Gemütlich sitze ich in der Transithalle im Schneidersitz und
warte auf den Weiterflug. „Na so was“, spricht mich ein Mann an, „setze
dich doch anständig hin!“ Er erklärt mir, so dürfe ich im
Dorf herumsitzen, aber im Flughafen sei das kein Benehmen. „Das hier sind
alles gebildete Leute, die wissen, wie man sich zu verhalten hat.“ Soll
ich die Regeln achten oder die Menschen - einschließlich der angeblich
unzivilisierten im Dorf? In mir drin wünsche ich mich nur zurück
nach Irian, doch ich unterhalte mich mit ihm über Anstand und Zivilisation.
Zunächst erklärt er, es gäbe jetzt eine spezielle staatliche Ausbildung für Dorfbürgermeister. Das sind dann Beamte, die von oben an einem beliebigen Ort eingesetzt werden. Das eigentliche, traditionelle System, meint er, sei anders. Früher bestimmte das Dorf seinen Leiter selber. Aber das sei veraltet, damit käme man nirgends hin, erklärt er mir. Denn der Fortschritt müsse von oben verordnet werden, damit es schnell geht. Solange der Bürgermeister von der Zustimmung durch die Bevölkerung abhängig sei, könne er nichts bewirken. Und außerdem, was wisse ein Analphabet schon? „Wir möchten von gebildeten Leuten geführt werden! Und die neuen Beamten bekommen spezielle Erziehung von der Regierung. Das Volk muß nun mal angetrieben werden, damit sie sich entwickeln. Denn, wenn wir nicht drängen, werden wir wieder kolonialisiert!“ Ich verstehe, all die Fremdbestimmung der kleinen Leute, die ich im Dorf erlebte, dient nur ihrem Schutz. Die Konzerne aus Jakarta plündern zusammen mit den internationalen Konzernen die Schätze von Irian - zum Schutz vor Kolonialismus! Die Menschen dort verstehen das nicht - zeigt sich gerade daran, wie unzivilisiert und dumm sie sind?
Ich werfe ein: „Die Leute in Irian sind vernünftiger als wir. Wir gehen in den Wald, holzen ab und nach 20 Jahren ist er kaputt. Sie leben schon tausende von Jahren dort und noch immer ist genug Wald da.“ „Dann werden wir wieder kolonialisiert,“ wiederholt mein Gesprächspartner. Noch ein Versuch: „Die Leute in Irian sind schlauer als ich. Denn ich kann mir nicht einmal meine Nahrung selber suchen“. Doch er entgegnet: „Im Gegenteil, du bist schlauer, weil es dir gelingt, andere Leute für dich arbeiten zu lassen.“ Ob dieser Definition bin ich platt. Er nennt es 'gebildet sein', nicht 'Macht'. Doch schließlich stimme ich ihm zu: 'die Fähigkeit, auszubeuten' scheint mir eine treffende, unbeschönigte Definition von 'Schlauheit' in unserer Zeit.
Was denn das Ziel des Fortschritts in Indonesien sei, frage ich ihn. „Den vollkommenen indonesischen Menschen in Übereinstimmung mit der Staatsideologie Pancasila zu schaffen.“ Ich frage, was das damit zu tun hat, daß ich nicht so sitzen darf, wie ich will. Antwort: Ich solle erst mal eine Pancasila-Schulung mitmachen, um die indonesische Lesweise zu verstehen. Grundsätzlich müsse ich zunächst akzeptieren, daß z.B. Schuhe notwendig sind, um in die Schule zu gehen. Europäer hätten keine Ahnung von Verhaltensregeln. Dann ergänzt er: „Und nun mußt du mich teuer bezahlen, weil ich dir so viel beigebracht habe“, und ich bin wieder platt: Wissen als käufliche Ware? Als ich mein Mitleid mit Kindern äußere, die nicht zur Schule gehen können, weil ihre Eltern kein Geld für Schuhe haben, sagt er, das wäre je nach Schule unterschiedlich. Im Dorf sei es nicht so streng. Aber eine gute Ausbildung gäbe es sowieso nur für die Reichen: wer es sich leisten kann, schicke seine Kinder auf eine teure Privatschule.
Auf dem Weg zum Flughafen stößt er mich an: „Guck mal, hier sind keine Leute mit Sandalen oder barfuß.“ „Woran liegt das?“ „Die haben alle Bildung und Anstand.“ „Die, die nicht fliegen, das liegt also daran, daß sie nicht anständig sind?!?“ „Nun ja, die Zahl der Flugzeuge ist eben begrenzt, die Möglichkeiten der Moderne gibt es nicht für alle.“ Da hat er recht. Doch ich will ihn auf Grundlage seiner eigenen Ideale kritisieren: „Aber widerspricht sich das nicht mit dem fünften Grundsatz der Pancasila: soziale Gerechtigkeit für das ganze indonesische Volk?“ Darauf sieht er mich streng an, das Lächeln verschwindet: „Du darfst das nicht nur nach deinen Interessen interpretieren. Du verstehst das falsch. Du mußt nochmal ein Jahr zur Schule gehen, bis du es richtig verstehst.“ Aus seinem Tonfall schließe ich, daß er es gewohnt ist, Menschen zu zwingen, sich seiner Interpretation anzuschließen. Alles was ihm noch bleibt ist: Macht.
Noch immer wütend über die Arroganz nehme ich im Flugzeug
das Essenstablett entgegen. An einem Tag verursache ich hier mehr Plastikmüll,
als in drei Wochen im Dorf. Aber wir im Flugzeug sind anständige Leute.
Man erkennt die Zivilisation daran, daß sie nicht aus Bananenblättern
ißt. <>
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