Watch Indonesia! Für Menschenrechte, Demokratie und Umwelt in Indonesien und Osttimor e.V. (Hg.) /
© Watch Indonesia! e.V. 2022
Liebe Leser:innen,
laut den Vereinten Nationen werden bis 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Räumen leben und die Bevölkerung der Städte um rund 2,5 Mrd. anwachsen. Im Zusammenwirken mit den Auswirkungen der Klimakrise stellt die zunehmende Urbanisierung eine enorme Herausforderung dar. Dies insbesondere in Hinblick auf die Entwicklung nachhaltiger und resilienter städtischer Infrastruktur, die nicht nur den Bedarfen der Bevölkerung gerecht wird, sondern auch die Chance der Stadt als maßgebliche Instanz und Motor des globalen Klimaschutzes nutzt.
Mit dem vorliegenden Dossier möchten wir anhand der Partnerstädte Berlin und Jakarta aufzeigen, welche Chancen und Risiken eine solche Urbanisierung im Hinblick auf eine soziale und ökologische Transformation bietet. Werden Energieversorgung, Mobilität und Wohnraum nicht entsprechend sozialen und nachhaltigen Kriterien gestaltet, entstehen hierdurch Pfadabhängigkeiten für die kommenden Jahrzehnte. Eine primär durch kurzfristige Profitinteressen getriebene Stadtentwicklung droht, die Beantwortung drängender sozialer und ökologischer Fragen zu vernachlässigen. Umso wichtiger ist eine enge Beteiligung einer kritischen Zivilgesellschaft und der Stadtbewohner:innen, selber Ansprüche an eine lebenswerte und nachhaltige Entwicklung in die zukünftige Gestaltung ihrer Städte einzubringen.
Anfang des Jahres 2022 verabschiedete das indonesische Parlament das Hauptstadtgesetz. Damit wurde die zuvor von Präsident Joko Widodo gefällte Entscheidung, im indonesischen Teil Borneos, Kalimantan, eine neue Hauptstadt unter dem Namen ‚Nusantara‘ zu errichten, einen entscheidenden Schritt vorangebracht. Von zivilgesellschaftlicher Seite regt sich derweil Protest gegen das Mammutprojekt. Zu schwer wiegen die Bedenken gegen die ökologischen Folgen des Hauptstadtprojekts, für das zunächst die Regierung und einige Verwaltungseinheiten umziehen sollen. Zu groß erscheinen die sich bereits jetzt abzeichnenden Interessenskonflikte zwischen Bauherren wie auch Investoren und lokaler Bevölkerung. Daneben konstatieren Umwelt- und Menschenrechtsverteidiger:innen schon jetzt die Aushöhlung grundlegender demokratischer Prinzipien und einen laxen Umgang mit Umweltvorschriften. Nicht zuletzt fragen sich die Bewohner:innen der bisherigen Hauptstadt Jakarta zu Recht, welche Aufmerksamkeit die politisch Verantwortlichen nach dem Regierungsumzug den drängenden Problemen ihrer Stadt widmen werden.
Eine Vielzahl an Problemen wie wiederkehrende Überschwemmungen, massive Luftverschmutzung und ein unzureichendes öffentliches Nahverkehrssystem bleibt seit Jahrzehnten ungelöst. Dabei hat das Motiv hinter der zukünftigen Hauptstadt vermutlich weniger mit Umweltschutz, sondern mit Prestige und dem Wunsch nach einem neuen Wirtschaftszentrum für das gesamte Inselarchipel ‚Nusantara‘ zu tun. Dabei ähnelt das Narrativ einem historisch etablierten Entwicklungskonzept einer starken nationalen Machtzentrale, welche Entscheidungen in einem vertikalen Machtgefälle ausübt. Sie jedoch weist der Bevölkerung und wichtigen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen wie Umweltverbänden oder Menschenrechtsorganisationen eine Rolle im politischen und gesellschaftlichen Abseits zu.
Die Frage nach der zukünftigen Gestaltung urbaner Räume stellen sich viele Menschen – sei es in Berlins Kiez oder den historisch gewachsenen Kampungs (urbanen Siedlungen/Dörfern) in Jakarta oder auf größerer Ebene wie der größeren Metropolregionen von Jakarta mit seinen sechs Satellitenstädten Bogor, Depok, Tangerang, Bekasi, Puncak und Cianjur (zumeist abgekürzt als Jabodetabekpunjur) mit circa 34 Millionen Menschen oder Berlin-Brandenburg mit insgesamt circa 6,1 Millionen Menschen.
Gegen die immer deutlicher zutage tretenden sozio-ökologischen Probleme regt sich zunehmend Widerstand. Eine erfolgreiche Umweltklage etwa gegen die hohe Luftverschmutzung Jakartas, verursacht durch acht Kohlekraftwerke, gibt Hoffnung. In Berlin stimmte 2021 im Rahmen eines Volksbegehrens eine Mehrheit für eine Vergesellschaftung großer Wohnungsbauunternehmen. In beiden Städten lassen konkrete politische Umsetzungsschritte jedoch auf sich warten.
Die Autor:innen dieses Dossiers bieten Analysen und Verbesserungsvorschläge aus zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Perspektiven. Hans-Ulrich Fuhrke beleuchtet Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Städtepartner Berlin und Jakarta in Hinblick auf den Umgang mit dem Klimawandel. Nicht nur die vielfältigen Perspektiven der städtischen Bevölkerung selbst, sondern auch die von Akteur:innen jenseits der Städte prägen die urbanen Räume als Gestaltungs- und Aktionsräume. Über deren mitunter divergierenden Interessen und Ziele berichten Frans Ari Prasetyo und Mark Philip Stadler. Gemeinsam mit dem Kommentar von Dr. Almuth Schauber betonen sie die Notwendigkeit der Überwindung städtischer (Teilhabe-)Armut, auch um den Folgen des Klimawandels begegnen zu können.
Ghefra Rizkan Gaffara berichtet über Klimawandelfolgen in Indonesien und die Bedeutung resilienter Infrastruktursysteme, um gegen die immer häufigeren und auch stärkeren Extremwetterereignisse gewappnet zu sein. Der auf ihrer Forschung basierende Beitrag von Dr. Emma Colven und Wahyu Astuti über die von ökonomischen Interessen getriebene Immobilienentwicklung in Nordjakarta zeigt nicht nur, wie private Bauträger ihre Projekte gegen Umweltrisiken abschirmen, während staatliche Bemühungen zur Trinkwasserversorgung und Hochwasserschutz für die städtische Mehrheit scheitern, sondern auch, dass gerade diese Entwicklung des Immobilienmarkts zu einer Verschärfung und Externalisierung der Wasserkrise führt. Sarinahs Artikel über die Funktion von Städten in der Wertschöpfungskette des marktbasierten Wirtschaftssystems und die daraus resultierende Entfremdungsprozesse für Arbeiter:innen in den Satellitenstädten von Jakarta ist ein Plädoyer für mehr globale Solidarität und ein Aufruf zu mehr Partizipation.
Als Beispiel einer angewandten, konkreten und vor allem kommunikativen Urbanen Transformation des Nordens Jakartas engagierte sich das interdisziplinäre Joint Centre Urban Systems (JUS) der Universität Duisburg-Essen. Dr. Klaus Krumme, Nawwar Harfoush und Josefin Schürmanns berichten in ihrem Artikel über dessen Ansatz des Urban Transition Managements (UTM) und betonen den Wert strategischer Partnerschaften wie etwa der Städtepartnerschaft zur Förderung demokratischerer Strukturen in urbanen Räumen. Die Studienergebnisse von Seruni Fauzia Lestari und Eka Darma Kusuma zum Umgang mit Verpackungsmüll und der Abfallwirtschaft Jakartas gewinnen nicht nur vor dem Hintergrund der Sars-Cov-2-Pandemie an Aktualität, sondern stellt in Zeiten der steigenden Nutzung von Onlinelieferdiensten auch für alle Leser:innen in Deutschland eine Chance zum globalen Lernen dar.
Alle Beiträge machen deutlich, dass es neben der Politik letztlich auch auf die Einwohner:innen und ihre alltäglichen, individuellen Entscheidungen ankommt, wenn die sozial-ökologische Transformation der Städte gelingen soll.
Wir danken den Autor:innen herzlich für ihre Beiträge und wünschen unseren Leser:innen eine erkenntnisreiche Lektüre!
Berlin im November 2022
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