Indonesien-Information Nr. 1 2002 (Demokratie)

Die Verfassungskrise

Von Pipit Kartawidjaja

Als ich Mitte Juli 2001 in Jakarta landete, war die politische Situation wegen aller möglichen Geschichten um Präsident Abdurrahman Wahid alias Gus Dur spannungsgeladen. Der Präsident sollte durch eine Sondersitzung der Beratenden Volksversammlung MPR (Majelis Permusyawaratan Rakyat) Ende Juli gestürzt werden. Schon ein Jahr lang war es um die Beziehungen zwischen dem Präsidenten und der Volksvertretung gar nicht gut bestellt. Gus Durs Zickzackkurs (Kabinettsumbildungen) und seine Verwicklungen in Finanzaffären („Buloggate“, „Bruneigate“) hatten die Abgeordneten stinksauer gemacht. Ihre in der Volksvertretung an den Präsidenten gestellten Fragen waren unbefriedigend beantwortet worden. Beide Parteien nahmen jeweils für sich selbst in Anspruch, verfassungsgemäß zu handeln und warfen sich gegenseitig vor, gegen die Verfassung zu verstoßen.

Mit Gus Durs Sturz, hoffte man, würden sich alle Probleme von selbst lösen. Das ist das Problem. Nach meiner Ansicht war und ist die Ablösung des Präsidenten nicht zweckmäßig, solange nicht über die Verfassung geredet wird. Denn Gus Durs Nachfolger wird das gleiche Problem haben, solange unsere Verfassung nicht angetastet wird.

Aus diesem Grunde habe ich mich der Bewegung der aufsässigen Bürger (Gerakan Pembangkangan Warganegara) angeschlossen, die von zwei indonesischen Promis, Rendra und Eep Saefullah Fatah, Mitte Juli 2001 gegründet wurde. Ihr Ziel ist u.a. durch Bürgerbeteiligung „für eine neue Verfassung“ zu kämpfen.
Die Suche nach dem mittleren Weg

Nach unserer Verfassung von 1945, die1959 wiedereingeführt wurde, ist die Stellung des Präsidenten als Chef der Exekutive stark. Er ist Staatsoberhaupt und zugleich Regierungschef. Er ist der Boss, der Oberbefehlshaber des Militärs und der Polizei. Er darf sein Kabinett mit so viel Gepäck beladen wie er will, d.h. er ernennt und entlässt die Minister, die allein ihm gegenüber verantwortlich sind.

Selbst gegenüber dem Parlament, der Nationalen Volksvertretung DPR (Dewan Perwakilan Rakyat), ist der Präsident nicht verantwortlich, da er nicht vom Parlament gewählt ist. Der Präsident kann die DPR aber auch nicht auflösen. Die DPR hat zwar das Interpellationsrecht, kann aber den Präsidenten nicht durch ihr Misstrauensvotum absetzen. Die Stellung des Präsidenten und die der Volksvertretung sind also gleich stark. Im Gesetzgebungsverfahren müssen beide Parteien zusammenarbeiten.

462 von insgesamt 500 Mitgliedern der DPR wurden durch die alle 5 Jahre auf nationaler Ebene stattfindenden allgemeinen Wahlen bestimmt, die restlichen 38 Sitze sind für die Vertreter des Militärs und der Polizei reserviert. Parallel zu den nationalen Wahlen finden auch die Wahlen für die Provinzparlamente DPRD I (Dewan Perwakilan Rakyat Daerah Tingkat I) und die kommunalen Volksvertretungen DPRD II (Dewan Perwakilan Rakyat Daerah Tingkat II) statt.

Für die Wahl des Präsidenten bzw. Vize-Präsidenten ist nicht die Volksvertretung DPR zuständig, sondern die Beratende Volksversammlung MPR (Majelis Permusyawaratan Rakyat). Die MPR ähnelt der Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland. Denn zu ihren Mitgliedern zählen die 500 Abgeordneten der DPR, 135 Volksvertreter aus 27 Provinzen – die von den Provinzparlamenten DPRD I gewählt werden – und 65 Vertreter aus verschiedenen Organisationen und Interessengruppierungen. Letztere umfassen sowohl weltliche wie religiöse  Gruppierungen – die laut Wahlgesetz von 1999 von der DPR gewählt und ernannt werden (z.B.: Frauengruppen, Studenten und NGOs, islamische, christliche, buddhistische, hinduistische Organisationen, Berufsgruppen, Minderheiten, kulturelle Gruppen oder Behinderte). Nach dem Wahlgesetz werden die Art und Anzahl der Organisationsvertretungen von der DPR bestimmt. Die Vertreter (Namen) selbst wurden bei der letzten Wahl von der Wahlkommission KPU (Komisi Pemilihan Umum) ausgewählt und später durch Unterschrift des Präsidenten offiziell ernannt. Da jede Provinz 5 Vertreter entsenden darf, durften die 27 Provinzen insgesamt 135 Abgeordnete in die Beratende Volksversammlung MPR entsenden (Ost-Timor zählte damals noch dazu). Da der Bengel Ost-Timor sich von dem großen Bruder getrennt hat, schrumpfte die Zahl der Provinzvertreter aus DPRD I von 135 auf 130 Personen. Insgesamt beheimatet die MPR jetzt nur noch 695 Personen. Mit dieser Zusammensetzung bestehen 5/7 der MPR aus Abgeordneten der DPR.

Trotz der Existenz der Beratenden Volksversammlung MPR ist das indonesische Parlament kein Zweikammersystem. Denn die 195 Vertreter aus den Provinzen und Organisationen haben keine eigene Kammer wie der Senat in den Vereinigten Staaten von Amerika, der Conseuil de la République in Frankreich oder das Sangi-in (Oberhaus) in Japan. Und leider kommen die Provinzvertreter meist nicht aus den Provinzen, sondern in der Regel aus Jakarta. Somit repräsentieren die Vertreter aus den Provinzen eher das Zentrum (Jakarta) als ihre Wahlkreise /Suara Pembaruan Daily, 29.09.1999/.

Ursache des Streits um Gus Durs Absetzung war, dass Volksvertretung DPR zwar nicht das Recht hat, den Präsidenten abzusetzen, wohl aber die Beratende Volksversammlung MPR zu einer Sondersitzung einberufen kann. Nur die MPR kann den Präsidenten aus seinem Amt verjagen. Umgekehrt kann eine Sondersitzung der Beratenden Volksversammlung MPR nicht vom Präsidenten einberufen werden. Diese Regelung ist leider nicht in der Verfassung festgelegt, sondern im Beschluss der MPR von 2000. Folge dieser Regelung ist, dass die DPR zwar gemäß der Verfassung den Präsidenten nicht abservieren kann, de facto aber gemäß des Beschlusses der MPR von 2000 eben doch die Ausschlag gebende Kraft dafür ist, weil ja 5/7 der MPR-Mitglieder aus der DPR kommen. Und somit ist der Präsident de facto auch der DPR rechenschaftspflichtig, obwohl er laut Verfassung nur der Beratenden Volksversammlung MPR gegenüber verantwortlich ist.

Schon in ihrer Ausgabe vom 30.07.2000 hatte die Zeitschrift TEMPO bemerkt, dass dieser Widerspruch aus der Gewohnheit der Indonesier entsprungen ist, die immer nach einem mittleren Weg suchen – „yang tidak ini dan yang tidak itu“ (nicht dies und nicht das). Man versucht die Macht der Staatsorgane zu begrenzen, aber was dabei heraus kommt, ist keine richtige Gewaltenteilung.

Weiter noch: die Beratende Volksversammlung MPR ist das höchste Staatsorgan Indonesiens und sehr mächtig. Weil laut Verfassung die MPR die Gewalt des Volkes repräsentiert, sind alle Staatsorgane gemäß des Beschlusses der MPR von 2000 gegenüber der MPR verantwortlich. So müssen also der Präsident, der Oberste Gerichtshof (Mahkamah   Agung), der Rechnungshof (Badan Pemeriksa Keuangan), der Höchste Staatsrat (Dewan Pertimbangan    Agung) wie auch die Nationale Volksvertretung DPR jährlich gegenüber der MPR ihre Rechenschaft ablegen.

Deshalb erwog der Vorsitzende der DPR, Akbar Tandjung, dass die DPR in der kommenden Versammlung keine Rechenschaft gegenüber der MPR ablegen sollte. „Man wird wohl denken, dass sich die DPR gegenüber sich selbst verantwortet, wenn die DPR gegenüber MPR verantwortlich sein muss, da 70 Prozent der MPR-Mitglieder ja aus der DPR kommen”, stellte der Vize-Chef einer der DPR-Kommission, Hamdan Zoelva, nach dem Präsidentensturz fest /Kompas, DPR Kemungkinan Tak Beri "Progress Report" - Dalam Sidang Tahunan MPR 2001, 29.08.2001/. Damit „wird uns deutlich vor Augen geführt, dass in Indonesien der eigentliche Machthaber die Legislative ist“, kritisierte der Rechtswissenschaftler Todung Mulya Lubis /Konstitusi Baru Sekali Lagi, Sinar Harapan 27.08.2001/.
 

Nicht dies und nicht das

Für das Volk ist das Verfassungssystem unverständlich. Aus den Wahlen von 1999 ging die Partei von Megawati, PDI-P (Partai Demokrasi Indonesia-Perjuangan) alias Demokratische Partei des politischen Kampfes, als Wahlsieger hervor. Diese Partei erhielt 30,6 Prozent der Stimmen oder 153 Sitze in der Nationalen Volksvertretung DPR. Die Anhänger der   PDI-P und das allgemeine Volk dachten schon, dass Megawati den Präsidentensessel besteigen würde, vor allem weil Megawatis Partei mit der Partei der nationale Auferstehung (PKB) koalieren würde, die 10 % der Parlamentssitze (DPR) erzielen konnte.

Dies war aber nicht der Fall. Denn da der Präsident von der Beratenden Volksversammlung gewählt wird, musste Megawati dort kandidieren. Dort verfügte ihre Partei aber nur über 26,6 Prozent (185 Sitze), da zu den Abgeordneten der PDI-P in der DPR nur 32 zusätzliche Sitze aus den Provinzen hinzu kamen.

Ganz anders sieht es dagegen bei der ehemaligen Regierungspartei GOLKAR aus. Sie besitzt in der Nationalen Volksversammlung DPR nur 120 Sitze bzw. 24 % der Stimmen. In der Beratenden Volksversammlung MPR aber vergrößert sich der Anteil der Stimmen von GOLKAR auf   26,2 % (182 Sitze). Das heißt, aus den Provinzen kamen noch 62 Fremdlegionäre hinzu – in den Provinzen ist GOLKAR noch stark. In der Beratenden Volksversammlung ist GOLKAR somit fast gleichauf mit der PDI-P.

Wie die PDI-P erlitten in der Beratenden Volksversammlung auch alle anderen Parteien mit Ausnahme von GOLKAR eine Schrumpfung ihres Sitzanteils gegenüber der DPR. Das bedeutete im Jahr 1999, dass man in einer breiten Front zusammenarbeiten musste. Für Megawati als Wahlsiegerin hatte das böse Konsequenzen. Denn die islamischen Parteien, u.a. die von Suharto ins Leben gerufene Entwicklungspartei PPP, starteten eine Kampagne gegen Megawati, da es angeblich nach dem Islam nicht erlaubt sei, eine Frau als Präsidenten zu wählen, wie der Chef der PPP meinte. Als Gegenkandidat tauchte dann Gus Dur auf, der durch die Unterstützung der Macho-Parteien gegen Megawati gewann.
 

Parteien Sitzverteilung in der Nationalen Volksvertretung DPR Provinzvertreter Sitzverteilung in der Beratenden Volksversammlung MPR
Demokratische Partei Indonesiens PDI-P 153 (30,6 %) 32 185 (26,6 %)
Ehemalige Regierungspartei GOLKAR 120 (24,0 %) 62 182 (26,2 %)
Entwicklungspartei (PPP) 58 (11,6 %) 12 70 (10,0 %)
Die nationale Auferstehung (PKB) 51 (10,2 %) 6 57 (8,2 %)
Reformation (Zusammenschluss von Nationaler Mandatspartei PAN und Gerechtigkeitspartei PK - islamisch orientiert) 41 (8,2 %) 7 48 (6,9 %)
Mond u. Sterne Partei PBB (keine Apollomission/NASA) - islamisch orientiert) 13 (2,6 %) 1 14 (2,0 %)
Militär / Polizei  38 (7,6 %) 0 38 (5,5 %)
Sonstige 26 (5,2 %) 2 28 (4,0 %)
Utusan Golongan / Vertreter aus Organisationen und Interessengruppierungen 0 73 *) 73 (10,5 %)
Insgesamt 500 195 695
Bemerkung:
*)  Zusammenschluss aus 65 der Organisations- bzw. Interessenvertreter und 8 Provinzvertretern

/KOMPAS, 22.07.2001/

Gegen die Gepflogenheit der „asiatischen Werte“ verstoßend ließ Megawati ihrem Unmut über ihre ehemaligen Widersacher, vor allem die Entwicklungspartei PPP,  freien Lauf. „Die Sitzung der Beratenden Volksversammlung von 1999 hätte gemäß der sauberen Wahlen von 1999 ebenfalls sauber und fair durchgeführt werden müssen. Die Sitzung von 1999 hätte den Gewinner der Wahlen von 1999 als Ersten die Chance geben müssen“, sagte sie kurz vor der Absetzung von Präsident Gus Dur vor den Vertretern der Entwicklungspartei PPP /Kompas, 09.07.2001/ – zum großen Erstauen der PPP-Machos, die sie bislang als sehr schweigsame Persönlichkeit kannten.

Während seiner Regierungszeit hatte Gus Dur keine starke Basis, da seine Partei PKB in der Nationalen Volksvertretung DPR nur 10 Prozent der Sitze und in der Beratenden Volksversammlung nur 8 Prozent besitzt. Er musste also mit allen Parteien in einer friedlichen Koexistenz leben – jede Partei bekam daher mindestens einen Ministersessel.  Selbst nach seiner Absetzung und nachdem die „Islamisten“ ihre Hemmungen gegen Frauen als Staatsoberhaupt abgelegt haben, muss Megawati als neue Präsidentin ihr Kabinett mit Ministern aus allen im Parlament vertretenen Parteien besetzen. Nicht weniger als 38 Ministerposten waren daher zu vergeben. Wie Ihr Daddy, Sukarno, gab sie dem Kabinett den Namen Kabinet Gotong Royong, zu doitz: Voll-mit-Solidarität-beladenes Kabinett.

Eine sich auch unter Megawati fortsetzende Besorgnis erregende Entwicklung ist das Fehlen einer parlamentarischen Opposition. Unsere Verfassung  erlaubt schlicht und einfach keine Opposition, weder in der Volksvertretung DPR noch in der Beratenden Volksversammlung MPR. Unglaublich!
 

Die mystischen Werte der Verfassung von 1945

Unsere Verfassung besteht aus nur aus 37 einfachen Artikeln. Aber weil sie so einfach gehalten ist, ermöglicht sie eine Vielzahl von Interpretationen. Bei Streitigkeiten hat nicht der Oberste Gerichtshof das Sagen, sondern die Beratende Volksversammlung MPR. Die Schlichtheit der Verfassung      begründet man immer mit der damit verbundenen Flexibilität. Sollten sich mit der Zeit Mängel zeigen, sollte man nach Vorbild der Bush-Nation Zusatzartikel (Amendment) einfügen – mit möglichst viel Amen-ment.

Gegenüber einer Änderung der Verfassung von 1945 oder gar einer neuen Verfassung hat man allgemein große Vorbehalte – einschließlich der Präsidentin Megawati, ihrer Partei PDI-P und sowieso der ehemaligen Regierungspartei GOLKAR. Die Verfassung von 1945 ist etwas Mystisches. Sie verbindet etwas Historisches und ein bisschen Horror. Die Zahl 5 am Ende ist so aufregend und erotisch wie die fünf Säulen der Staatsideologie (Pancasila). Nach javanischem Glauben bedeutet die Zahl 5 „Jayaan“. Das bedeutet soviel wie: „Die Indonesische Nation bleibt stark und einig“.

Es wäre unvorstellbar, dass wir uns eine neue Verfassung, z.B. eine Verfassung von 2002 oder 2003, geben. Was sollen wir mit den zwei Eiern „00“ in der Jahreszahl machen? Wir wollen uns ja mit Energie aufladen und in dieser Ära der Globalisierung nicht rumeiern. Selbst Helmut Kohl fühlte sich gestört, als man seinen Kopf mit Eiern beworfen hat.

Es sprechen aber noch andere Gründe gegen eine Änderung. Anders als in der Präambel des BRD-Grundgesetzes, wo es heißt: „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen [...], hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgegebenen Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“, ist die indonesische Verfassung von 1945 ein Geschenk der Barmherzigkeit Gottes (“Atas berkat rahmat Allah Yang Maha Kuasa, dan dengan didorongkan oleh keinginan luhur, [...], maka disusunlah kemerdekaan itu dalam suatu Undang-Undang Dasar Indonesia [...]“).
Weil die Verfassung von Gott kommt, muss sie richtig gepflegt werden. Verpflichtend ist außerdem die Verfassung als das Erbe unserer ruhmreichen Helden, die schon im Himmelreich ihre Rente beziehen, zu pflegen. Vielleicht müssen wir auf dem Kurs „Nicht dies und nicht das“ bleiben: die jetzige Regierung will „nicht dies“ und wir als Bewegung wollen „nicht das“. Neben unserer Bewegung für eine neue Verfassung gibt es noch eine Anzahl anderer Bewegungen mit ähnlicher Zielsetzung. Als wir uns trafen und über unsere Aktivitäten erzählten, sagten die anderen Gruppen verwundert: „Osama donk gerakan kita“ (der mutmaßliche Terrorchef Osama verirrte sich in diesen Satz, der zu deutsch lautet: „O genau wie unsere Bewegung“). Es fehlen aber die sozial-ökonomischen Kräfte, die die neue Verfassung tatsächlich brauchen. Deshalb marschieren wir wie unter Suharto getrennt weiter, statt gemeinsam zu kämpfen. Die Bewegung ist o.k. und alle werden zur Mitarbeit eingeladen, aber nicht mit der Einstellung „nicht dies und nicht das“. <>  
 

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