Indonesien-Information Nr. 2 2002 (Osttimor)

Aus Schutt und Asche zur Nation oder Zwergstaat mit Riesenherausforderungen

von Jörg Meier

Dili, 13.5.2002. Dili boomt. Überall in Ost-Timors Hauptstadt wird aufgeräumt, gebaut, renoviert. Straßen werden asphaltiert. Vor dem in strahlendem Weiß gestrichenen Büro der UN Übergangsregierung Ost-Timors (UNTAET) werden die Flaggen sämtlicher UN Mitgliedsstaaten gehisst. Noch weht die UN-Flagge in Dili, aber in der Nacht vom 19. zum 20. Mai wird sie durch die ost-timoresische Nationalflagge ersetzt werden. Es ist dieselbe Flagge, die 1975 in der kurzen Periode zwischen portugiesischer Herrschaft, Bürgerkrieg und indonesischer Besatzung als Zeichen der Unabhängigkeit Osttimors diente. Mit der offiziellen Übergabe der Regierungsgewalt durch die UN an Osttimor wird die Inselhälfte nun zum jüngsten souveränen Staat des neuen Millenniums: Timor Loro Sa'e.

Gregõrio Saldanha steuert sein Taxi durch das abendliche Verkehrschaos in Dili und bilanziert: "Die Unabhängigkeit Osttimors wird große Herausforderungen mit sich bringen." Bis 1999, als sich Osttimor in einem von den UN organisierten Volksentscheid für die Loslösung von Indonesien entschied, war Saldanha politischer Gefangener in Java. Terroristische Tätigkeiten und Mitgliedschaft in der Widerstandspartei Fretilin wurden ihm vorgeworfen. Heute ist er Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung Osttimors, die mit der Unabhängigkeit in das erste Parlament umgewandelt wird. Dass Saldanha nach Feierabend als Taxifahrer arbeitet, um sein Abgeordnetengehalt von 420 US$ aufzubessern, spricht für die Schwierigkeiten, die seine Heimat in den nächsten Jahren zu bewältigen hat.

Osttimor, das mit einem Ausmaß von 15.000 km2 in etwa der Größe Schleswig-Holsteins entspricht, wird das ärmste Land Südostasiens sein. Knapp die Hälfte seiner 738.000 Einwohner sind Analphabeten, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 57 Jahren. Über 40 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als einem halben Dollar am Tag, Unterernährung und Malaria sind vor allem in ländlichen Gebieten weit verbreitet. Lediglich 17 Prozent der Bevölkerung sprechen die offizielle Nationalsprache Portugiesisch, 63 Prozent hingegen sind des Indonesischen mächtig. Die einheimische Sprache Tetum befindet sich gegenwärtig noch auf einem zu geringen Level, um internationalen Standards gerecht zu werden. Kapazitäten im Gesundheits-, Bildungs- und Regierungswesen, der Bürokratie, dem Sicherheitsapparat und der Judikative sind unzureichend, ein Großteil dessen, was an Infrastruktur vorhanden war, wurde 1999 in einem Rachefeldzug des indonesischen Militärs und seiner Milizen zerstört. Mit dem Abzug der UNTAET-Mission werden viele Städte ohne Kommunikationsmöglichkeiten, in einigen Fällen gar ohne Elektrizität, hinterlassen. UN-Sprecherin Babara Reis kommentiert: "Wir ziehen Telefonsysteme, Internet, Satelliten, Generatoren und Fahrzeuge ab, weil die Timoresen derzeit noch nicht imstande sind, diese eigenständig zu warten." Indirekt spricht sie eines der größten Mankos der UNTAET-Mission an: die unzureichende Ausbildung lokaler Fachkräfte. Wirtschaft, Infrastruktur, Gastronomie - fast alles ist fremdbestimmt. "Für das Geld, das ein australischer Ingenieur verdient," so Saldanha "könnten wir zehn Timoresen beschäftigen, aber uns fehlt es an ausgebildeten Kräften."

Selbst die Regierung rekrutiert sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Osttimoresen, die während der 24 Jahre indonesischer Besatzung im politischen Exil lebten und dort Fähigkeiten erlangten, an denen es den Daheimgebliebenen mangelt. Auch Fernanda Bourges gehört dieser Diaspora an. Bis vor wenigen Wochen war die in Mozambique ausgebildete Karrierefrau Finanzministerin des Übergangskabinetts. Sie quittierte ihren Posten wegen unzureichender Transparenz in Regierungsfragen und warf dem zukünftigen Premierminister Mari Alkatiri, der wie sie selbst die Jahre des Exils in Mozambique verbrachte, einen Mangel an "Good Governance" vor.

In den Tagen vor der Unabhängigkeit wird die sechste internationale Geberkonferenz für Osttimor in Dili abgehalten. Internationale Wirtschaftsexperten schätzen, dass die neugeborene Nation in den nächsten drei Jahren mindestens weitere 300 Mio. US$ Aufbauhilfe braucht, bevor sie von Einnahmen aus Ölvorkommen in der Timorsee profitieren kann. Wichtig ist allerdings nicht nur das Geld, sondern vor allem die Fähigkeit, es sinnvoll zu nutzen. Die unabhängige Regierung muss enormen Herausforderungen in sozialen und ökonomischen Fragen gerecht werden. Ein gewissenhaftes Management der wenigen Ressourcen und andauernde Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für Osttimor sind unabdingbare Voraussetzungen für den Start in die Unabhängigkeit.

Saldanhas Taxi fährt an der Strandpromenade entlang. An der landeinwärts gelegenen Straßenseite erstrahlen neueröffnete Konsulate und Botschaften in prunkvollem Glanz. Lediglich das Anwesen des letzen indonesischen Gouverneurs von Osttimor, Abilio Osorio Soares, steht leer. Obwohl nach dem Referendum nicht vom Militär und seinen Milizen niedergebrannt, scheint es, als liege ein Fluch über dem riesigen Haus. Ziegenköttel und Spinnenweben überall. Der große, in den vergilbten Marmorboden einzementierte Konferenztisch, an dem Soares einst indonesische Minister empfing, als letztes Relikt seiner Amtszeit. Soares selbst steht heute zusammen mit Verantwortlichen aus Reihen des Militärs und der Polizei in Jakarta vor Gericht. Er muss sich für die Verbrechen von 1999 verantworten. Das Verfahren jedoch ist eine Farce. Die Angeklagten treten zeitgleich als Zeugen auf, um ihre Intimi fadenscheinig zu verteidigen. In Osttimor selbst ist das Interesse an dem Prozess derzeit eher gering. Um nicht zu sehr in wirtschaftliche Abhängigkeit von Australien, Japan und den ehemaligen portugiesischen Kolonialherren zu geraten, braucht ein unabhängiges Osttimor gute Beziehungen zu seinem riesigen Nachbarland. Xanana Gusmão pocht auf Versöhnung. Seine Bemühungen, Indonesiens Präsidentin Megawati zur Unabhängigkeit nach Dili einzuladen, scheinen letztlich von Erfolg gekrönt. Wenn auch nur für wenige Stunden und in Zusammenhang mit einem Arbeitsbesuch im indonesischen West-Timor, wird das Staatsoberhaupt des Inselreiches anwesend sein, wenn UN Generalsekretär Kofi Annan den Nationalhelden Xanana Gusmão Sonntag Nacht in sein Amt als Präsident einschwören wird. Dutzende weitere Staatsgäste, darunter Ex-US Präsident Bill Clinton, und bis zu 200.000 Osttimoresen werden zu den Feierlichkeiten erwartet.

Die Vorbereitungen zur Unabhängigkeitsfeier erinnern ein bisschen an "Unser Dorf soll schöner werden." Nur ein wenig aufwändiger: 1,8 Mio. US$ haben Zeremonienmeister José Ramos Horta und sein Planungskomitee für die Feierlichkeiten veranschlagt. Kritiker fragen sich, wo die 800.000 US$ Preisgeld verblieben sind, die der Friedensnobelpreisträger den Ärmsten der Armen in Osttimor versprochen hat. Joaquim Fonseca von der Menschenrechtsorganisation Yayasan Hak beanstandet: "Es ist alles so künstlich und oberflächlich. Teile der politischen Elite wollen unser Land der Welt in Glanz und Glitter präsentieren, aber wir müssen den Realitäten ins Auge sehen." Realität herrscht in Soibada. Ein Jesuitenseminar in dem abgelegenen Bergdorf war die Brutstätte Hortas und anderer politischer Führungspersönlichkeiten. Heute leben drei Nonnen mit 170 Waisenkindern in dem einst so berühmten Dorf. Nahezu abgeschnitten von der Außenwelt führen sie ein spartanisches Leben, Vorräte sind rar, Elektrizität gibt es lediglich für zwei Stunden am Tag.

Aber auch in Dili wird bald wieder eine andere Realität herrschen. Die neuen Hotels und Restaurants, die eigens zur Unabhängigkeit hergerichteten Messezentren, all der Prunk scheint wie eine Seifenblase, die bald zu zerplatzen droht. Die Truppenstärke internationaler Friedenstruppen wird von 8.000 auf 5.000 reduziert, Hunderte von hochbezahlten UN Arbeitern werden abgezogen - mit ihnen ihr Geld. Einige der luxuriösen Establishments in Dili drohen wie Kartenhäuser einzustürzen, über 2,000 Timoresen werden allein in der Hauptstadt ihre Arbeitsplätze verlieren. Die Erwartungen an die unabhängige Regierung sind hoch. Saldanha nennt zwei seiner Prioritäten. Die Rückführung der etwa 65.000 Osttimoresen, die bis heute in Flüchtlingslagern jenseits der Grenze verweilen und die Integration ehemaliger Guerillakämpfer, die nicht in die Polizei und Militärkräfte rekrutiert worden sind und mit Resolutionen drohen, sollte ihnen keine Anerkennung zukommen.

Wie sich die Zukunft Osttimors letztlich entwickeln wird, lässt sich derzeit nur schwer prophezeien. Saldanha stimmt überein, dass die ersten zwölf Monate der unabhängigen Regierung wegweisend sein werden. Nach einem gemeinsamen Abendessen fährt er mich mit seinem Taxi nach Hause, um am nächsten Morgen wieder seiner Beschäftigung als Abgeordneter nachzugehen. <>


 

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