweichend auf das Ersuchen geantwortet hat /Jakarta Post, 23.1. und 8.2.2002/.

Die Chancen, dass die Arbeit des Untersuchungsteams fortgesetzt werden kann und gar zu einem Ergebnis führen wird, stehen denkbar schlecht. KPP HAM wird das selbe Schicksal erleiden wie zuvor schon das unter der Regierung Habibie gebildete Fact-Finding-Team, dessen Arbeit ohne Konsequenzen und Weiterführung blieb. Dieser Umstand zeigt zugleich, wie wenig wahrscheinlich es ist, dass andere Terroraktionen wie die Verwüstungen in Ost-Timor oder die Bombenanschläge zu Weihnachten 2000 aufgeklärt werden können: weil das Militär auch darin verwickelt ist. Zahlreiche weitere Menschenrechtsverletzungen haben seither stattgefunden, teils vor den Augen der Öffentlichkeit wie die „Sweepings“ in Jakarta, teils weit weg im „Verborgenen“ auf den Molukken, in Aceh, Papua und anderswo. Wenn die demokratische Gesellschaft in Indonesien und die Intellektuellen weiterhin reglos zusehen und keine Zivilcourage aufbringen, bedeutet dies, dass das Land  in Anarchie versinken wird. Und wie überall, nicht nur in Indonesien, haben diejenigen die größten Vorteile in solch einer Situation, die dann über Waffen und Bargeld verfügen. Die vollständige Aufklärung der Maitragödie wird für all diejenigen, die nach Demokratie und einem neuen Indonesien streben, zum Prüfstein. <>  
 

Zurück zur Hauptseite Watch Indonesia! e.V. Back to Mainpage