Nach Jahren des erzwungenen Wohlverhaltens herrscht wieder einmal
Unruhe an den indonesischen Universitäten. In offenen Briefen fordern
die Studenten das Ende der Suharto-Ära. Islamisch-fundamentalistische
Jugendverbände gingen jüngst gegen die Staatslotterie auf die
Straße. Sie demonstrieren gegen den Bau von Golfplätzen und
gegen den üppigen Lebensstil der Reichen. Ausgelöst wird die
Protestwelle durch die Situation der indonesischen Jugendlichen, die kaum
Arbeitsplätze finden. Die Drahtzieher der Unruhen stehen im Lager
der einflußreichen Islamisten, die den Kurs der Regierung kritisieren,
der die Kluft zwischen der kleinen Wohlstandselite und dem breiten Heer
der Habenichtse immer größer werden läßt.
Während die Sicherheitsorgane die Unruhe unter der indonesischen Jugend herunterspielen, sie als Störmanöver einer kleinen Minderheit abtun, spricht der Arbeitsminister, Abdul Latief, von einer Zeitbombe. Von 76 Millionen Indonesiern - bei einer Gesamtbevölkerung von 185 Millionen - im arbeitsfähigen Alter seien 29 Millionen arbeitslos, eröffnete der Minister kürzlich. Die meisten von ihnen sind junge Menschen, die gerade in den Arbeitsmarkt eintreten. Latief warnt vor dem "revolutionären Potential", das sich hinter diesen Zahlen verberge. "Die Generation, auf die die Nation ihre Zukunft aufbaut, verliert ihr Vertrauen in diesen Staat."
Zwar liegt die indonesische Wirtschaft mit jährlichen Wachstumszahlen von über sechs Prozent im Aufwärtstrend. Dennoch, so muß der Minister für nationale Entwicklungsplanung, Ginandjar Kartasasmita, eingestehen. ist auf dem Arbeitsmarkt keine Erleichterung zu verspüren. Das Heer der Arbeitsuchenden wachse schneller als die Anzahl der verfügbaren Jobs. 11,9 Millionen Arbeitsplätze hofft die Regierung in den nächsten fünf Jahren zu schaffen. Doch im gleichen Zeitraum werden 12,7 Millionen junge Indonesier Schule und Universität verlassen.
Das revolutionäre Potential, von dem der Arbeitsminister spricht, braut sich vor allem auf dem Campus zusammen. An 300 Universitäten sind mehr als zwei Millionen Studierende eingeschrieben. "Ein Vielfaches von dem, was der Arbeitsmarkt verkraften kann", rechnet Arief Budiman vor, Sozialwissenschaftler an einer katholischen Universität in Zentraljava. Mehr als die Hälfte der jährlichen Universitätsabsolventen findet überhaupt keinen Arbeitsplatz. Und der größere Teil derer, die schließlich einen Job auftun, arbeitet in einem Fachbereich, der nichts mit ihrem Studiengang zu tun hat, oder ist für den jeweiligen Arbeitsplatz überqualifiziert.
"Dieses Ungleichgewicht zwischen Bildungsanspruch und Wirklichkeit schafft Frustrationen", warnt Professor Budiman, "und diese Frustrationen werden von politischen Gruppierungen ausgenutzt, die sich ebenfalls marginalisiert glauben." Budiman spielt auf den wachsenden Einfluß der indonesischen Islamisten an, die das säkulare Gesellschaftssystem zugunsten eines stärkeren Einflusses des Islam umkrempeln wollen. 85 Prozent der lndonesier bezeichnen sich offiziell als Muslime.
Die schlechten Berufschancen der Universitätsabsolventen sieht Budiman in einer falschen Bildungsphilosophie be- gründet, die wenig Relevanz für die Entwicklungsbedürfnisse eines Landes wie lndonesien habe. "Die meisten Universitätsabsolventen sind einfach nicht zu beschäftigen." Die indonesischen Universitäten seien Katakomben der Routine, "die ihre Augen vor der Tatsache verschließen, daß die Qualität der universitären Bildung beklagenswert ist". Obwohl zwei Prozent der Sekundarschüler schließlich eine Universität besuchen, schafft nur ein Bruchteil der eingeschriebenen Studenten einen Abschluß. Davon überschreitet die Hälfte die jeweils vorgesehene Regelstudienzeit.
Die unbefriedigenden Berufsaussichten dämpfen denn auch die Motivation der Studierenden, gesteht Harun, ein angehender Maschinenbau-Ingenieur an der Universitas Indonesia. "Motivation im Studium ist fehl am Platz. Die meisten von uns studieren, weil der gesellschaftliche Status unserer Familien das einfach verlangt."
Um die Zeitbombe der sozialen Unrast zu entschärfen, schlägt Arbeitsminister Abdul Latief eine tiefgreifende Bildungsreform vor, die praxisorientierte Abschlüsse scham und sich den Bedürfnissen Indonesiens anpaßt. Latief plädiert für arbeitsintensive Investitionen und einen Bildungsschwerpunkt auf dem berufspraktischen Gebiet. Der Minister kritisiert damit indirekt die kostspielige High-Tech-Entwicklungsstrategie des Forschungs- nnd Technologieministers B. J. Habibie, die auch von der Weltbank als wein Modell, das sich Indonesien nicht leisten kann", beanstandet wurde.
Das Institut für Entwicklungsforschung in Jakarta fordert die Ent-Elitisierung der Bildung: "Wir müssen uns von dem Glauben freimachen, daß sich der Wert eines Menschen ausschließlich in seiner intellektuellen Fähigkeit ausdrückt. indem wir den Schwerpunkt und das Prestige in unserem Bildungssystem nahezu ausschließlich auf die Entwicklung dieser einen Funktion legen, verzerren wir nicht nur das Bildungsideal allgemein, wir vernachlässigen ebenso wichtige Aspekte wie Intuition, Initiative, Praktikabilität der Bildung, Kreativität und manuelle Fähigkeiten. Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand braucht die Nation nicht in erster Linie Menschen, die uns sagen, was wir machen sollen, sondern die wissen, wie man es macht."
Um den Arbeitsmarkt weiter zu entschärfen, will Indonesien die Regelschulzeit von derzeit sechs auf neun Jahre verlängern. Jakarta folgt damit auch einer Forderung der internationalen Arbeitsorganisation, ILO, zum Abbau der Kinderarbeit. Sechs Millionen Kinder im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren sind in den Arbeitsprozeß eingereiht. Als billige Arbeitskräfte ohne sozialen Schutz blockieren sie Arbeitsplätze für Brotverdiener mit Familie.
Frankfurter Rundschau, 7.2.94
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