„Durch all die Gewalt, die die Menschen erlebten, haben sie bereits
vergessen, daß sie Rechte haben. Wir müssen erst wieder das
Selbstbewußtsein der Menschen entwickeln.“ So beschrieb ein Pfarrerehepaar
das zentrale Problem in Irian. Bei vielen meiner Begegnungen in Jayapura
und in verschiedenen Dörfern Irians fiel auf, daß die Menschen
verstummt sind. Sie haben Angst zu reden. Aber was sind die Gründe
ihres Schweigens? Das Ausmaß an Fremdbestimmung und Gewalt, mit dem
Papuas konfrontiert sind, ist grenzenlos.
(Die folgenden Artikel basieren auf Eindrücken und Erfahrungen,
die Watch Indonesia! während eines Aufenthaltes in Irian Jaya sammelte)
Dennoch verstummte seit 1963 nie die Kritik an der indonesischen „Integration“.
Widerstand gegen die indonesische Politik entzündet sich vor allem
an den Themen Transmigration und Ressourcenausbeutung. Es ist zynisch,
wie die Regierung Suharto sich in antiimperialistischer Pose Einmischung
aus dem Westen verbittet und dabei selbst wie eine Kolonialmacht auftritt.
Die Vertreibung und der Völkermord an den US-amerikanischen Indianern,
die Marginalisierung der Aboriginies in Australien u.v.a.m. wiederholen
sich heute in West-Papua - unter Beteiligung aller Großmächte.
Per Gesetz gehört alles Land in Irian dem indonesischen Staat. Dieser vergibt die Konzessionen an Holz- und Minenfirmen - darunter viele ehemalige Militärs. Die lokale Bevölkerung kann selten mitbestimmen. Mit leeren Versprechungen und deutlichen Drohungen wird Land, auf dem die Menschen seit Jahrhunderten leben, weggenommen. Neben lächerlichen Entschädigungen und einigen schlecht bezahlten Arbeitsplätzen mit Schwerstarbeit bleiben den Dörfern nur die negativen Folgen: die Flüsse verschmutzen, die Jagd wird schwierig und in wenigen Jahren wird der Wald abgeholzt sein. In anderen Gebieten wird Land bereitgestellt für Transmigranten, Umsiedler aus Java, dem 'Volk ohne Raum'. Papuas sehen darin eine Kolonialisierungspolitik und reagieren mit Ablehnung. Denn durch die bereits in der modernen Lebensform geübten, technologisch und ökonomisch überlegenen Transmigranten werden Menschen aus Irian überlegenen Transmigranten werden Menschen aus Irian weiter verdrängt.
Die Politik des ökonomischen Wachstums, die von Jakarta und den internationalen Konzernen in Irian durchgesetzt wird, bedeutet für die ursprüngliche Bevölkerung: Landvertreibung, schnelle Ausbeutung der Ressourcen ohne Partizipation der Bevölkerung und Marginalisierung. Ist das „Entwicklung“? Irians Reichtum wird geplündert, wird nach Jakarta und dem Westen gebracht - die Bevölkerung weiß es, doch was kann sie tun?
„Manchmal habe ich den Eindruck, ihr habt bereits aufgegeben,“ fragte ich einen Freund. „Nein, das nicht, aber wir haben schon so viel versucht und sind so oft gescheitert. Die Repression ist so hart. Manchmal habe ich keine Idee mehr.“ Einige NGOs unterstützen die Bevölkerung durch Stärkung ihrer Verhandlungsfähigkeit beim Aufbau einer Gegenmacht. Sie leisten Rechtshilfe, geben Trainings und entwicklen langfristige, partizipative Entwicklungsstrategien.
Die politischen Konflikte bringen auch massive Einschränkungen für den Alltag der Menschen. So lebt zum Beispiel die Bevölkerung an der Küste traditionell von Jagd und Wanderfeldbau. Manche leben daher häufiger in weit entfernten Waldgärten als im Dorf. Um ihre Kontrolle zu verbessern, wurde dies inzwischen von der Regierung verboten. Nun müssen die Bauern immer um eine spezielle Genehmigung bitten und dürfen nur noch 2 bis 3 Tage in den Wald gehen - sonst werden sie sofort als Unterstützer der Guerrilla verdächtigt.
Regelmäßig werden mit grenzenlosem Sadismus Exempel statuiert: Berichten zufolge wurde z.B. ein Jugendlicher namens Kobar aus dem Dorf Mararena 1988 vom Militär umgebracht. Er wurde gefesselt, in trockene Blätter eingewickelt, angezündet und bei lebendigem Leib verbrannt bis nur noch Asche übrig war. Kobars „Verbrechen“ war gewesen, mehrere Nächte im Garten übernachtet zu haben, dem eigentlichen Wohnort seiner Familie.
Unter dem Vorwand, sie seien unterentwickelt und kulturlos, werden ganze Dörfer gezwungen, umzusiedeln. 2.150 Familien sollen jährlich allein in von der Regierung kontrollierte Modelldörfer umgesiedelt werden. Sie müssen ihre halbnomadische Wirtschaftsweise aufgeben und „das moderne Leben“ annehmen - während ihr Wald an Holzkonzerne verkauft wird.
In einem anderen Fall inszenierte das Militär in der Nähe
eines Dorfes einen OPM-Überfall. Aus Angst vor der üblichen Rache
des Militärs an der Bevölkerung flohen die Bewohner der Siedlugen
ins nächste größere Dorf. Sie leben nun dort, trotz der
Konflikte, über Landrechte, wer wo das Recht hat, Gärten anzulegen
und Nahrung zu suchen. Lachender Dritter ist das Holzunternehmen, das den
Recht hat, Gärten anzulegen und Nahrung zu suchen. Lachender Dritter
ist das Holzunternehmen, das den Überfall in Auftrag gab, um seine
Abholzungen ungestört weiterzutreiben.
Dabei wurde die Wertedominanz der Kirche zunehmend von neuen „Säkularreligionen“ übernommen, von „Nationalstaat“ und „Fortschritt“. Die Urbevölkerung wird jetzt als unzivilisiert bezeichnet, als ob sie keine Kultur hätte. Diese Begründung dient der erwähnten Umsiedlung ganzer Dörfer, deren Bewohner gezwungen sind, das „moderne Leben“ anzunehmen, während ihr Wald an die Konzerne verkauft wird. Umsiedelungen wurden zu einem beliebten Mittel, um Schwierigkeiten bei der Kapitalexpansion und politischen Hegemonie vorzubeugen.
Auch die Schule spielt eine wichtige Rolle, um kulturelle Hegemonie durchzusetzen: Dort gilt z.B. „Gebildet ist, wer Schuhe anhat“. Wichtiger als lesen und schreiben zu lernen, scheint der Fahnenappell und die Kurse über die Staatsideologie zu sein. Kinder lernen, sich Regeln zu unterwerfen. Und der Lehrplan ist der gleiche wie in Java. Wie fühlt sich ein Kind, das lesen lernt mit den Sätzen „Meine Mutter geht auf's Reisfeld“, „Mein Vater fährt Auto“, doch beides noch nie gesehen hat? Es lernt: „richtige Menschen essen Reis. Ich bin primitiv, weil ich keinen Reis esse. Ich will auch!“ - so werden Bedürfnisse und Abhängigkeit vom Markt gezielt geschaffen.
Beamte aus der Dorfverwaltung erklärten uns, daß die Menschen von außen entwickelt werden müßten, weil sie dumm sind. Sie müßten angetrieben werden, um sich an Programmen zu beteiligen, die in Jakarta am grünen Tisch entworfen wurden. Ihre eigenen Meinungen und Vorstellungen gelten nicht als Potential, sondern als Störfaktor.
Wie kann der Respekt ihrer Rechte und ihrer Kultur entstehen? Im Hochland von Irian wurde gerade rechtzeitig entdeckt, daß die „Wilden“ eine Touristenattraktion sind. Kampagnen, die sie zwangen, ihre Traditionen - zum Beispiel den Penisköcher - aufzugeben, wurden daraufhin gestoppt. Es ist eine schlechte Alternative, wenn Tradition nur als Folklore für Touristen überleben kann.
Es gibt nicht nur Landflucht und Suche nach dem Glück in den Städten. Es gibt auch Jugendliche, die vor Jahren in die Stadt gingen - teils auf der Flucht vor militärischer Gefahr, teils, um Geld zu verdienen - und inzwischen zurückkamen, obwohl dörfliche Lebensweise als „primitiv“ abgewertet wird. Sie sind sich der Kosten der Modernisierung voll bewußt und reden kritisch über die Stadt: dort wurden sie verachtet, bekamen nur die schlechtesten Jobs und das Leben war teuer. Sie wissen die Gemeinschaft, die Lebens- und Arbeitsform des Dorfes zu schätzen. Und dennoch ist das Subsistenzleben im Dorf keine Alternative: Stück für Stück wird das Land weggenommen und wer davon abhängig ist, hat verloren. Hier haben sie keine echte Entscheidungsfreiheit. Die Weltmarktintegration schreitet mit Gewalt voran. Aber sie haben die Wahl zwischen Unterwerfung unter die neuen Herren und dem Kampf um Selbstbestimmung mit den besten vorhandenen Mitteln.
Wer hinterfragt, was „Entwicklung“, was Zivilisation ist? Weder Abwertung
noch Verherrlichung der Traditionen bringen uns weiter, sondern nur Dialog
und Auseinandersetzung. Wo beginnt selbstbestimmte Entwicklung auf Grundlage
der eigenen Kräfte und Wurzeln?
Konflikte führen sofort zur Einmischung des Militärs. Es ist gefährlich, sich gegen ein Großunternehmen zu wehren, das sich das Land der Bevölkerung aneignen wird, sie vertreiben oder nur lächerliches Gehalt zahlen wird: Die Ideologie schreibt fest, daß der als subversiv gilt, der das nationale Ziel der Modernisierung nicht unterstützt. Das ist Anlaß genug für Festnahmen durch Polizei oder Militär, Verhöre, Folterungen, soziale Erniedrigung und/oder Verlust des Arbeitsplatzes. Jedes konkrete Alltagsproblem wird als „politisch sensibel“ eingestuft. Es beginnt damit, daß man die Bezeichnung „Papua“ nicht verwenden darf, und daß es ausreicht, dunkle Haut und Locken zu haben, um grundsätzlich verdächtig zu sein.
Jugendliche sind dabei besonders gefährdet. Es gibt zahlreiche Berichte von willkürlichen Erschießungen. Zum Beispiel 1988 im Dorf Beneraf: ein Junge wird von Soldaten aufgefordert, Kokosnüsse vom Baum zu holen, da sie durstig sind. Er hilft ihnen sofort - doch als er herunterklettert, wird er erschossen und am Fuße der Palme begraben. Im gleichen Jahr wurde Frans aus dem Dorf Amsira auf dem Weg beim Strand von Bagaisen befohlen, den Rucksack von Soldaten zu tragen. Er gehorchte und wurde kurze Zeit später - zum Dank - auf offener Straße erschossen. Heute leben auffällig wenig Jugendliche im Dorf. Weil sie beim Militär prinzipiell als OPM-Unterstützer galten, flohen viele in Großstädte oder nach Papua-Neuguinea.
Vergewaltigungen durch Soldaten sind ein weiteres Verbrechen, das bis zum heutigen Tag anhält. In allen Dörfern leben sogenannte „Kinder ohne Väter“, für die sich bereits ein spezieller Begriff eingebürgert hat: „Anita“. Obwohl „normale“ Vergewaltigungen sehr hart bestraft werden, wagt niemand Militärs oder Manager vor Gericht zu bringen.
Die grenzenlose Brutalität des Militärs bei der Niederschlagung des bewaffneten Widerstandes der OPM mit gezieltem Terror gegen die Zivilbevölkerung dringt nur selten an die Öffentlichkeit. Aufgrund der schwiegrigen Kommunikation bleibt vieles im Dunkeln und selten gibt es Beweise. Auch Zeugenaussagen sind spärlich, da Menschen in Irian Angst haben, zu reden: ihr Zeugnis kann schnell zum eigenen Todesurteil werden.
Gut dokumentiert ist aber ein Massaker durch indonesische Militärs im Dorf Okpoko an der Grenze zu Papua-Neuguinea, da es Überlebenden gelang, über die Grenze zu fliehen und ein katholischer Priester in Okpoko recherchierte: Okpoko liegt auf einem Hügel des Kobu-Gebirges, nur 5 km von der Grenze entfernt. Am Sonntag, dem 24.10.93, hatte die Dorfgemeinschaft in einem großen Erdofen am Flußbett Schweinefleisch und Süßkartoffeln zubereitet. Gegen 22 Uhr nachts, als alle tief schliefen, kamen neun Soldaten aus dem Batallion Yon 732 aus Ternate ins Dorf. Den Menschen wurden die Hände mit Rotan gebunden und Tobias Tablo wurde aufgefordert, das Versteck eines OPM-Verdächtigen namens Daniel Tablo zu zeigen. Fünf Soldaten begleiteten ihn eine Stunde durch den Wald, bis zu einer leeren Hütte, wo Tobias fliehen konnte. Um 8 Uhr morgens am 25.10. wurden vier Männer in ein anderes Haus gebracht. Sie mußten sich auf den Rücken legen und vier Soldaten begannen, mit dem Bajonett in ihre Hälse zu stechen. Okbom und Pius starben, als ihnen der Hals durchgeschnitten wurde. Noak und Lemis stellten sich tot und konnten später fliehen. Nebenan ging das Morden weiter. Neun Menschen wurden gezwungen, sich an den Rand einer Schlucht zu setzen, dort wurden sie erschossen. Häuser mit weiteren Leichen wurden in Brand gesteckt. Diman Kakadir und Robert konnten fliehen. Als letzte Lebende waren noch Yeremiana mit ihrem Sohn Okamonki im Dorf. Ein Soldat nahm ihr das Kind weg, hielt es an den Beinen und schlug es gegen einen Baumstamm, bis es tot war. Yeremiana konnte fliehen, wurde aber angeschossen.
Als das Massaker bekannt wurde, behauptete das Militär, die Soldaten seien von OPM-Guerrillas verfolgt worden. In Wirklichkeit waren sie auf der Suche nach Daniel Tablo, den sie aber nicht finden konnten. Ebenfalls unwahr ist die Behauptung, daß die Bevölkerung die OPM unterstützte, sie dient nur zur Rechtfertigung und weiteren Einschüchterung.
Weitere Berichte über Massaker in den Dörfern Mongham und Oksik, wo ebenfalls etliche Menschen umgebracht wurden, konnten nicht recherchiert werden, da diese Dörfer viel zu weit landeinwärts liegen.
Alltag in Irian: Wo immer man sich bewegt, braucht man eine spezielle Erlaubnis des Militärs. Ob Bauern in ihre Waldgärten gehen wollen oder Menschen aus Jayapura zum Sonntagsausflug an den nahen Strand. Es ist vergleichbar mit der Vorstellung, man müßte auf dem Weg von Yogya nach Parangtritis zwei Militärkontrollen passieren. Die Posten haben das Maschinengewehr auf dem Tisch stehen, alle müssen aus ihren Fahrzeugen aussteigen und die Papiere vorweisen.
Beim Betreten jedes Dorfes muß man sich jeweils bei Pak Camat (dem Bezirksvorsteher) und seinen Bei- bzw. Übergeordneten von Militär und Polizei anmelden, jedesmal ein Anlaß langer Danksagungen an das Militär ob der guten Zusammenarbeit. Die Soldaten sind selbstverständlich keine Papuas, sondern kommen aus Java oder Sulawesi. Offensichtlich bemühen sich die Leute, bei solchen Treffen Konfrontationen zu vermeiden. Warum reden sie so, wie sie reden? Solche erzwungenen Unterwerfungsgesten sind anstrengend - doch wenn man weniger auf den Inhalt der Reden hört als darauf, was sie über die Situation berichten, erfährt man viel.
Für das Schweigen gibt es viele Gründe! Papuas haben seit der „Integration“ 1963 all zu viele Erfahrungen gemacht - sie wissen, wie hoch der Preis dafür ist, den Mund aufzumachen. Im Stillen wünschen sich fast alle die Unabhängigkeit von Indonesien, doch allein für das Hissen der Flagge Papuas am 14.12.1988 wurden 60 Menschen verhaftet. Thomas Wainggai wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, 37 andere zu langjährigen Gefängnisstrafen. Über 130 politische Gefangene aus Irian sitzen in Gefängnissen, die meisten wurden nach dem Antisubversionsgesetz verurteilt.
In West-Papua geschieht Völkermord, doch die Welt nimmt es nicht
zur Kenntnis. Es ist schwer den Mantel des Schweigens zu heben, denn nur
wenige „verwertbare“ Informationen finden ihren Weg nach außen. Die
Anerkennung der „Integration“ durch die UNO, fehlendes „Nationalgefühl“,
die Zersplitterung der Bevölkerung in hunderte von Clans mit 240 verschiedenen
Sprachen, denen nur der „Feind“ gemeinsam ist, und die Unzugänglichkeit
der Region sind einige der Gründe dafür. Damit verglichen ist
die Situation ist Ost-Timor fast schon als günstig zu bezeichnen.
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